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Sonntag, 17. August 2025

J. M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. (1983)

Ein Buch, das bei fortschreitender Lektüre immer stärker in den Bann zieht. Wie sich die Hauptfigur, der tumbe Tor Michael K., nicht nur radikal von der Gesellschaft abwendet, sondern sich aus dem Leben richtiggehend zurückzieht und sich eine eigene Welt ausserhalb aller menschlichen Bindungen einrichtet und damit seine innere Abgeschiedenheit durch die äussere Isolation sinnfällig werden lässt, ist in der geschilderten Konsequenz von einer beunruhigenden Wucht. "Er ist nicht von unserer Welt. Er lebt in einer ganz eigenen Welt." (174), sagt ein ihn untersuchender Arzt einmal fassungslos. "Du hast Dein ganzes Leben geschlafen" (111), sagt Robert, eine andere Figur.

Freilich ein Aussenseiter war der mit einer Hasenscharte geborene Michael K. schon seit seiner Geburt: ein eingeschlossener/ausgeschlossener Dritter, wie Michel Serres seine Denkfigur des Parasiten umschreibt. Einer, der nicht ins System passt und doch notwendig mit ihm zusammenhängt. Als Parasit versteht sich K. selbst: "Doch im übrigen lebte er jenseits von Kalender und Uhr in einer gesegnet vernachlässigten Ecke, halb wachend, halb schlafend. Wie ein im Darm dösender Parasit" (143). Die Metapher wird später vom Erzähler nochmals aufgenommen: "Michaels hat die Därme des Staates unverdaut passiert." (197). Michael K. wird in seiner Passivität - er will im Grunde nichts anderes als schlafen, vegetieren - zu einer seltsamen Widerstandsfigur inmitten von Bürgerkriegswirren. Je nach Perspektive "eine Witzfigur, ein Clown, ein Holzkopf" (183) oder - ein Heiliger.

Daran appelliert das Zitat von Heraklit, das dem Roman vorangestellt ist. Und zwar das berühmte Diktum, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei. Doch das Zitat geht noch weiter, wenn es heisst: "die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen; die einen zu Sklaven, die andern zu Freien." Michael K. gehört zu Letzteren: Ohne es zu beabsichtigen, geht er aus den Kriegszuständen als Verkörperung absoluter Freiheit hervor: als eine Art Adamit, der sich als "Kind dieser Erde" in seinem selbsterschaffenen Paradiesgärtchen, seinem "Garten Eden" (190), verkriecht, um "sich in den Eingeweiden der Erde zu vergraben, als deren Geschöpf zu werden" (132) Darin mündet schliesslich die Erkenntnis des Protagonisten: "die Wahrheit, die Wahrheit über mich. Ich bin ein Gärtner" (219). 

Der Roman erzählt die Geschichte einer Person, die eigentlich nicht existiert - oder nicht existieren dürfte: ein "ungeborenes Geschöpf" (166), ein Häuflein menschlicher Abfall, das "in einer Welt wie dieser nie hätte geboren werden sollen" (190) -, aber gerade dadurch zum Existential wird: von einem (mit Hasenscharte) Gezeichneten zu einem Zeichen der Zeit. Michael K. will mit seiner kranken Mutter zurück von Kapstadt in ihre Heimat aufs Land ziehen, in der Hoffnung auf gesundheitliche Besserung. Doch auf dem Weg stirbt sie und Michael erreicht sein Ziel nur mit einem Päckchen Asche unter dem Arm, das er auf dem ehemaligen Landgut verstreut, in ihrer Ackererde Kürbisse und Melonen züchtet und sich selbst, aus Furcht vom Militär entdeckt zu werden, in die Muttererde vergräbt, wo er in einer uterusähnlichen Grube haust.

Die Früchte aus der mit der Mutter gedüngten Scholle zieht er wie Ersatzkinder hoch: "Er lag in seinem Bau und dachte an diese seine zweiten Kinder, wie sie den Kampf aufnahmen durch die dunkle Erde zur Sonne empor." (126) Seine Zeit verbringt er neben der Kürbissucht hauptsächlich mit Schlafen. Er isst immer weniger. Schliesslich wird er halb verhungert von Soldaten aufgespürt, die ihn für einen Widerstandskämpfer halten, der hier Notvorräte für seine Verbündeten anlegt. Sie schleppen ihn in ein Militärlager und wollen ihn zu einem Geständnis zwingen. Doch Michael bleibt so verstockt und wortkarg, wie er auch jegliche Nahrungsaufnahme verweigert. Egal ob im Lager oder draussen: Überall versuchen die Menschen vergeblich, ihn wieder zum Essen zu bewegen. Doch er entzieht sich jedes Mal solcher "Nächstenliebe" (218) und verharrt in seiner hermetisch verschlossenen Welt.

Es dauert ein wenig, bis der Roman in Schwung kommt. Lange Zeit fragt man sich, worauf die Geschichte hinausläuft und weshalb sie erzählt wird, bis sich die existentielle Dimension mit zwingender Logik audrängt: Was sich hier am Rande der südafrikanischen Bürgerkriegs abspielt, ist eine einzige Parabel auf das Dasein, erkennbar an so ungeheuerlichen Sätzen wie diesen: "Es schien nichts zu tun zu geben als zu leben." (85) Eine Erkenntnis, die Michael K. in einem Wiedereingliederungslager ereilt. Das Lager wird so zur Metapher für die Conditio humana ("Soll ich hier in diesem Lager endlich etwas über das Leben erfahren?", 112) - und K.'s Fluchtversuche zum Ausdruck des Wunsches, die menschliche Gesellschaft hinter sich zu lassen: "Die Wahrheit ist vielleicht, dass es genügt, ausserhalb der Lager zu sein, ausserhalb aller Lager zugleich." (220)

Doch werden solche Deutungsversuche vom Roman direkt wieder sabotiert, zumal die Frage nach der Symbolik des Protagonisten selbst zum Thema wird. Die Figur des sich restlos verweigernden Michael K. stellt nicht nur ein Rätsel, sondern für die Gesellschaft zugleich ein Ärgernis dar, weshalb von allen Seiten versucht wird, ihn zu 'verstehen' und wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Es gehört mit zur ausgeklügelten Erzählweise, dass der zweite von drei Teilen aus der Sicht eines Arztes geschildert wird, der - getrieben von einem "Verlangen nach Bedeutung" (202) - K. "Geheimnis" (201) unbedingt ergründen will, letztlich aber einsehen muss, dass jeder Erklärungsversuch zum Scheitern verurteilt ist. Coetzee installiert somit die Position des hilflosen Interpreten in der Geschichte selbst. K. wiederum hält seine Geschichte folgerichtig für "unbedeutend" (212).

Literarische Referenzen gibt es viele: vom Schelmenroman bis zur Robinsonade. Vor allem aber steckt viel Kafka in dem Roman, worauf das Initial K.* des Protagonisten bereits hindeutet: In seiner Essensverweigerung gleicht er dem Hungerkünstler, seine Lagererfahrungen lassen Erinnerungen an die Strafkolonie wach werden, und wie er sich, einem "Maulwurf" (132, 219) ähnlich, in der Erde verkriecht, gleicht er dem wühlenden Tier im Bau. Auch Parallelen an die Verwandlung lassen sich ziehen, da K. eine Art Metamorphose zu einem sozialem Ungeziefer vollzieht. Einmal wird er tatsächlich auch ein "stockartiges Insekt" (183) genannt. Und schliesslich ist im deutenden Arzt, der in Michael K. eine "sich ballende Bedeutsamkeit" (202), gar ein "Symbol" (203) erblicken will, eine Referenz an die Exegese der Türhüter-Legende im Process-Roman zu erblicken, wo die hermeneutische Vergeblichkeit ebenso vorgeführt wird.

J.M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. Roman. Aus dem Englischen von Wulf Teichmann. 5. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2003.

*Nachträgliche Anmerkungen: Bei "Michael K." denken die literaturhistorisch beschlagenen Leser, zu denen freilich auch Coetzee gehört, selbstverständlich auch an Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist. Coetzees Michael K. ist quasi die Antithese zu Kohlhaas: kein blinder Wüterich gegen die Ungerechtigkeit, sondern, wenn man so will, eine Figur der passiven Aggressivität - und darin wiederum auch dem Schreiber Bartebly aus Melvilles gleichnamiger Erzählung verwandt, dessen bedingungslose Verweigerungshaltung ebenso unerklärlich wie provokant ist.

Donnerstag, 7. März 2024

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas

Michael Kohlhaas ist neben der Marquise von O. wahrscheinlich die bekannteste Novelle Heinrich von Kleists, was aufgrund der umständlichen Erläuterung mitunter komplexer juristischer und politischer Sachverhalte eigentlich erstaunen muss. Doch ist seit Erscheinen des Textes die historisch verbürgte Gestalt des Kohlhaas’ zum Inbegriff für den blindwütigen Gerechtigkeitswahn geworden. Michael Douglas im Film Falling Down ist bloss ein harmloser Abklatsch davon. 

Weil ein widerfahrenes Unrecht auf intrigante Weise vor Gericht abgewiesen wird, verlässt Kohlhaas den offiziellen Rechtsweg, greift zur Selbstjustiz und zieht brandschatzend als apokalyptischer Reiter – er wird mal als "Engel des Gerichts", mal als "Würgeengel" apostrophiert – durch ganz Sachsen, ohne Rücksicht auf Verluste: selbst seine Frau Lisbeth stirbt an den Folgen des Rachefeldzugs, der in keinem Verhältnis mehr zur Bagatelle (ihm wurden zwei Rappen geschunden) steht, die Kohlhaas’ Rechtsempfinden empfindlich verletzt hat.

In einer atemlosen Erzählweise mit dem für Kleist typischen hypotaktischen Satzbau und einer weitgehend metaphernlosen Sprache wird das Schicksal von Kohlhaas geschildert, wobei die Novelle ungefähr in der Hälfte eine phantastische Wende nimmt und die anfänglich eingeschlagene realistische Ebene verlässt, was auch vom Erzähler eigens reflektiert wird, indem er anmerkt, "die Wahrscheinlichkeit" liege "nicht immer auf Seiten der Wahrheit", und es also dem Leser überlässt, an die Geschichte zu glauben oder daran zu zweifeln.

Der weitere Verlauf mutet in der Tat sehr unwahrscheinlich an. Kohlhaas’ Rechtshändel spielen kaum noch eine Rolle, vielmehr ein geheimnisvolles Amulett, das er in Jüterbock von einer Zigeunerin auf dem Jahrmarkt erhalten hat, die sich am Schluss sogar als Wiedergängerin seiner verstorbenen Frau Lisbeth ausgibt. Sie verschafft ihm trotz Todesurteil die Möglichkeit der Rache, denn im Amulett steckt eine Prophezeiung, die der Kurfürst von Sachsen unbedingt kennen will. Doch Kohlhaas, schon auf dem Schafott, verschluckt den Zettel mit der Prophezeiung vor den Augen des entsetzten Kurfürsten, der sein Leben nun weiter im Ungewissen fristen muss.

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen (1814)

Heinrich Zschokke, ein äusserst produktiver Vielschreiber und engagierter Politiker um 1800, ist heute kaum noch dem Namen nach bekannt. Vielleicht weiss man noch, dass sich Zschokke als Grossrat des Kantons Aargau stark für eine moderne Verfassung der Schweiz einsetzte und dass er in jüngeren Jahren zusammen mit Heinrich von Kleist und Christoph Martin Wielands Sohn Ludwig einen Schreibwettbewerb durchführte. Als er 1802 noch in Bern wohnte, hing in seinem Zimmer ein Kupferstich mit dem Titel La cruche cassé, zu dem jeder der drei Freunde eine Geschichte erfinden sollte. Kleist schrieb sein noch heute berühmtes Lustspiel Der zerbrochene Krug, Zschokke eine gleichnamige Erzählung, die wie sein gesamtes Oeuvre mittlerweile als vergessen gelten muss.

Literarisch überlebte von Zschokke lediglich die sprichwörtlich gewordene Gestalt des Hans Dampf in allen Gassen. Sie entstammt einer Erzählung gleichen Titels, die lose an die frühneuzeitlichen Schwankgeschichten der Schildbürger aus dem Lalebuch von 1597 anknüpfen, die später wiederum als Vorbild für Gottfried Kellers Seldwyler-Geschichten dienten. Aus dem Dorf Schilda im Lalebuch wird bei Zschokke die Stadt Lalenburg und bei Keller schliesslich das Zürcherische Seldwyla. Möglicherweise kannte Keller sogar Zschokkes Adaption, jedenfalls klingt seine ebenfalls sprichwörtlich gewordene Seldwyler-Erzählung Kleider machen Leute bei Zschokke bereits an: "Das Kleid macht den Mann!"

Multum non multa lautet eine lateinische Spruchweisheit, die besagt, man soll sich auf eine Gesamtheit konzentrieren, anstatt sich in Vielerlei zu verzetteln. Genau letzteres macht aber Hans Dampf aufgrund der ihm angeborenen "Schmetterlingshaftigkeit seines Gemüts". Er ist ein unruhiger Geist: "Zu sogenannter Gründlichkeit des Wissens fehlten ihm ohnehin Laune und Beruf. Er war rastlos tätig, man möchte sagen, ein quecksilberner Mensch, mischte sich in alles, wollte alles wissen, alles sagen, alles tun -". Bei den einfältigen Lalenburger gelten diese Eigenschaften gerade umgekehrt für "Universalgenialität" und Hans Dampf, der Sohn des Bürgermeisters gar als "Alkibiades", dem die Frauenherzen nur so zufliegen.

Doch im Unterschied zum historischen Alkibiades erweist sich Hans Dampf, wenn wundert's, alles andere als ein grossartiger Staatsmann von Format. Vielmehr vergnügt er sich als Schürzenjäger, da er es partout vermeiden will, mit der ihm zugedachten Rosina liiert zu werden, die zwar aus reichem Elternhaus stammt, leider aber bucklig ist. Als er bei einem seiner nächtlichen Abenteuer direkt aus dem Fenster auf das kostbare Geschirrladung des unten in der Gasse durchfahrenden Töpfers kracht, bringt er die Bevölkerung gegen ihn auf und landet als "Stifter alles Übels" im Kerker, aus dem er aber mit einer List wieder entfliehen kann. Die Stimmung im Dorf ändert sich schlagartig wieder, als Hans Dampf vom Fürst Nikodemus an den Hof gerufen wird, weil er angeblich Tieren das Sprechen beibringen kann.

Mit dieser Kunst ist es genauso wenig weit her wie mit allen anderen Fähigkeiten Hans Dampfs. Er ist nicht einmal in der Lage die soignierten französischen Einsprengsel in der Rede des Fürsten richtig zu verstehen. Als er mit "mon cher" angesprochen wird, meint er, es gehe um seine 'Scher' (Schere). Mehr als ein kläffendes "Ma Ma" vermag er dem Hund auch nicht antrainieren, trotzdem zeigt sich der mindestens ebenso naive Fürst beeindruckt, als der Hund coram publico vollkommen korrekt die Frage beantwortet, wen ein Kind zuerst im Leben erblickt (eben seine 'Mama'). Immerhin erweist hier Hans Dampf einen Restwert an Bauernschläue, getreu nach dem Motto: Im Reich der Idioten gilt selbst ein schwaches Licht als helle Birne.

Nach diesem Muster reihen sich Episoden an Episoden, die allesamt dem Grundsatz sancta simplicitas verpflichtet sind. Als Ouvertüre beginnt die Erzählung mit eine satirischen Absage an die Aufklärung: Eine lalenburgische Maxime besteht darin, "dass Aufklärung und Kenntnisse die tödlichsten Gifte sind, welche man einem Volke beibringen kann. Europa hat den grössten Teil seiner Übel nur der Selbstdenkerei zu verdanken." Zschokkes Geschichte entpuppt sich damit als eine weitere Variante von Erasmus' Lob der Torheit, das unter ironischem Deckmantel die Vorzüge der Dummheit preist und damit eigentlich eine Gesellschaftskritik qua Affirmation vornimmt. Die Geschichte endet denn auch mit einer längeren Rede von Hans Dampf, der kurz vor seiner Ernennung zum Konsul seine 'Klugheitslehre' zum Besten gibt, die nichts anderes als ein Lob der Einfalt ist: "Selig sind die Armen im Geiste. Die sehen in ihrer Einfalt mehr als die von Weisheit Verblendeten."