Vom
kulinarischen Verhalten entspricht das Lesefrüchtchen denjenigen,
die sich vom Gemüse allmählich zum Filet hinfressen. Diese
Eigenart bringt leider mit sich, dass die wirklich schmackhaften
Stücke oft zugunsten leichter Kost liegen bleiben. Eben kürzlich hat
das Lesefrüchtchen einen Stapel entdeckt, auf dem sich längst
vergessene Leckerbissen sedimentiert haben: Samuel Beckett, Albert
Drach, H.P. Lovercraft, Harry Mathews oder auch Thomas Kapieleskis
Volumenroman Je dickens, destojewski. Statt sich aber endlich
ans Eingemachte zu wagen, futtert sich das Lesefrüchtchen weiterhin
durch Gelegenheitslektüren. So auch geschehen im jüngsten Fall:
Obwohl der Großroman Herrn Brechers Fiasko von Martin Kessel
im Visier war, wich es auf die viel schmalere Erzählung Die Schwester
des Don Quijote aus. Aber immerhin: eine weitere Don Quijotiade.
Im
Unterschied zur offenbar weitaus opulenteren Romanprosa Kessels
handelt es sich bei der Geschichte um eine Künstlernovelle von fast
klassischem Zuschnitt und formvollendeter Erzählkunst. Literarische
Vorbilder sind unverkennbar Fontane und Thomas Mann, über den Kessel
auch promoviert hatte. Wie Lothar Müller in seinem glänzenden Nachwort betont, fällt die Novelle
merkwürdig aus der Zeit. Obwohl im modernen, motorisierten und
elektrifizierten, Berlin spielend, verhandelt die Geschichte unter
Ausschluss jeglicher zeithistorischer Bezüge den romantischen
Konflikt des Künstlers zwischen Lebenswirklichkeit und Werkideal.
Reminiszenzen an den Maler Frenhofer bei Balzac oder E.T.A Hoffmanns Johannes Kreisler werden wach, die auf
existentielle Weise mit ihrem Kunstwerk verstrickt sind.
Im
Zentrum der Erzählung steht denn auch ein Gemälde, dessen Sujet,
wie es gleich zu Beginn heisst, „über den Rahmen hinausweist“
auf das dahinter liegende Schicksal. Das Bild trägt den Titel Die
Schwester des Don Quijote und zeigt einen Frauenakt vor dem
Spiegel, aus dem zwei markante Augen entgegenblicken. Sie
gehören der neurasthenischen Salonschönheit Saskia Sorell, die für
den Maler Schratt zum Inbegriff dessen wird, was er „die Dame“
nennt: eine im mondänen Verblendungszusammenhang lebende
Gesellschaftsdame, die zum „Vexierbild ihrer Spiegelnatur“ wird.
Kurz: Ein weiblicher Don Quijote der High Society. Die Antipode zur
diesem Frauentypus ist die Haushälterin Agnes Veitzuch, ein
neugieriges, linkisches Weibsbild, bei dem der Maler zur Untermiete
wohnt. Zu beiden Frauen gerät der Maler in eine verhängnisvolle
Abhängigkeit, die sich auch auf dem Gemälde manifestiert. Das
Konterfrei der Veitzuch schleicht sich schemenhaft in den Hintergrund
des Spiegelporträts und verdoppelt so die Spiegelung nochmals. Auch das natürlich ein zutiefst romantisches Motiv.
Lange
Zeit scheint der Maler an diesem Gemälde zu scheitern. Zum einen
hindert ihn die leidenschaftliche Zuneigung zu seinem koketten Modell
an der Vollendung, zum anderen die vormundschaftliche Art der
Haushälterin, die heimlich bereits Besitzansprüche an dem Bild
anmeldet, in der Hoffnung, dass der baldige Erfolg des Künstlers sie
für ihre Umtriebe entschädigen könne. So ist Schratt zwischen
Begehren auf der einen und häuslicher Observation auf der anderen
Seite gefangen. In einem dramatischen Akt entlädt sich sein Konflikt
auf dem Gemälde, das ihm nicht gelingen will: Er zieht einen roten
Querstrich mitten durch das gemalte Gesicht der Haushälterin im
Hintergrund, die sich von der Exekution in effigie auch persönlich
getroffen fühlt. Schliesslich triumphiert die Kunst aber über das
Leben. Während die porträtierte Sorell in einer
Nervenheilanstallt in Italien landet, verfällt die Veitzuch dem
letalen Wahnsinn und haucht ihren letzten Odem in den Armen des
konsternierten Künstlers aus.
Die
Krise kündigte sich schon lange vorher an durch den Gestank von
verbrannter Milch, der wie ein „milchig brenzliche[r] Trauer- und
Begräbinisgeruch“ das ganze Haus durchströmte und
„unvertreibbar“ schien. Von diesem unheilvollen Vorzeichen drängt
das Geschehen immer stärker zum finalen Ereignis in der
Silvesternacht, das für den Künstler zum Sieg der Kunst, für die
beiden Porträtieren allerdings zum Verhängnis wird. Auf diese
dramatische Weise ist seit den Konjunkturen der Romantik nicht mehr
um die Kunst gerungen und gelitten worden. Wohl unfreiwillig bekommt
die Erzählung dadurch einen fast parodistischen Zug. Mit dem Maler
Theo Schratt aufersteht nochmals eine romantische Künstlerfigur, die
sich im Kontext der Moderne und ihren zahlreichen Ismen (in der
Erzählung durch die Kunstrichtung des „Trilogismus“ kurz anzitiert) bloß mit erheblichen Kollateralschäden behaupten kann.
Selbst die geplante Italienfahrt, der klassische Topos der
künstlerischen Bildungsreise, endet mit einer typischen Erfahrung
der Moderne: mit einem Autounfall.
In
dieser seiner ersten Autofahrt erlebt Schratt gewissermaßen auch die
Ästhetik der Moderne, wie sie Tommaso Marinetti paradigmatisch im
Manifest des Futurismus beschreibt – und zwar nicht zufällig
auch am Beispiel einer rasanten Autofahrt. Der Rausch der
Geschwindigkeit, wie sie die moderne Technik ermöglicht, soll auch
in der Kunst zu neuen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen führen.
Mehr noch inszeniert Marinetti den Autounfall zu einem natalen Akt,
aus dem der neue Mensch und seine radikal neue Ästhetik
hervorgeht. Während der Fahrt lernt Schratt zwar auch den Rausch der
Geschwindigkeit kennen, der ihn sogar in eine Art „Wachtraum“
versetzt. Er zieht daraus aber ebenso wenig ästhetische Konsequenzen
wie aus der darauffolgenden Carambolage. Vielmehr wertet er ihn als
geradezu schicksalhaftes Zeichen, das ihn wieder in die Fänge der
Haushälterin zurückwirft.
Wohl auch deshalb, weil der Unfall
just in dem Moment erfolgt, als ihm die Bedeutung des Hintergrundes
generell, insbesondere aber die Hintergründigkeit seines Gemäldes
klar wird. So setzt eben der romantische Künstler nicht sein eigenes
Leben aufs Spiel, sondern ergötzt sich an der abstrakten Schönheit des Todes.
Dieses romantische Ideal der schönen Leiche ist jedenfalls die
Erkenntnis, die Schratt am Ende ereilt: „Leichnam und Schönheit“.
Darin erblickt er die „Größe
der Kunst“: „Denn nur, wer die Schönheit von Grund auf
errichtet, aus Finsternis, Wollust und Sterngeäder der Nacht, nur
der ist ihr Schöpfer.“ Besser hätte es auch Detlev Spinell, der große Verehrer der Todesschönheit, nicht formulieren können.
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