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Montag, 26. Juni 2017

Edward Bulwer-Lytton: Eugene Aram (1832)

Dieser „Kriminalroman“ des heute hauptsächlich noch für den historischen Wälzer Die letzten Tage von Pompeij bekannten englischen Romanciers beruht auf einer wahren Begebenheit: Eugene Aram (1704-1759), ein angesehener, aber etwas verschrobener Philologe, wird 1759 des Mordes angeklagt und schließlich zu Tode verurteilt. Am Abend von seiner Hinrichtung gesteht er die Tat, die er vor Gericht noch in einer beeindruckenden Verteigungsrede geleugnet hat. Der Prozess bewegte damals die Bevölkerung stark und gehörte zu den aufsehenerregensten Rechtsfällen in England. Bulwer-Lytton musste deshalb davon ausgehen, dass die Geschichte im kollektiven Gedächtnis verankert war, entsprechend konnte in der Entdeckung des Mordes nicht das narrative Spannungsmoment liegen. So schreibt der Autor auch zum Schluss seines Buchs: „beinahe von Anfang an ließ ich ihn [den Leser] in Arams Geheimnisse eindringen und habe ihn auf die Schuld vorbereitet, mit welcher andere, wenn sie diese Geschichte erzählt hätten, vielleicht zu überraschen getrachtet haben würden“.

Bulwer-Lytton legt also das Bekannte von Anbeginn als offensichtliche Spur aus, wenn er den Gelehrten als grüblerische, misanthrope Person schildert, an dessen Minenspiel und seltsamen Gebaren sich ablesen lässt, dass ihn eine düstere Vergangenheit bedrückt. Um dem Roman angesichts des vorausschaubaren Endes trotzdem eine gewisse Spannung zu verleihen, greift Bulwer-Lytton zu einer doppelten poetischen Lizenz. Zum einen, indem er dem historisch verbürgten Gelehrten eine Geliebte hinzuerfindet, um die Tragik des Geschehens zusätzlich zu steigern. Zum anderen, indem er ihm mit Walter Lester zudem einen fingierten Gegenspieler zur Seite setzt, der seinerseits ein Auge auf Arams Geliebte geworfen hat. Hier ist der Konflikt bereits vorgebahnt, der zunächst nichts mit dem Mordfall zu tun haben scheint. Doch die Dinge erweisen sich letztlich verwickelter. Der durch Arams Schuld zu Tode Gekommene ist niemand anders, als der verschollene Vater Lesters. Hier berühren sich beide Biographien an einem dunkeln Punkt, auf den die Erzählung analytisch zuarbeitet. Insofern ergibt sich zwischen Aram und Lester eine spiegelbildliche Konstellation: Während Lester darum bemüht ist, die Vergangenheit seines Vaters aufzudecken, setzt Aram alles daran, seine schlimme Vergangenheit vor der Welt zu verbergen. Aus diesem gekonnt geschnürten Schicksalsknoten, welche die beteiligten Figuren auf intrikate Weise miteinander verknüpft, zieht der Roman sein Spannungsmoment.

Hinzu kommt die anfangs unheimliche Figur des Richard Houseman, der den verschrobenen Gelehrten zu bedrohen scheint. Diese mysteriöse Gestalt mit dem furchterregenden Antlitz, die zu Beginn unversehens in die Idylle von Grassdale einbricht, trägt ebenfalls zur Spannung des Romans bei. Wie sich herausstellt, handelt es sich um einen entfernten Verwandten Arams, der gemeinsam mit ihm die Untat begangen hat, und - unterdessen auf krumme Wege geraten - ihn mit diesem Wissen zu erpressen trachtet. Kurz vor der Heirat mit seiner Geliebten will Aram das künftige Glück nicht durch seine dunkle Vergangenheit trüben lassen, weshalb er Houseman eine jährliche Rente als Schweigegeld anbietet unter der Bedingung, dass er das Land verlassen muss. Dieser willigt in einem geheimen Treffen nahe der Küste während einer schauerromantischen Gewitternacht ein, weil er sich dadurch einen sicheren Unterhalt für seine Tochter verspricht. Alles scheint sich zum Guten zu wenden, wenn nicht unerwartet Housemans Tochter sterben und damit der Grund wegfallen würde, sich weiterhin an die vereinbarte Schweigepflicht zu halten. In einer zufälligen Begegnung mit Lester, der auf den Spuren seines verschollenen Vaters das Land durchstreift, offenbart er ihm, dass der Vater durch Arams Hand den Tod gefunden hat.

Am Tag seiner Hochzeit wird Aram von einer lärmenden Menge des Mordes bezichtigt und von den Ordnungshütern abgeführt. Sein künftiger Schwiegervater und dessen Tochter sind felsenfest von seiner Unschuld überzeugt und gehen von einem schrecklichen Irrtum aus. Nur Lester zweifelt nicht an Arams Tat. Es kommt zum Prozess, in dem Aram als sein eigener Verteidiger auftritt und in einer fulminanten Rede mit allen persuasiven Mitteln der Rhetorik die Plausibilität der Anklage zurückzuweisen sucht. Doch vergeblich, der Richter lässt sich nicht täuschen: Es kommt zum Todesurteil. Für die Verlobte bricht nicht nur eine Welt zusammen, sie stirbt - wie man nur zu Hochzeiten der Romantik sterben kann - aus Trauer und Verzweiflung nur wenige Tage nach dem vernichtenden Urteil. Walter Lester besucht Aram noch in der Zelle und verlangt Aufschluss über die grauenhafte Tat. Aram verspricht ihm ein schriftliches Bekenntnis, das er am Tag der Hinrichtung erhalten soll. Dieses Bekennerschreiben, das die komplexe Gemengelage von Recht, Gerechtigkeit, Schuld und Reue ausführlich verhandelt, ist dem Roman am Schluss beigegeben, kurz bevor er mit dem Tod Arams endet, allerdings nicht am Galgen, sondern durch eigene Hand - was der historischen Tatsache entspricht.

Der Schicksal von Eugene Aram hat viele Autoren von William Godwin über Thomas Hood inspiriert. Bulwer-Lytton dient der Stoff für eine geschickt und psychologisch feinsinnig arrangierte Geschichte, packend erzählt und mit einer guten Portion Pathos versehen. Alles, selbst die stimmungsvollen Wetterkulissen, welche den Szenerien eine zusätzliche Dramatik verleihen, steuern auf den tragischen Höhepunkt zu. Doch nicht dieses voraussehbare Ende ist es, welches die Spannung aufrecht erhält, sondern die Frage, die damals schon die Zeitzeugen umgetrieben hat: Weshalb ein an sich unbescholtener Gelehrter sich zu einer solchen Gewalttat hinreissen lässt. Aufschluss für diese Frage bietet das (freilich fingierte) Bekenntnis Arams, das aber keine versöhnliche Antwort liefert. Vielmehr offenbart sich darin die Inhumanität eines Geistesmenschen, der durch moralische Überlegenheit nicht davor zurückschreckt, ein in seinen Augen unwürdiges Menschenleben auszulöschen: "In meinem vorliegenden Fall war es mir leicht, mich glauben zu machen, ich habe kein Verbrechen begangen. Ich hatte einen der Welt verderblichen Menschen aus dem Wege geschafft; mit dem Reichtum, mit welchem er die Gesellschaft quälte, hätte ich viele Wohltaten begehen können".