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Freitag, 28. April 2017

H.P. Lovecraft: Cthullhu. Geistergeschichten (1972)

Das Lesefrüchtchen hat sich endlich ein Herz gefasst und alle Lektüren beiseite geschoben, um sich endlich dem Stapel der vergessenen Leckerbissen zu nähern. Aus Laune griff es zunächst zu H.P. Lovecraft, nicht zuletzt auch, weil die Übersetzung aus der Feder von H.C. Artmann stammt. Artmann, dieser grandiose Avantgarde-Autor und Liebhaber von Trivialgenres, hat Lovecraft für den deutschsprachigen Raum entdeckt, als er noch in niemandes Munde war. Heute gilt Lovecraft hingegen als Ikone der gehobenen Horror-Story und ist auch unter E-Literaten längst salonfähig geworden. Jedenfalls muss man sich in ihren Kreisen nicht schämen, wenn man Lovecraft liest – was eigentlich eher gegen als für den Autor spricht. Aber letztlich kann er für die intellektuelle Vereinnahmung nichts.

Lovecraft ist in erster Linie ein brillanter Techniker. Er schöpft aus dem Vollen, was die bizarren Abgründe der menschlichen Phantasie angeht. Seine Erzählungen sind weniger Orgien des Horrors als der Einbildungskraft. Er ist ein unermüdlicher Erfinder phantastischer und grauenerregender Szenarien, die er mit einer ungeheuerlichen Akribie und schier unermüdlichen Darstellungs schildert. Dabei sind die meisten Erzählungen gar nicht auf eine Wirkungsästhetik hin komponiert. Jedenfalls packt einem der beschriebenen Schauer selten. Das heißt: Die Geschichten sind, was sicher an ihrer analytischen Ausrichtung liegt, nicht per se schrecklich, sie beschreiben lediglich den Schrecken in all seinen perversen Abarten. Wenn Giorgio Manganelli im Vorwort Lovcraft als „Pornographen des Grauens“ betitelt, liegt er genau richtig. Wie de Sade in endlosen Variationen seine tableaus aneinanderreiht, so wiederholt auch Lovecraft seine Schilderungen des Schreckens bis zur Ekstase - oder Ermüdung.

Die Kurzgeschichten sind praktisch alle nach demselben Schema aufgebaut: Durch eine pseudodokumentarische Erzählweise wird eine authentische Nähe zu den geschilderten Ereignissen geschaffen, durch einen scheinbar kritischen Erzähler deren Glaubwürdigketi anfangs jedoch relativiert, obwohl von Anfang immer klar ist (was den Geschichten mitunter die Spannung nimmt): Wie unglaublich die Befürchtungen und Ahnungen auch anmuten, genau so (oder noch schlimmer) wird es am Ende auch eintreffen. Sodann wird der Erzähler nicht müde, das Entsetzen in allen nur erdenklichen Schattierungen auszumalen. Dann läuft er zur Höchstform auf. Für Lovecraft selber gilt deshalb, was er über den Maler Pickman in der ersten Erzählung des Bandes schreibt: „er schilderte mit eiskalter Überlegung eine wohlfundierte Welt des Horrors“ und ist mit dieser Methode ein „durch und durch genauer, ja fast wissenschaftlich vorgehender Realist.“ Hier zeigt sich die wahre Kreativität von Lovecraft: Seine Erzählungen sind veritable Vokabularien des Grauens, und machen sie wohl für Artmann als Übersetzer besonders interessant.

Doch offenbar erwies sich auch das Übersetzen des Horros als Grenzerfahrung. Zumindest waren die Wortfindungen so ausgesucht, dass sich nicht alle verlustfrei ins Deutsche übersetzen ließen. Das Adjektiv „ghoulish“ (engl. für gräulich, makaber) zumindest, das an mehreren Stellen auftaucht, muss Artmann trotz lexikalischer Hilfe unbekannt gewesen sein, verdeutsche er es doch schlicht – und irgendwie auch kongenial – in „ghoulisch“ (das auch in flektierter Form wie etwa in „das ghoulische Schweigen“ vorkommt) und schuf damit ein hapax legomena, das seither als Synonym für die teuflische, böse Seite der Menschheit weiterverwendet oder gar als diabolische Sprache angesehen wird. Ein produktives Missverständnis also, welches das Grauen in Form eines rätselhaften Worts in die deutsche Sprache importiert. Nichts ist unheimlicher, als was sich dem primären Verständnis entzieht.

Und genau nach diesem Prinzip funktionieren die Erzählungen von Lovecraft: Sie beschreiben jenen Moment, in dem das Irrationale in die Welt einbricht, wo sich der Schrecken in Form des absolut Unbegreiflichen, des Unausdenkbaren manifestiert, dass die Betroffenen vor Schreck entweder den Verstand verlieren, in irrsiniges Gelächter ausbrechen oder mit gebrochenen Blick dahinscheiden. Oft sind es grausige, absolut unhmane, gallert- und schleimartige Wesen aus den Urtiefen des Meeres, der Vergangenheit oder des Alls, welche schon lange vor der Menschheit existierten und nur darauf warten, diese wieder auszulöschen. Wie zum Beispiel der grosse Cthullhu, der zu Lovecrafts Privatmythologie gehört und auch in anderen Erzählungen wieder auftaucht, wie auch das berühmte gewordene Buch Necronomicon des wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred, das alle Zauberformeln enthält, um die bösartigen Kräfte zu erwecken.

Darin liegt wohl auch die anhaltende Faszination am Autor: dass er den Horror in der Buchkultur verankert und ihm dadurch als schriftlich tradiertes Erbe eine vermeintliche Genealogie verschafft. Lovecraft schreibt nicht einfach "Geistergeschichten", wie der Erzählband etwas unglücklich betitelt ist; vielmehr arbeitet er an einer vertiablen Kosmologie des Horrors und seiner klandestinen Überlieferung, die eigentlich nicht für menschliche Augen bestimmt ist.