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Donnerstag, 23. Mai 2024

Anne Garréta: Sphinx (1986)

Wäre das kein oulipistisches Werk, dann hätte das Lesefrüchtchen wohl die Finger davon gelassen, dermassen platt, trashig, kitschig, billig und trivial ist die dargebotene Handlung dieser tragischen Liebesgeschichte. Doch wenn man sie nacherzählen möchte, merkt man rasch, worin der Clou des Buchs besteht: Man muss nämlich selbst entscheiden, wer der Mann und wer die Frau in dieser Beziehung ist oder ob es sich um zwei Männer oder zwei Frauen handelt, denn an keiner Stelle wird, weder grammatikalisch noch inhaltlich, eine Aussage über das Geschlecht der beiden Hauptfiguren gemacht: des erzählenden Ichs und A***, die beide eine amour fou durchleben, bis A*** durch einen unheilvollen Sturz von der Bühne eines Dancing Clubs, wo A*** arbeitet, ums Leben kommt. 

Kennengelernt haben sich beide im Pariser Nachtleben. Das erzählende Ich hadert mit seinem Theologie-Studium und bekommt durch einen Zufall den Job als DJ in der Szenediskothek Apocryphe angeboten. Der Vorgänger starb an einer Überdosis Kokain und seine Leiche muss auf spektakuläre Weise weggeschafft werden. Rasch etabliert sich die Erzählfigur zum angesagten DJ. Das Studentenleben bleibt links liegen, die Nacht wird zum Tag. In dieser pulsierenden, teilweise auch anrüchigen Atmosphäre begegnet das erzählende Ich im Tanzclub Eden A*** und ist von Anhieb fasziniert von diesem Körper und dem "seltsamen Geschöpf", dem er angehört. Es entwickelt sich eine Liebesbeziehung, zuerst nur platonisch, dann auch sexuell, mit Höhen und Tiefen, Ekstasen und Eifersüchteleien.

Von A*** weiss man nur, dass es sich um eine schwarzhäutige, ursprünglich aus Harlem stammende Person handelt, die kürzlich ihr Kopfhaar kahl geschoren hat; das erzählende Ich ist zehn Jahre jünger (einmal wird das Alter genannt: 23) und kommt aus der weissen Mittelschicht. Rein äusserlich und auch von ihrer Sozialisation sind sie "ein ungleiches Paar". Während sich das intellektuelle Erzähl-Ich für Kunst und Kultur interessiert, wird A*** als rein körperliches Wesen geschildert, das wenn es nicht auf der Bühne zur Höchstform aufläuft, zuhause auf der Couch fernsieht und rumlungert. Ein Kontrast zu diesem Dandy-Leben in Paris bildet der Besuch bei der Mutter von A*** in Harlem, wo das erzählende Ich sich in der schwarzen Bevölkerung aufgehoben fühlt und zur Mutter eine enge Beziehung knüpft, die sich nach dem Tod von A*** noch verstärkt.

Der tragische Unfall entscheidet sich kurz nach einem Streit in der Garderobe des Eden. Es geht um die Beziehung und die Frage gegenseitiger Erwartungen und (falscher) Vorstellungen. Ohne die Antwort abzuwarten, verlässt A*** die Geraderobe in Richtung Bühne mit der Frage: "Wie siehst du mich eigentlich?" Allein gelassen grübelt das Erzähl-Ich über diese Frage nach, bis sich intuitiv die Antwort einstellt: "Ich sehe dich in einem Spiegel." Doch es gelingt nicht mehr, diese Erkenntnis mitzuteilen. A*** liegt bereits mit gebrochenem Halswirbel am Boden. Der leblose Körper wird in die Garderobe gebracht, wo sich die nicht mehr mitgeteilte Spiegel-Erkenntnis quasi von selbst einstellt: "in der Spiegelung verschmolz A***s Körper fahl mit meinem Gesicht an der Seite."

Hier verschmelzen die beiden Identitäten virtuell, die über den gesamten Roman in offener Schwebe bleiben, was ihre geschlechtliche Identität angeht. Allein aus dem Kontext ist man versucht, eine Zuweisung vorzunehmen. Handelt es sich bei dem jungen, weissen Studierenden der Theologie um einen Mann? Und muss eine Nachtclubtänzerin zwingend weiblich sein oder könnte es sich auch um eine Dragqueen handeln? Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Frau kaltblütig eine Leiche verschwinden lässt? Und traut man einem Mann zu, eine derart emphatische Zuneigung zur Mutter seines Freundes oder seiner Freundin zu? Usw. Hier zeigt sich auch, weshalb der Roman teilweise arg klischiert wirkt und mit Stereotypen und Plattitüden arbeitet, die durch die unklare Geschlechterrollen aber aufgeraut und hinterfragt werden sollen.

Insofern ist die Zeile aus dem Song The Sphinx der ehemaligen Muse von Salvador Dalí und 70er-Jahre-Discoqueen Amanda Lear, zu dem A*** einen atemberaubenden katzenartigen Tanz aufführt, programmatisch: "A woman or a priest / it's all a point of view". Der Roman verdankt diesem Song seinen Titel. Entsprechend ist es vom Blickpunkt der Lesenden abhängig, mit welchem Geschlecht sie die Protagonisten versehen. Ein männlicher Leser neigt möglicherweise eher dazu, sich das erzählende Ich als Mann und A*** als eine vom male gaze verklärte Frau zu denken, während es für Antje Rávic Strubel, die das Nachwort zur deutschen Ausgabe verfasst hat, aufgrund des zeithistorischen Settings an der Rive Gauche in Paris zwangsläufig um ein lesbisches Liebespaar handeln muss. Der Roman selbst nimmt keine eindeutige Zuordnung vor, stattdessen setzt er solche kontextuellen Anreize, um die eingenommene Leserperspektive zu bestätigen oder auch wieder zu unterlaufen.

Der Roman verschaffte Anne Garréta als erste Frau die Aufnahme in den Autorenkreis Oulipo (frz. Akronym für Ouvroir de Littérature potentielle), zu dem u.a. Raymond Queneau, Georges Perec, Harry Matthews oder Oskar Pastior gehörten. Ein Ziel der Gruppe besteht darin, literarische Texte nach vorbestimmten Regeln zu verfassen, um durch solche Formzwänge (frz. contraintes) neue poetische Ausdrucksformen zu generieren. Der Zwang, den sich Garréta auferlegte, war nun eben, auf ein sprachliches Genus zu verzichten und die Hauptfiguren mit einem offenen Geschlecht ohne spezifische Geschlechtsmerkmale zu versehen. Es dürfte kein Zufall sein, dass das erzählende Ich ausgerechnet an einer Studie über die Negative Theologie arbeitet. So wie dort vermieden wird, Gott bestimmte Attribute zuzuschreiben, weil er mit menschlichen Kategorien nicht zu fassen sei, so sollen auch hier die Geschlechterrollen nicht von aussen festgeschrieben werden. 

Mittwoch, 14. Juni 2017

Harry Mathews: Zigaretten (1987)

Der diesen Januar mit 86 Jahren verstorbene Harry Mathews war als einziger amerikanischer Schriftsteller Mitglied der Gruppe OULIPO, dem Ouvroir de la Litterature Potentielle, zu der auch Oskar Pastior, Italo Calvino und Georges Perec gehören. Mit Perec war Mathews eng befreundet, sein Roman The Sinking of the Odradek Stadium wurde von ihm auf Französisch übersetzt. Ein schwieriges, fast unmögliches Unterfangen, zumal die Hälfte dieses Briefromans in der Schreibweise einer Legasthenikerin verfasst ist. Mitunter wohl ein Grund, weshalb bis heute eine deutsche Übersetzung fehlt. Den Roman Zigaretten widmet Mathews „In Gedenken an Georges Perec“, was angesichts der Tatsache, dass Perec an Lungenkrebs gestorben ist, auf einen seltsam sarkastischen Humor zwischen den beiden schließen lässt.

Im Vergleich zu früheren Werken ist dieser Roman deutlich weniger experimentell ausgefallen, wenngleich er der Methode von OULIPO, die Kreativität durch formale Regeln und formale Restriktionen herauszufordern, prinzipiell verpflichtet ist. In diesem Fall spielt sich der Formalismus in der strengen Kapitelgliederung ab, die je ein Personenpaar behandelt. Das Inhaltsverzeichnis liest sich wie eine willkürliche Namensliste. Die erste Hälfte der insgesamt 15 Kaptiel wird dabei aus männlicher Sicht, die zweite Hälfte aus weiblicher Sicht geschildert, wobei jeweils die letzten drei Kapitel je zwei Männer resp. zwei Frauen im Zentrum stehen, es sich ansonsten aber um gemischte Paare handelt. Diese strenge Symmetrie (und auch darin liegt ein oulipischer Trick) wird indes durch ein Doppelkapitel aufgebrochen: das Kapitel über „Owen und Phoebe“ ist unterteilt in römisch I und II. Wohl nicht zufällig fällt in diesem aus der Reihe tanzenden Kapitel das einzige Mal im gesamten Buch der Titelbegriff „Zigaretten“ (und das auch gleich doppelt).

Obwohl der Roman, wie es scheint, auf dem Reißbrett entstanden ist und eine höchst ausgeklügelte Konstruktion aufweist, wirkt er in keiner Sekunde anstrengend oder formalistisch. Im Gegenteil liest er sich je länger je mehr als veritabler Pageturner. Das liegt an der äußerst raffinierten, nicht-linearen Informationsverteilung, die oft entscheidende Details erst nachträglich enthüllt und die Geschehnisse in jeder Episode wieder in neuem Licht erscheinen lässt. Wie sich bei fortlaufender Lektüre allmählich herausstellt, sind die zunächst lose aneinander gereihten Episoden eng miteinander verflochten. Eigentlich hat Mathews mit diesem Verfahren bereits die Technik der Short Cuts vorweggenommen, die Robert Altman mit seinem gleichnamigen Film aus dem Jahr 1993 salonfähig gemacht hat. Der Roman Zigaretten ist eine literarische Multi Charakter Form, deren separat erzählte Episoden verschiedentlich Berührungspunkte untereinander aufweisen. Im Unterschied zu Altmans Short Cuts, wo solche Überschneidungen nur sehr oberflächlich auftreten, sind die Schicksale der Protagonisten in Zigaretten viel stärker ineinander verstrickt.

Im Verlauf der Erzählung entpuppen sich diverse familiäre, amouröse, intrigante sowie geschäftliche Beziehungen unter den Protagonisten. Die Klammer bildet gewissermaßen die mysteriöse Elizabeth, die im ersten und dann wieder im letzten Kapitel auftritt, wo die anfänglich geschilderte Situation unter neuer Perspektive nochmals aufgenommen wird: Allan wird von seiner Frau Maud aufgrund seiner Affäre mit Elizabeth aus dem Haus geworfen, weshalb er aus Rache das Porträt von Elizabeth in jüngeren Jahren mitnimmt, das Maud vor wenigen Tagen zufällig vom Kunstkritiker Morris gekauft hat, der auf Anraten von Mauds Tochter Priscilla in den Kunsthandel eingestiegen ist, um seiner Schwester Irene, einer erfolgreichen Galeristin, eins auszuwischen. Das Porträt stammt vom Künstler Walter Tale, über dessen Werk (speziell über das Frauenbildnis) Priscilla wiederum promoviert und Morris einen viel beachteten Artikel verfasst hat.

Priscilla weist in ihrer Arbeit nach, dass Elizabeth dem Künstler die „animalische Anmut und transzendentale Sexualität“ der weiblichen Schönheit offenbart habe; Morris wiederum orakelt in seiner Besprechung vom „stürmischen Himmel der Vagina“. Die Aufmerksamkeit, die diesem Bild von verschiedene Figuren der Erzählung entgegen gebracht wird, deutet schon an, dass es den heimlichen Hauptdarsteller des Romans markiert. Es taucht in jedem Kapitel mehr oder weniger prominent einmal auf und wechselt im Verlauf der Erzählung mehrmals seinen Besitzer, so dass alle Protagonisten des Romans mindestens einmal mit ihm in Berührung kommen. Die Pointe besteht jedoch darin, dass es sich – wie der Leser erst später erfährt, als man schon meint, das Gemälde sei zerstört worden – gar nicht um das Original, sondern um eine Kopie handelt, die Phoebe zu Übungszwecken angefertigt hat, als sie angeleitet durch Walter Tale sich zur Künstlerin ausbilden wollte.

Phoebe ist also die Urheberin des duplizierten Gemäldes, das im gesamten Roman zirkuliert, weshalb ihr nicht von ungefähr auch das aus der Reihe fallende Doppelkapitel gewidmet ist, das die schwierige Beziehung zu ihrem Vater Owen schildert, der – ohne zu wissen, dass es sich um ein Bild seiner Tochter handelt – das Porträt vernichten wird. Dieser Akt der Zerstörung steht symbolisch für das tragische Schicksal seiner Tochter, die durch die Double-Bind-Beziehung zu ihrem Vater letztlich einen psycho-somatischen Zusammenbruch erleidet und in einer klinischen Depression versinkt. Während ihrer Psychose beginnt sie eine Stimme (sie nennt es: ihr inneres Megaphon) zu hören, die sie ihr kryptische Botschaften diktiert, und ihre Großmutter begleitet sie in Gestalt eines Vogels. Hier deutet sich eine strukturelle Ähnlichkeit zu Elizabeths Schicksal an, die am Ende des Romans ebenfalls todkrank im Spital liegt und dort träumt, dass sie ein Vogel sei. Es ließen sich bestimmt noch weitere Parallelen entdecken, die diese beiden 'Hauptfiguren' zueinander in Relation setzen.

Auf diese Weise gleicht die gesamte Erzählanlage einem grossen Puzzlespiel, bei dem sich sukzessive die Teile zu einem Gesamtbild fügen. Die anfänglich vollkommen isoliert erscheinenden Personen sind alle sehr eng miteinander in einem Gewebe von Lügen und Ent-Täuschungen miteinander verstrickt. Sie bilden eine Schicksalgemeinschaft, ohne es selbst immer zu wissen. Die Übersicht behält eigentlich nur das auktorial überlegene Erzählerich, das sich direkt nur ganz am Anfang und am Ende des Romans zu Wort meldet, ansonsten aber die personal perspektivierte Handlungsführung in Form von kurzen Klammerbemerkungen ergänzt. Woher das „Ich“ dieses Wissen bezieht, bleibt unklar. Rätselhaft bleiben auch der Titel des Romans und dessen Schluss, bei dem das erzählende Ich wieder aus dem Schatten der Narration hervortritt.

Ganz offensichtlich gehört der Erzähler zum Kreis der porträtierten Personen, über seine eigene Identität gibt es jedoch keine Silbe preis. Man erfährt lediglich, dass er eben von „den Beerdigungen“ zurückgekehrt sei. Wer da kollektiv bestattet wurde, darüber lässt sich nur spekulieren: Sind es etwa die Protagonisten des Romans, die an zum Schluss ihre Funktion für den Erzähler erfüllt haben? Die metaphysische Reflexionen, in die sich das erzählende Ich verliert, verleiten zu dieser Spekulation. Es räsoniert darüber, wie die Toten in einer ewigen Präsenz weiter existieren, indem sie von den Lebenden Besitz ergreifen. Das Leben speist sich, seiner Theorie zufolge, von der „Energie der Verstorbenen“, die sich bis auf die Anfangszeiten eines „ursprünglichen und heldenhaften Akteurs“ zurückführen lässt, dem „die Welt [...] gegeben war, damit er ohne Reue und Angst darin spielen konnte.“ Mit dieser Rückbindung an einen mythopoetischen Archetypen endet der Roman.

Dieser Schluss kommt ebenso unerwartet, wie er auch das sonst wohlkonstruierte Erzählgebilde merklich aufstört und letztlich hinter die subtil verwobene Geschichte ein großes Fragezeichen setzt. Man wird das Gefühl nicht richtig los, als treibe dieses aufgesetzte Ende ein falsches Spiel mit dem Leser. Dem Autor verschafft es offenbar eine diebische Freude, bei aller erzählerischen Kommensurabilität, überall hermeneutische Spuren und Fingerzeige für den Deutungswilligen zu legen. Irgendwie riecht alles danach, entschlüsselt zu werden. Das gilt auch für den Titel, der sich aus der Romanhandlung selbst aber kaum erschließt. Nur eine Episode nimmt ihn expressis verbis auf, als die derilierende Phoebe im Geräusch eines fahrenden Zuges die Wortfolge „Zigaretten, tsch tsch / Zigaretten, tsch tsch“ vernimmt. Es wird also alles darauf angelegt, die titelgebenden Zigaretten als rätselhafte Chiffre erscheinen zu lassen. Mögen sich Andere die Zähne (oder in Anspielung eines weiteren Romantitels von Mathews: die Zlähne) daran ausbeißen.

Angeblich hat Mathews in einem Interview auf die Frage, was der Titel denn bedeute, geantwortet, er solle dazu anregen, just über seine Bedeutung zu reflektieren. Auch sonst gab sich der Autor eher zurückhaltend und hat die Strukturgesetze und Regeln, denen er sich beim Schreiben unterzog, nie offengelegt. Vielleicht hat er aber eine davon im Roman selber versteckt. Als Elizabeth am Ende über eine Art Offenbarung erzählt, die ihr ein unbekümmertes Lebensgefühl vermittelt habe, wird sie kurz von Maud unterbrochen mit der Aufforderung: „Kein post hoc ergo propter hoc bitte schön!“ Gemeint ist damit eine unzulässige Schlussfolgerung, die ein späteres Ereignis (post) durch ein früheres verursacht (propter) sieht, also ein Kausalverhältnis herstellt, wo lediglich eine zeitliche Folge vorliegt. Solche Kausalknoten, die seit jeher das Grundprinzip des epischen Erzählens bilden, unterläuft Mathews mit seiner nonlinear und kaleidoskopisch gebrochenen Handlungsführung systematisch.