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Samstag, 12. Oktober 2024

Maren Kames: Hasenprosa (2024)

Das Lesefrüchtchen tummelt sich mit Vorliebe in der literarischen Vergangenheit. Doch anlässlich der Vergabe diesjähriger Buchpreise ist es an der Zeit, sich sporadisch wieder einmal in der Gegenwartsliteratur umzusehen. Aus der Shortlist des Deutschen Buchpreises, der am kommenden Montag vergeben wird, hat es sich die "Hasenprosa" von Maren Kames ausgesucht. Was lässt der auffällige Titel wohl erwarten? Der Hase ist bekannt für seine Haken, die er schlägt. Ist diese Prosa ähnlich sprunghaft? Im 18. Jahrhundert hat Jean Paul - unter seinem Pseudonym "Hasus" - bereits einmal die "Hasensprünge" als Metapher für seinen Ideenkombinatorik und den daraus resultierenden witzig-assoziativen Schreibstil verwendet. Mit dieser Referenz auf Jean Paul liegt das Lesefrüchtchen nicht ganz unrichtig, denn tatsächlich handelt es sich bei der "Hasenprosa" um pure "Assoziationsprosa", allerdings um eine ganz anderes gelagerte als bei Jean Paul: Wo sich bei ihm das Assoziationsmaterial in neuem Witz und Sinn entzünden, bleiben hier die assoziierten Versatzstücke disparat.

Die andere literarische Referenz, die sich aufdrängt, ist Alice im Wunderland. Die Ich-Erzählerin fällt zwar nicht durch einen langen Tunnel ins Erdinnere, dafür durch ein Dach auf ein Feld, wo ihr ein Hase begegnet, der sie fortan als eine Art Totemtier oder Power Animal auf eine imaginäre Reise in die Tiefe ihres Herzens, die eigene Vergangenheit und noch weiter in eine vorsintflutliche Urzeit und hinaus ins All mitnimmt. Das Buch beginnt damit eigentlich vielversprechend mit einem fast surreal anmutenden Auftakt und einer temporeichen Sprache, die einem Feingefühl für klangliche Assonanzen verrät, die - bei einem Hasenroman wohl nicht zufällig - häufig um den Vokal a kreisen: "es bangte und knackte schon lang, dann barst es, ich krachte". Hier fügt sich noch alles zu einer zwingend dichten Prosa, die sich dann aber, je länger der Schreibstrom anwächst, ins Unbestimmte verliert. Da hilft es auch nichts, wenn die Rat- und Orientierungslosigkeit mitunter metathematisch wird, etwa wenn der Hase sich zum "Dirigenten deiner Unbrauchbarkeiten und Leidenschaften" erklärt. Auf die Dauer erschöpft sich auch die demonstrativ in Szene gesetzte Sprachvirtuosität, deren Manierismen zuweilen ähnlich aufgesetzt wirken wie die Geschichte mit dem allwissenden Hasen, der die Autorin auf ihrer Sinnsuche begleitet. Sie findet ihn, so viel sei verraten, aber ebenso wenig wie die geneigte Leserin ...

Das Problem des Buchs - als "Roman" kann man es schwerlich bezeichnen - ist seine Beliebigkeit. Die Sprunghaftigkeit ist Programm, denn es wird kaum erzählt, stattdessen mehrheitlich aufgezählt. Eine solche Enumeratio hat seit Homers berühmtem Schiffskatalog selbstredend literarische Tradition, allein hier fehlt der epische Bezug. Es werden reihenweise originelle Formulierungen, Gedanken, Kindheitserinnerungen, Beobachtungen, wikipedisches Fachwissen und Kommentare zum "frei drehenden Ereignisrad der Ultragegenwart" aufgetischt, viel und ausgiebig Literatur und Songtexte anzitiert und jede Menge Namedropping betrieben ohne ersichtlichen inneren Zusammenhang. Was den kunterbunten Mix als Gravitationszentrum einzig verbindet, ist das Ich der Autorin, die in diesem Text offenbar auch eine Art Schreib- oder gar Lebenskrise verarbeitet. Dabei breitet sie Bilder, Lieder, Texte, die ihr offenbar etwas bedeuten, vor der Leserschaft aus, ohne ihnen aber selbst Bedeutung zu verleihen. Für einen solchen Sinngebungsprozess reicht es einfach nicht aus, wenn sich Sätze wie Songs auf einer Playlist aneinanderreihen. Insofern ist eine Liedzeile der als Motto vorangestellten Band International Music durchaus zutreffend: "Für alles kennst du Wörter, die beschreiben, was du siehst | Für alles andere fehlt das Repertoire."

Die Autorin als DJane? Das Buch als Playlist? Was eigentlich eine innovative Idee sein könnte, fällt enttäuschend aus. Aus dem selben Grund: Auch die Verknüpfung von Text, Bild und Musik gelangt nicht über Willkür hinaus. Willkür wohlverstanden für die Lesenden, für die Autorin mögen die ausgewählten Songs, Bilder und Privatfotos vermutlich sogar eine emotionale oder existentielle Bedeutung und sie beim Schreiben beeinflusst haben, nur entzieht sich dieses Moment der Lektüre. Das versammelte Sprach-, Ton- und Bildmaterial transformiert sich an keiner Stelle in Literatur. Es bleibt, was es ist: Vorzeigematerial. Es geht der Autorin gar nicht ums Mit-Teilen, lediglich ums Teilen. Sie zeigt her, was ihr gehört oder gefällt - und auch was sie sprachlich alles kann. Das ist schön und recht, aber braucht es dafür einen Roman? Wenn die Literatur nicht mehr vermag, als sich über eine Ansammlung von Posts und Likes zu definieren, dann macht sie sich selbst überflüssig. Oder ist wenigstens symptomatisch für ihr Zeitalter. Es lohnt sich deshalb eher, die zitierten Songs direkt anzuhören. Als Playlist funktioniert die "Hasenprosa" bestens - und die Autorin beweist über verschiedene Stile hinweg einen sicheren Musikgeschmack. Grandios ist auch ihre Beschreibung von Princes Live-Auftritt 1985 in Syrakus. Doch weshalb steht das nochmals im Buch? Ähm ...

Eine andere tolle Stelle im Buch soll schliesslich auch noch hervorgehoben werden, weniger aus literarischer Hinsicht, sondern weil es sich um ein korrektes Statement handelt. Es ist jene, in der sich die Autorin über den Irrsinn von Lesereisen und Literaturevents beklagt, nachdem der Hase zurecht danach gefragt hat: "Wieso liest man dann nicht einfach still vor sich hin und alle bleiben zuhause?" Das ist fürwahr eine absolut berechtigte Hasenfrage, die als entferntes Echo auch an Blaise Pascals berühmten Ausspruch erinnert: "Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." Den ganzen Literaturzirkus kann man sich tatsächlich schenken, wenn alle zufrieden zuhause lesen würden. Sollte Maren Kames den Buchpreis erhalten, dürfte das rasch unangenehm für sie werden, denn dann wird sie unweigerlich vom Räderwerk der literarischen Eventitis erfasst. Es ist der Autorin deshalb nicht zu wünschen.

Samstag, 20. Oktober 2018

Luigi Malerba: König Ohneschuh (1997)


Dieser späte Roman des italienischen Neoavangaurdista Luigi Malerba erzählt Odysseus Rückkehr aus Ithaka alternierend aus der Perspektive Odysseus und seiner Gemahlin Penelope, die zwanzig Jahre auf diesen Moment wartete, während sie die Freier, die es auf Odysseus Thron abgesehen hatten, in Schach halten musste, indem sie – wie es im Mythos heißt – bei Nacht wieder auftrennte, was sie bei Tag wob. Sie gab vor, erst das Totentuch für ihren Schwiegervater Laertes weben zu müssen, bevor sie eine neue Bindung eingehen könne. Doch diese Masche ist über die Jahre längst durchsichtig geworden.

Malerba erzählt keine Geschichte der glücklichen Heimkehr, sondern der zunehmenden Entfremdung eines Liebespaars, das zu lange getrennt gewesen ist. Misstrauen, Argwohn, Enttäuschung und Bitterkeit erfassen wie schleichendes Gift beide Herzen, die sich eigentlich nichts sehnsüchtiger gewünscht haben als ihre Zusammenkunft. Penelope ist misstrauisch, weil Odysseus als Bettler verkleidet vor sie tritt, um die Freier zu überlisten. Odysseus wiederum ist enttäuscht, weil sie keine Reaktion zeigt, als er ihr in Gestalt des Bettlers Nachrichten über sich selbst überbringt.

Der fortlaufende Perspektivwechsel zwischen Odysseus und Penelopes Wahrnehmung erlaubt es Schritt für Schritt nachzuverfolgen, wie sich die beiden Protagonisten gegenseitig immer weiter in Missverständnisse und Fehleinschätzungen verstricken, die schließlich darin gipfeln, dass Penelope Odysseus selbst dann noch als Bettler behandelt, als er sich längst in seiner wahren Gestalt gezeigt und sich - unter Beweis seiner Identität - an den Freiern gerächt hat. Doch Penelopes verletzte Ehre ist zu groß, als dass sie ihm auf die Schnelle verzeihen könnte. Vor allem aber ist sie nachhaltig entsetzt, als sie mitansehen musste, wie Odysseus die Freier der Reihe nach abschlachtete und sich vor ihren Augen vom geliebten Menschen zur grausamen Bestie wandelte. Das ist in ihrer Schonungslosigkeit - das Blut fließt wie im besten Splatterfilm literweise - zugleich auch eine der stärksten Stellen des Romans.

Angeregt zu dieser Nacherzählung des alten Mythenstoffes wurde Malerba offenbar duch seine Frau, die in einem Gespräch über die Odyssee sagte, es sei doch höchst unglaubwürdig, dass Argos, der Hund, Odysseus erkannt haben soll, seine ihm über Jahre treu gewesene Ehefrau aber nicht. Das könne allein damit erklärt werden, dass Penelope bloß so tat, als würde sie ihn nicht erkennen, in Tat und Wahrheit die Verkleidung aber von Anbeginn durchschaut hatte. Auch weil sie den Hang ihres Mannes zur List und zur Lüge kennt. Eine Pointe des Romans ist es denn auch, dass Odysseus selbst der Verfasser der Odyssee sei, worin er seine Heldentaten mit viel Phantasie ausgeschmückt habe. Damit wäre auch die ewige Streitfrage der Philologen über Homers Identität endlich geklärt.

Schließlich erkennt sich das Liebespaar aber wieder. Odysseus gelobt, nie mehr von Ithaka, seinem Heim und Herd, wegzugehen und will zum Zeichen seines Ernstes, fortan keinen Schuh mehr anziehen. So gibt es zu guter Letzt doch noch ein Happy End, was im klassischen Mythos nicht immer so war. Der große Heros der Odyssee wird zum Pantoffelhelden, zum „König Ohneschuh“. - So erklärt sich auch der deutsche Titel des Romans. Im italienischen Original lautet der Titel Itaca per sempre (Für immer Ithaka), was viel poetischer und leichtfüssiger klingt als der holzschuhartige Versuch auf Deutsch.

Freitag, 31. März 2017

Penelope Ashe: Nackt kam die Fremde (1960)

Hinter dem Pseudonym Penelope Ashe verbirgt sich ein Autorenkollektiv von 24 Journalisten, die auf die Initiative der beiden Berufskollegen Harvey Aronson und Mike McGrady gemeinsam den Nachweis erbringen wollten, dass sich Schundromane besonders gut verkaufen. Deshalb schrieben sie eine Art Fifty Shades of Grey avant la lettre: ein schlechtes Buch mit viel Expliziterotik. Bloß ist dieser Versuch nur halbwegs gelungen. Nicht dass der Roman kein Erfolg gewesen wäre, im Gegenteil; nur ist er keineswegs so unterirdisch mies, sondern zeugt – unbesehen der intendierten Trivialität – von hoher literarischer Könnerschaft. Jedenfalls ist es nicht so, dass der Roman (wie es am Schluss selbstbezüglich heißt) die „ganze Literatur umgebracht“ hätte. Man merkt dem Text fast in jeder Zeile die Intelligenz seiner Verfasser an, die sie offenbar nicht gänzlich wegstecken konnten: Der Text besticht durch Witz, cleveres Storytelling, psychologisch plausible Figurenzeichnung, typisch gut erfasste Charaktere, Sprach- und Situationskomik und natürlich Pennälerhumor am Laufmeter. Trotz oder gerade wegen der ostentativen Überbietung des guten Geschmacks offeriert der Roman für ironisch geschulte Leser ein wahres Lektürevergnügen. Man merkt: Die Autoren kennen den Menschen und seine niederen Beweggründe bestens.

Im Zentrum der Handlung steht Gillian Blake, die zusammen mit ihrem Mann William Blake seit acht Jahren erfolgreich eine Radioshow moderiert, in der sie beide als makelloses Vorzeigepaar figurieren. Nur leider entdeckt Gillian eines Tages, dass William fremdgeht, worauf sie beschließt, es nicht bloß ihrem Gatten, sondern gleich der gesamten Männerwelt heimzuzahlen, nicht ohne dabei selbst auf ihre Kosten zu kommen. Und so zerstört sie die Ehen in der Nachbarschaft ihres Wohnortes King's Neck, indem sie die Männer unterschiedslos der Reihe nach verführt, vernascht und schließlich auch moralisch vernichtet. Sie treibt es nicht nur mit jedem, sondern treibt auch jeden entweder in den Ruin, den Wahnsinn oder in den vorzeitigen Tod. Gillian ist mehr als nur eine Femme fatale, der die Herren der Schöpfung bedingungslos erliegen, sie erweist sich auch als Vagina dentata, die ihre Sexualpartner nachgerade entmannt. Den Schriftststeller, der ihr als letztes Opfer in die Fänge geht, schreibt noch: „Macbeth hat seinen Rivalen bekanntlich im Schlaf ermordet“. Man könnte da frivolerweise hinzufügen: dasselbe hat Gillian im Beischlaf getan. Jedes Kapitel ist einer neuen Sexattacke der Protagonistin gewidmet und jeweils eingeleitet durch einen dialogischen Auszug aus der Radiosendung mit ihrem Partner, wo sie beide eine heuchlerische Doppelmoral zur Schau tragen.

Wäre das Buch nicht von Männern geschrieben, könnte es glatt als Mustererzählung des Postfeminismus durchgehen. So aber ist der Vorwurf rasch in Reichweite, dass bloß billige Männerphantasien mit dem Motiv des beischlafwilligen Weibes befriedigt werden. Doch greift dieser Vorwurf zu kurz, übersieht er doch, dass alle Männer für das kurze Glück eines Schäferstündchens ganz elendiglich enden: Sie sind allesamt Opfer von Gillian Blake, die ihre Sexualität nicht nur zur Steigerung ihrer Libido, sondern gezielt auch als Waffe gegen die Männer einsetzt. Insofern ist diese Gillian Blake tatsächlich das Rolemodel für die postmoderne Frau: klug, selbstbewusst, sexy, berechnend und ihrer weiblichen Reize nicht verlegen. Bedenklich scheint nur, dass dieses Frauenbild aus der dezidierten Absicht entstanden ist, schlechte Literatur zu schreiben. Aber schließlich kann all den medialen Formaten heute, die weibliches Selbstbewusstsein mit Körpereinsatz gleichsetzen, auch nicht das Prädikat 'wertvoll' verliehen werden.

PS: Im Pseudonym Penelope Ashe steckt natürlich eine höhere Ironie, da die mythologische Penelope das Sinnbild der treuen Ehefrau ist: Sie wartete und wehrte strickend die Freier ab, bis ihr Gatte Odysseus von seinen jahrelangen Irrfahrten wieder heimkehrte.