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Donnerstag, 7. März 2024

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas

Michael Kohlhaas ist neben der Marquise von O. wahrscheinlich die bekannteste Novelle Heinrich von Kleists, was aufgrund der umständlichen Erläuterung mitunter komplexer juristischer und politischer Sachverhalte eigentlich erstaunen muss. Doch ist seit Erscheinen des Textes die historisch verbürgte Gestalt des Kohlhaas’ zum Inbegriff für den blindwütigen Gerechtigkeitswahn geworden. Michael Douglas im Film Falling Down ist bloss ein harmloser Abklatsch davon. 

Weil ein widerfahrenes Unrecht auf intrigante Weise vor Gericht abgewiesen wird, verlässt Kohlhaas den offiziellen Rechtsweg, greift zur Selbstjustiz und zieht brandschatzend als apokalyptischer Reiter – er wird mal als "Engel des Gerichts", mal als "Würgeengel" apostrophiert – durch ganz Sachsen, ohne Rücksicht auf Verluste: selbst seine Frau Lisbeth stirbt an den Folgen des Rachefeldzugs, der in keinem Verhältnis mehr zur Bagatelle (ihm wurden zwei Rappen geschunden) steht, die Kohlhaas’ Rechtsempfinden empfindlich verletzt hat.

In einer atemlosen Erzählweise mit dem für Kleist typischen hypotaktischen Satzbau und einer weitgehend metaphernlosen Sprache wird das Schicksal von Kohlhaas geschildert, wobei die Novelle ungefähr in der Hälfte eine phantastische Wende nimmt und die anfänglich eingeschlagene realistische Ebene verlässt, was auch vom Erzähler eigens reflektiert wird, indem er anmerkt, "die Wahrscheinlichkeit" liege "nicht immer auf Seiten der Wahrheit", und es also dem Leser überlässt, an die Geschichte zu glauben oder daran zu zweifeln.

Der weitere Verlauf mutet in der Tat sehr unwahrscheinlich an. Kohlhaas’ Rechtshändel spielen kaum noch eine Rolle, vielmehr ein geheimnisvolles Amulett, das er in Jüterbock von einer Zigeunerin auf dem Jahrmarkt erhalten hat, die sich am Schluss sogar als Wiedergängerin seiner verstorbenen Frau Lisbeth ausgibt. Sie verschafft ihm trotz Todesurteil die Möglichkeit der Rache, denn im Amulett steckt eine Prophezeiung, die der Kurfürst von Sachsen unbedingt kennen will. Doch Kohlhaas, schon auf dem Schafott, verschluckt den Zettel mit der Prophezeiung vor den Augen des entsetzten Kurfürsten, der sein Leben nun weiter im Ungewissen fristen muss.

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen (1814)

Heinrich Zschokke, ein äusserst produktiver Vielschreiber und engagierter Politiker um 1800, ist heute kaum noch dem Namen nach bekannt. Vielleicht weiss man noch, dass sich Zschokke als Grossrat des Kantons Aargau stark für eine moderne Verfassung der Schweiz einsetzte und dass er in jüngeren Jahren zusammen mit Heinrich von Kleist und Christoph Martin Wielands Sohn Ludwig einen Schreibwettbewerb durchführte. Als er 1802 noch in Bern wohnte, hing in seinem Zimmer ein Kupferstich mit dem Titel La cruche cassé, zu dem jeder der drei Freunde eine Geschichte erfinden sollte. Kleist schrieb sein noch heute berühmtes Lustspiel Der zerbrochene Krug, Zschokke eine gleichnamige Erzählung, die wie sein gesamtes Oeuvre mittlerweile als vergessen gelten muss.

Literarisch überlebte von Zschokke lediglich die sprichwörtlich gewordene Gestalt des Hans Dampf in allen Gassen. Sie entstammt einer Erzählung gleichen Titels, die lose an die frühneuzeitlichen Schwankgeschichten der Schildbürger aus dem Lalebuch von 1597 anknüpfen, die später wiederum als Vorbild für Gottfried Kellers Seldwyler-Geschichten dienten. Aus dem Dorf Schilda im Lalebuch wird bei Zschokke die Stadt Lalenburg und bei Keller schliesslich das Zürcherische Seldwyla. Möglicherweise kannte Keller sogar Zschokkes Adaption, jedenfalls klingt seine ebenfalls sprichwörtlich gewordene Seldwyler-Erzählung Kleider machen Leute bei Zschokke bereits an: "Das Kleid macht den Mann!"

Multum non multa lautet eine lateinische Spruchweisheit, die besagt, man soll sich auf eine Gesamtheit konzentrieren, anstatt sich in Vielerlei zu verzetteln. Genau letzteres macht aber Hans Dampf aufgrund der ihm angeborenen "Schmetterlingshaftigkeit seines Gemüts". Er ist ein unruhiger Geist: "Zu sogenannter Gründlichkeit des Wissens fehlten ihm ohnehin Laune und Beruf. Er war rastlos tätig, man möchte sagen, ein quecksilberner Mensch, mischte sich in alles, wollte alles wissen, alles sagen, alles tun -". Bei den einfältigen Lalenburger gelten diese Eigenschaften gerade umgekehrt für "Universalgenialität" und Hans Dampf, der Sohn des Bürgermeisters gar als "Alkibiades", dem die Frauenherzen nur so zufliegen.

Doch im Unterschied zum historischen Alkibiades erweist sich Hans Dampf, wenn wundert's, alles andere als ein grossartiger Staatsmann von Format. Vielmehr vergnügt er sich als Schürzenjäger, da er es partout vermeiden will, mit der ihm zugedachten Rosina liiert zu werden, die zwar aus reichem Elternhaus stammt, leider aber bucklig ist. Als er bei einem seiner nächtlichen Abenteuer direkt aus dem Fenster auf das kostbare Geschirrladung des unten in der Gasse durchfahrenden Töpfers kracht, bringt er die Bevölkerung gegen ihn auf und landet als "Stifter alles Übels" im Kerker, aus dem er aber mit einer List wieder entfliehen kann. Die Stimmung im Dorf ändert sich schlagartig wieder, als Hans Dampf vom Fürst Nikodemus an den Hof gerufen wird, weil er angeblich Tieren das Sprechen beibringen kann.

Mit dieser Kunst ist es genauso wenig weit her wie mit allen anderen Fähigkeiten Hans Dampfs. Er ist nicht einmal in der Lage die soignierten französischen Einsprengsel in der Rede des Fürsten richtig zu verstehen. Als er mit "mon cher" angesprochen wird, meint er, es gehe um seine 'Scher' (Schere). Mehr als ein kläffendes "Ma Ma" vermag er dem Hund auch nicht antrainieren, trotzdem zeigt sich der mindestens ebenso naive Fürst beeindruckt, als der Hund coram publico vollkommen korrekt die Frage beantwortet, wen ein Kind zuerst im Leben erblickt (eben seine 'Mama'). Immerhin erweist hier Hans Dampf einen Restwert an Bauernschläue, getreu nach dem Motto: Im Reich der Idioten gilt selbst ein schwaches Licht als helle Birne.

Nach diesem Muster reihen sich Episoden an Episoden, die allesamt dem Grundsatz sancta simplicitas verpflichtet sind. Als Ouvertüre beginnt die Erzählung mit eine satirischen Absage an die Aufklärung: Eine lalenburgische Maxime besteht darin, "dass Aufklärung und Kenntnisse die tödlichsten Gifte sind, welche man einem Volke beibringen kann. Europa hat den grössten Teil seiner Übel nur der Selbstdenkerei zu verdanken." Zschokkes Geschichte entpuppt sich damit als eine weitere Variante von Erasmus' Lob der Torheit, das unter ironischem Deckmantel die Vorzüge der Dummheit preist und damit eigentlich eine Gesellschaftskritik qua Affirmation vornimmt. Die Geschichte endet denn auch mit einer längeren Rede von Hans Dampf, der kurz vor seiner Ernennung zum Konsul seine 'Klugheitslehre' zum Besten gibt, die nichts anderes als ein Lob der Einfalt ist: "Selig sind die Armen im Geiste. Die sehen in ihrer Einfalt mehr als die von Weisheit Verblendeten."