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Donnerstag, 24. Oktober 2024

Mara Genschel: Midlife-Prosa. Performative Erzählungen (2024)

"Performativ" - das war einmal ein Lieblingsausdruck der Literaturwissenschaften. Wann immer ein Text genau das vollzog, wovon er auch handelte, dann nannte man das "performativ", und vor allem in der Postmoderne erfreuten sich alle an performativen Texten. Das Lesefrüchtchen mag sich noch an ein Seminar über Thomas Bernhard erinnern, wo die Dozentin in heller Entzückung darauf hingewiesen hat, dass die Passage in der Erzählung Gehen, in der unzählige Male der Ausdruck "schüttere Stelle" wiederholt wird, selbst zur schütteren Stelle des Textes wird. Voilà, performativ, quod erat demonstrandum. Ach ja, auch an sog. "performativen Widersprüchen" hatten alle ihre helle Freude, was genau das Umgekehrte meint, wenn der Text das Gegenteil dessen vollzieht, was er aussagt.

Mara Genschel wäre nicht Mara Genschel - ja, die mit dem Schnauzer -, wenn sie diese Performativität in ihrer "Midlife-Prosa" (allein schon der grossartige Titel!) selbst wieder performativ unterläuft bzw. überbietet, indem sie sie allzu wörtlich nimmt. Der Untertitel "performative Erzählung" muss also auch mit ironischem Vorzeichen gelesen werden. Alle versammelten Erzählungen drehen sich nämlich bloss um sich selbst. Performativ eben. Und selbst das reflektieren sie noch performativ in Bezug auf die Autorin: "Manches Mal schien es mir jedenfalls, als sei ihre schiere, potentielle Beobachtbarkeit der einzige Inhalt ihres schriftstellerischen Tuns." Die Erzählungen haben nichts anderes als sich selbst zum Inhalt. Besonders deutlich zeigt sich das im ersten Text, der - und das ist nach so vielen Prosatexten aus der Perspektive von Tieren oder Gegenständen nun doch ein genialer Einfall - von ihm selbst verfasst ist. Gab es das schon einmal? Ich glaube nicht.

Der Text erzählt sich sozusagen selbst, respektive äussert er sich vielmehr ziemlich mokant über seine Autorin, über ihr Aussehen, ihr Parfüm, ihre literarischen Ambitionen, da sie zum Prokrastinieren neigt und eher alles andere macht, als sich ans Werk zu setzen, und ihn, den Text, endlich zu schreiben. Worauf sie letztlich aber verzichtet und der Text so "sein schaurig offenes Ende" findet. Ähnliche gescheiterte Schreibprozesse führen - performativ, was sonst - auch die anderen Texte vor: Umständliche Vorbereitungen zu sieben Lesungen, die dann aber nicht gehalten werden; der erfolglose Neuansatz für das Verfassen eines Drehbuchs; Skizzen zu einer grossen Rede; ein sich selbstzersetzendes Anagramm usw. Und am Schluss die performative Volte schlechthin: die Kapitulation der Autorin bei der Niederschrift des eben gelesenen Buchs in Form eines Emailwechsels mit ihren Verlegern Urs und Christian.

Das klingt nun vielleicht wahnsinnig anstrengend, verschwurbelt und dekonstruktiv, bietet aber fast durchwegs eine höchst amüsante Lektüre, weil die Autorin ihr Handwerk souverän beherrscht und offenbar grossen Spass beim Schreiben hatte, der sich auf die Lesenden überträgt. Alle diese Anti-Erzählungen sind ungemein schlau, witzig, schräg, und in keiner Sekunde langweilig, obwohl die performativen Texte von eigentlich nichts anderem als von sich selbst und ihrem (Nicht-)Geschriebensein handeln. Doch versteht es die Autorin gekonnt verschiedene Register zu ziehen und gleichsam auch zu parodieren, egal ob es sich um neomodischen Jargon, die Unwägbarkeiten der SMS-Kommunikation oder die hochtrabenden Diktion von Ansprachen handelt. Die Freude am spielerischen Umgang mit den Worten ist den Texten ebenso anzumerken wie die hohe Stilsicherheit in allen Belangen. 

"Midlife-Prosa" ist Literatur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, weil es nicht um Weltbeschreibung geht, nicht darum 'etwas in Worte zu fassen', sondern aus der Sprache heraus etwas entstehen zu lassen. Und das gelingt der Autorin mit fast traumwandlerischer Sicherheit, egal wie scheinbar banal oder abstrus der Inhalt auch sein oder anmuten mag. Zum Vergleich die im letzten Post besprochene "Hasenprosa" von Maren Kames, deren Unbeholfenheit nun noch stärker hervortritt. Im Prinzip handelt es sich in beiden Fällen um sogenannt 'experimentelle' Texte; und gemeinsam ist ihnen überdies, dass es sich um Metatexte handelt, die den Schreibprozess und dessen Krisen mitreflektieren. Während sich aber die "Hasenprosa" in ihrer mäandernden Geschwätzigkeit verliert und irgendwie doch noch einen (biographischen) Plot einzuholen versucht, bietet die "Midlife-Prosa" konzis gearbeitete Miniaturen, die trotz ihrer Unberechenbarkeit an keiner Stelle beliebig wirken. Ganz abgesehen davon, dass ein Titel wie "Midlife-Prosa" für ein Buch über Schreibkrisen um einiges pfiffiger ist.

Warum stehen solche Bücher nie auf irgendeiner Shortlist? 

Montag, 3. April 2017

Mara Genschel: Cute Gedanken (2017)

Das Lesefrüchtchen ist – mit Walter Benjamin gesprochen – ein genießendes Prosawesen; mit Lyrik hat es entsprechend wenig am Hut. Aber gerade in jüngerer Zeit sind einige interessante Lyrikproduktionen erschienen, und die roughbooks sind für solche Entdeckungen stets eine gute Adresse. Hier wagt man Experimente, ohne dass der Lesegenuss flöten geht. Hier wahrt man formalen und literarischen Anspruch und vergisst trotzdem nicht den Spaß dabei. Das gilt auch für die aktuelle Nummer 042 der Reihe: Cute Gedanken von Mara Genschel. Die Autorin macht dabei von einer alten Avantgardepraxis Gebrauch: der Einbindung von Fehlern und Pannen in den kreativen Prozess. Hans Arp gestaltete zum Beispiel seine Manuskripte unleserlich, damit die Setzer beim Entziffern ihre Phantasie spielen lassen konnte. Und Dieter Roth ließ seine Scheisse-Gedichte in Providence von amerikanischen Studenten drucken, die kein Deutsch konnten und so unfreiwillig Tippfehler produzierten.

Bei Mara Genschel sind es keine amerikanischen Studenten, aber ein amerikanisches Mobiltelefon, dessen Korrekturfunktion automatisch die deutschen SMS umschrieb, so dass zuweilen ein kurioses Esperanto entstand. Vom Sprachklang her zwar immer noch verständlich, eröffnen die amerikanisierten Einsprengsel oft eine zweite Bedeutungsebene. Das beginnt schon im Titel: Hinter Cute Gedanken schwingen lautlich noch „Gute Gedanken“ mit, liest man hingegen die englische Bedeutung dazu, dann sind es auch „Niedliche Gedanken“. So differieren Wortklang und Wortbedeutung oft und erzeugen eine gewisse semantische Spannung oder Unschärfe, die manchmal nur komisch ist (weil es wie die Parodie eines heavy american accent klingt: das Lesefrüchtchen hatte bei der Lektüre irgendwie immer Shawne Fielding im Ohr), manchmal aber auch hintersinnig sein kann – wie bspw.: „Later porose Begriffe, auf Miss vers transmission erbaut.“ Manchmal gelingen sogar richtige poetische Miniaturen: „It doesn't look as crazy as you | think, sagt Mir Ruel und mein | meinen traurig verschmierten | Lippenstift I'm Gruppenbild.“

Die SMS-Form mit seiner Zeichenzahlbeschränkung erinnert zudem an das japanische Kurzgedicht Haiku. Wie dieses so ist auch Genschels SMS-Lyrik aus dem Alltag gegriffen. Sie dokumentiert ihren offenbar etwas tristen Aufenthalt als writer in residence in Iowa. ('Auweia' hat nun meine deutsche Tastatur fast daraus gemacht.)