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Freitag, 31. Mai 2024

Apollinaire: Der gemordete Dichter (1916)

Apollinaire, der Urvater künstlerischer Avantgarden, war ein Tausendsassa. In seinem kurzen Leben war er nicht nur ungeheuer produktiv, sondern vor allem innovativ, indem er auf ganz unterschiedlichen Gebieten wesentliche Impulse setzte, ganz abgesehen davon, dass überhaupt er es war, der den Begriff der Avantgarde aus dem Militärjargon auf die Künste übertrug und damit eine Epochenbezeichnung schuf. Er war mit Picasso befreundet und würdigte als erster den Kubismus, er kreierte mit seinem "Calligrammen" eine neue Ausdrucksform der visuellen Poesie, er beerbte die Tradition der Bestiarien unter modernen Vorzeichen, er schuf mit Les mamelles des Tirésias das erste surrealistische Drama, sein Gedichtband Alcools war bahnbrechend, daneben verfasste er zwei pornographische Grotesken und diverse Erzählungen.

Im Jahr 1916, als in Zürich der Dadaismus ausgerufen wurde, erschien der Erzählband Der gemordete Dichter, der unverkennbar dadaistische Züge trägt. Apollinaire stand bereits früh in Kontakt mit der neuen Bewegung. In der ersten Zürcher Publikation, dem von Hugo Ball redigierten Magazin Cabaret Voltaire, war er mit dem Gedicht Arbre vertreten wie auch sein Freund Pablo Picasso mit einer kubistischen Zeichnung und der ebenfalls mit ihm befreundete Blaise Cendrars mit dem Gedicht Crépitements. Die Erzählung Der gemordete Dichter nimmt den dadaistischen Nonsens in wesentlichen Momenten vorweg. Sie beschreibt die Lebensgeschichte des Dichters Croniamantal von der Wiege bis zu seiner - bereits im Titel angekündigten - Ermordung.

Die Erzählung ist Schriftsteller-Karikatur, Satire auf den Literaturbetrieb und biographischer Schlüsseltext in einem. Hinter der Entwicklung und den Begegnungen Croniamantals sind arg verfremdet, für Eingeweihte jedoch erkennbar, Apollinaires eigene Stationen und Bekanntschaften untergebracht. So soll Picasso als Vorbild für den Maler namens "Vogel der Langmütigen" gedient haben, auch wenn diese Anspielung nicht restlos zu entschlüsseln ist. Und in Croniamantals unglücklicher Liebschaft zur Tänzerin Tristouse Ballerinette spiegelt sich Apollinaires Beziehung zur Malerin Marcie Laurencin. Doch versteht sich von selbst, dass die bizarre Erzählung nicht 1:1 auf die Lebensgeschichte ihres Autors niederzubrechen ist.

Von Ferne klingt im eigentümlichen Namen 'Croniamantal' auch der Dichter Lautréamont an, wie sich Isidore Lucien Ducasse nannte, den die Surrealisten, insbesondere aufgrund seiner Chants de Maldoror, als wichtigen Vorläufer verehrten. Wenn es zu Beginn der Erzählung heisst, Croniamantal werde bei den Arabern rückwärts 'Latnamainorc' genannt, so ist die lautliche Namensnähe zu Lautréamont noch offensichtlicher. Doch auch in diesem Fall handelt es sich nur um eine von vielen Anspielungen, dieser an irrwitzigen Einfällen nicht armen Kurzromans. In der Rasanz, wie der die abenteuerliche Lebensgeschichte ausbreitet, erinnert er an Melchior Vischers Dada-Roman Sekunde durchs Hirn, der sich möglicherweise bei Apollinaire inspiriert hat. Nicht zuletzt zeichnet sich Vischers Protagonist wie Croniamantal durch eine grosse Potenz, zumindest ein grosses Gemächt aus (partes viriles exiguitatis).

Alle Episoden aus Croniamantals Leben hier nachzuerzählen, ergibt wenig Sinn. Hingegen darf das groteske Finale, das dem Roman nicht zuletzt den Titel verleiht, nicht ausser Acht gelesen werden. Apollinaire entwirft dort eine Satire auf den Literaturbetrieb, die heute wohl noch aktueller, als sie damals schon war. Pausenlos werden Literaturpreise verliehen und Dichter ausgezeichnet, was schliesslich darin gipfelt, dass an einem Tag 8019 Preise vergeben werden, die sich insgesamt auf eine Summe von über 50 Millionen Francs belaufen. Dieser Literatursubventionismus ist dem Agrarchemiker Horace Tograth ein Dorn im Auge, weshalb er öffentlich dazu aufruft, gegen diese "poetische Plage" vorzugehen, welche der werktätigen Bevölkerung das Geld aus der Tasche zieht, um es der "überprivilegierten Rasse der Dichter" zuzuschanzen, die lieber die hohle Hand machen als selber zu arbeiten.

Wie ein Strohfeuer verbreitete sich dieses Pamphlet gegen die Dichter und es kommt in verschiedenen Ländern zu öffentlichen Pogromen. Überall werden die Autoren verfolgt, verprügelt und hingerichtet. Was Roland Barthes 1968 unter dem Titel La mort de l'auteur theoretisch reflektieren wird, ist bei Apollinaire nichts anderes als eine beim Wort genommene blutige Wahrheit: "Tod dem Dichter" schreit die fanatische Menge und die Drohung richtet sich zuletzt auch gegen Croniamantal, der sich vor dem Volk noch stolz als "der grösste der lebenden Dichter" präsentiert. Dieser Hochmut wird ihm zum Verhängnis, denn die Meute beweist ihm das Gegenteil, indem sie ihn auf offener Strasse massakriert. Aus dem grössten lebenden Dichter wird - und das ist die finale Pointe - ein unsterblicher Dichter. Erst nach seinem Tod ist auch die Tänzerin Tristouse, die seine Liebe verschmähte und sich sogar an seiner Ermordung beteiligte, sein Genie anzuerkennen.

Sonntag, 9. Juli 2017

Paul Scheerbart: Rakkóx der Billionär (1900)

Diese kurze Geschichte, die in der Erstausgabe knapp drei Dutzend Seiten umfasst (und deshalb mit Die wilde Jagd durch einen weiteren Text ergänzt werden musste), einen Roman zu nennen, ist eine masslose Übertreibung, erst recht, wenn er sogar als „Protzenroman“ ausgewiesen wird. Doch solche Spezifierungen der Romanprosa sind ein Markenzeichen Scheerbarts, der sich auch für einen Asteroiden-Roman, einen Nilpferd-Roman, einen Königsroman etc. verantwortlich zeigt. Inhaltlich bringt der Roman die typisch Scheerbartsche Mischung zwischen Nonsens, Utopie, Science Fiction, Phantastik, Parabel und Satire.

Die Geschichte selbst ist so rasch nacherzählt, dass sie fast lachhaft abstrus wirkt: Unzufrieden mit seiner Erfindungsabteilung, entlässt der steinreiche Rakkóx sein Obergenie Schultze VII. und heuert stattdessen den jungen Erfinder Kasimir Stummel an, der den Billionär dazu bewegt, in „Kolossalbauten“ zu investieren. Der wahnsinnige Schultze, der die von Rakkóx ausgesprochene Beleidigung „Rhinozeros!“ nie verdaut hat, will sich rächen und verbündet sich zu diesem Zweck mit dem Kaiser von China, um das Bauprojekt zu sabotieren, was in Ansätzen auch gelingt. Die Geschichte endet abrupt damit, dass Schultze eine Horde blutrünstiger Indianer auf Rakkóx loshetzt, die ihn richtiggehend zerfleischen, während Schultze mit dem wütenden Ausruf Rhinozeros! triumphiert.

Daraufhin folgt der kollektive Niedergang. Rakkóx Billionen werden restlos verteilt, die von Stummel errichteten Gebäude zerfallen und Schultze versinkt in Selbstverachtung. Allein Peking triumphiert und kürt den Kehrreim „Sic transit gloria Rakkóxi“ zur populären Siegeshymne. So endet die Erzählung ohne besondere Moral oder Pointe, sondern so unerwartet und unmotiviert, wie sich oft auch die Handlung fortentwickelt. Auch im Namen Rakkóx dürfte kein versteckter Hintersinn, nur purer Sprachklang stecken. Scheerbart - der vor den Dadaisten erste Lautgedichte verfasste - demonstriert auch in dieser Erzählung die radikale Autonomie der Erfindung, die sich keiner Logik verpflichtet fühlt. 

Alles scheint in Scheerbarts Geschichten möglich ohne die mindeste Rücksicht auf Wirklichkeitsbezug. Mit wenigen Worten werden ganze Welten errichtet oder wieder zum Einsturz gebracht. Wenn Schultze beschließt, den chinesischen Kaiser für seine Sache zu gewinnen, dann ist das mit einem lapidaren Satz getan. Umgekehrt gibt es längere deskriptive Passagen, die Interieurs von Rakkóx Domizil in allen nur erdenklichen Einzelheiten schildern. Ob solche arabesken Ausschmückungen oder phantastisch rasante Handlungsverläufe - in beiden Fällen dominiert die Fabulierfreude über die Plausibilität der Geschichte.

Damit sei nicht gesagt, dass Scheerbarts Prosa sinnlos und ohne allen Zusammenhang wäre. Im narrativen Gewimmel finden sich immer auch wieder kleinere Exkurse mit Überlegungen, hier zum Beispiel visionär zur submaritimen Kriegsführung, politisch zum Nationalismus sowie psychologisch zu verschiedenen Arten des Humors: Die drei Protagonisten verkörpern alle eine spezielle humoristische Ausprägung: Schultze den aggressiven Humor, Stummel eine geschäftliche Art des Humors und Rakkóx schließlich den unfreiwilligen Humor.

Rakkóx, darüber alles andere als glücklich, beklagt diesen Zustand mit folgenden Worten: „Ich habe das fatale Talent, bei jedem nur die lächerlichen Seiten zu sehen – und was man belachen kann, nimmt man nicht krumm. Doch durch diese Gutmütigkeit verliert man den Respekt. Die Leute glauben schließlich nicht, daß man mehr will – als Lachenkönnen.“ Diese Aussage trifft in Analogie auch auf den Autor zu: Auch seine Inklination zum Humoresken und Phantastischen ist mitunter so stark, dass man gar nicht auf die Idee kommt, es könne mehr als Jux und Dallerei dahinterstecken.

So könnte man im Billionär Rakkóx letztlich auch ein verstecktes Selbstporträts Scheerbarts sehen, der über einen unendlichen (Sprach-)Reichtum verfügt, mit dem er nicht weniger verschwenderisch umgeht als sein Protagonist. Das Resultat sind Texte, die wie Rakkóx Teppiche mit "Millionen geheimnisvoller Zeichen" versehen sind, die zu betrachten bzw. lesen eine gewisse Faszinationskraft ausüben kann, die zu verstehen aber eine vielleicht vergebliche Herausforderung darstellt.

Samstag, 4. März 2017

Walter Serner: Die Tigerin (1925)

Die Tigerin – so lautet der Übername von Bichette, einer Halbweltdame, die berüchtigt dafür ist, dass sie von keinem Mann gezähmt werden kann. Sie gilt als Raubtier und Man-Eater. Umso verblüffender ist es deshalb, als es dem Hochstapler Henri Rilcer alias Fec scheinbar gelingt, sie an seine Seite zu binden, erst recht, weil ihn viele „schlankweg für einen Trottel“ halten. Das ändert sich auch am Schluss der Geschichte nicht wirklich, als er längst unter der Erde liegt. Auch da herrscht nach wie vor „Einmütigkeit“ darin, dass „Fec eben doch ein Trottel gewesen wäre“.

Der kurze Roman besticht an vielen Stellen durch derbe Lakonie dieser Art. Erzählt wird die - wie es im Untertitel heißt - absonderliche Liebesgeschichte von Fec und Bichette, die beide eine „Abmachung“ treffen, nämlich sich zu „machen“, damit sie aus Überdruss und Ennui nicht „leer laufen“. So schwören sie sich gegenseitige Liebe und starten eine Karriere als Bonnie-und-Clyde-Pärchen. Der Plan scheitert schließlich jedoch daran, dass sie nicht allein Liebe „machen“, sondern sich dabei ständig auch etwas „vormachen“. Jedenfalls wächst das Misstrauen, bis sich ihr Verhältnis gänzlich verwirrt.

Der Roman gipfelt in einer konfusen Aussprache des schrägen Gangsterpärchens. Man kennt die Situation aus jeder Beziehung, wenn beide Partner sich in Vorwürfen hochschaukeln und sich dabei immer stärker in Konditionalsätze und rückwirkende Erklärungsversuche verstricken. Fec nennt es „Hinterher-Motivationen“, als er mit Bichette zu klären versucht, wer aus welchem Grund was „gemacht“ habe, bis er selber mit der Erkenntnis aufgeben muss: „dies ist jetzt alles so ausgezeichnet verwirrt, daß es ganz unmöglich wäre, es jemals mit Erfolg zu entwirren“. - Und so schwirrt am Ende auch des Lesers Kopfs ab so viel kruder Liebes-Syllogistik.

Definitiv ein Kultbuch. Vielleicht weniger wegen der – heute ohnehin komplett harmlosen – Darstellung von Sex, Crime & Violence, mit der Serner damals aber haarscharf an der Zensur vorbeischrammte. Das Buch besticht vor allem durch die mit Versatzstücken aus dem Gaunerwelsch gespickten Irrsinns-Dialoge zwischen dem Schwadronör Fec und der kaltschnäuzigen Bichette. Darin ist es mit Quentin Tarantinos Kulterfolgsfilm Pulp Fiction vergleichbar.

Walter Serner machte sich, bevor er sich als Kriminalschriftsteller versuchte, in Zürich 1916/17 anfänglich auch einen Namen als Dadaist. Ist es Zufall, ironisches Zitat oder schlichte Überbietung des Dadaismus, wenn es an einer Stelle im Roman heißt: „Da, da, da, da...“?