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Dienstag, 25. Februar 2025

Evo Präkogler: Nicht schon wieder...! (1990)

Oswald Wiener geht trotz (oder gerade wegen) seiner Vielseitigkeit als Ein-Buch-Autor durch. Nachdem sein literarischer Hauptwerk die verbesserung von mitteleuropa zuerst periodisch in der Grazer Zeitschrift manuskripte, dann 1969 in Buchform erschienen ist, trat er vornehmlich als Theoretiker und Essayist in Erscheinung. Seine Beteiligung am skandalträchtigen Auftritt Kunst und Revolution der Wiener Aktionisten, die als "Uni-Ferkelei" in die Annalen einging, nötigte ihn überdies, im Erscheinungsjahr von die verbesserung von mitteleuropa Österreich aufgrund eines drohenden Verfahrens wegen Gotteslästerung zu verlassen. Er liess sich in West-Berlin nieder, wo er als Gastronom bis 1986 das Szene-Lokal Exil führte, das angeblich auch David Bowie frequentiert haben soll.

In Berlin etablierte er sich - neben einem neu in Angriff genommenen Studium in Mathematik und Informatik - als Publizist, u.a. für den Verlag Matthes & Seitz, in dem er verschiedene Bücher herausgab oder benachwortete, z.B. Riten der Selbstauflösung (1982) oder Psychopathia criminalis von Oskar Panizza (1978). 1990 erschienen im selben Verlag unter dem Titel nicht schon wieder...! auch die Aufzeichnungen eines gewissen Zdenko Puterweck, herausgegeben von einem nicht minder ominösen Evo Präkogler, beides literarische Mystifikationen Oswald Wieners, was im Buch aber an keiner Stelle irgendwie angedeutet oder aufgelöst würde (einzig abgesehen von der Anspielung auf das "Wortgenie der Grazer Gruppe"). Der Zeit-Journalist Günter Nenning enthüllte die wahre Autorschaft jedoch in einem Zeitungsartikel und machte dem Versteckspiel vorzeitig ein Ende. Wiener plante eigentlich das Verwirrspiel mit einer Rezension des eigenen Buchs selbst zu lüften.

Der 'Roman', wenn man so sagen will, präsentiert sich zunächst als klassische Herausgeberfiktion, wie bereits der Untertitel mitteilt: "Eine auf einer Floppy gefundene Datei". Auf dieses etwas ausgereizte Genre eines Textes, der sich als manuscrit trouvé ausgibt, reagiert selbstironisch der Titel Nicht schon wieder! Allerdings lässt er sich auf die am Ende aufgeworfene Frage beziehen, ob sich dasselbe Programm stets von Neuem abspielt. Doch der Reihe nach, das heisst: von vorne. Zdenko Puterweck, eine renommierter Wiener Literat und Intellektueller, kommt an einem 26. Oktober wieder im Spital zu sich, nachdem er vier Tage zuvor bereits für tot erklärt wurde. Seine Zeit während der Reha vertreibt er sich mit Tagebuch-Aufzeichnungen, da sein Gedächtnis durch die Nahtoderfahrung den stark gelitten hat. Er bezeichnet sich als "Emmentalerhirn" und "Kopfkrüppel". Deshalb versucht er peinlichst alles zu notieren, damit er sich, wenn schon nicht daran erinnern, es doch extern festhalten kann: "Ich erinnere nur das einmal Geschrieben. Je geschriebener desto besser."

Allmählich dämmert es ihm, dass er in einen Politskandal verstrickt war, nachdem er regelmässig Besuch des Magistraten Prokil bekommt, der ihn nach dem Verbleib von "Altmaterial" befragt. Offenbar wurde von der Regierung radioaktives Material heimlich entsorgt und nur Puterweck kennt den Ort, weshalb nun alle Hoffnung darin liegt, dass sich sein Gedächtnis so rasch wie möglich erholt, zumindest was diese brisante Information betrifft. Doch Puterweck kommt nicht richtig auf die Sprünge. Er ist zu sehr damit beschäftig, sich über seine Situation Klarheit zu verschaffen. Dabei entwickelt er eine komplexe mathematisch-informationswissenschaftliche Theorie vom Unbewussten als "Komplikator" - ein Neologismus, das den Begriff des Computers mit dem französischen Wort für Falte (pli) verschränkt. Das Bewusstsein  als komplexe Denkprozesse der Datenfaltungen. Hier deutet sich bereits an, worauf der Roman am Ende hinsteuert: Zdenko Puterweck - in dessen Name nicht zufällig auch ein Computer steckt - gelangt zur Überzeugung, dass er nicht mehr real existiere, sondern lediglich als Programm, das nach seinem Tod aufgesetzt wurde, um sein Gedächtnis zu hacken.

Wiener gelingt damit eine interessante Mischung zwischen Politthriller und Experimentalroman, der streckenweise erstaunlich spannend liest, auch wenn die Durchschnittsleserin den theoretischen Exkursen nicht in allen Details folgen kann. So viel wird aber deutlich: Es geht um die Frage nach künstlicher Intelligenz resp. nach dem Unterschied zwischen Mensch und Maschine. Puterweck durchlebt im Spital sein cartesianisches Moment mit der Frage, ob er ein selbstdenkendes Wesen sei oder ihm alle Gedanken und Wahrnehmung nur durch ein Programm eingegeben werden. Und mehr noch: Was passiert, wenn das Puterweck realisiert, dass er ein Programm ist? Wäre dann die Schwelle erreicht, an der sich sagen liesse, Computer können ein (Selbst-)Bewusstsein entwickeln, also dass er, wie der Name Zdenko suggeriert, tatsächlich denkt? Am Punkt der Selbsterkenntnis bricht der Text jedoch ab. Ob das Programm kollabiert ist oder ob ihm der Stecker gezogen wurde, weil es nicht den erhofften Aufschluss über das "Altmaterial" brachte, bleibt dahingestellt.

Als Leserin verfolgt man quasi diesen maschinellen Evolutionsprozess hin zur künstlichen Intelligenz. Einer der letzten Sätze lautet: "D. ganze Scheisse ist nichts als d. Evolution." Puterweck erhebt an einer Stelle im Text verschieden evolutionäre Hypothesen, eine davon lautet, das Bewusstsein sei bloss "eine Zwischenphase", die in einer komplexere Stufe münde, die rein "algorithmisch" funktioniere: "Mein Pech, unser Pech dass wir die Automaten aus der Zwischenphase sind." Auf diesen Themenkomplex deutet schon der Name des fingierten Herausgebers mit der merkwürdig maskulinen Variante von Eva (Evo) hin, der ursprünglich sogar noch deutlicher Evo Lutz Präkogler lauten sollte. Biblische Ursprungsgeschichte (Eva), biologische Theorie (Evolution) und Futurismus (Präkognition) klingen hier hörbar zusammen an. Wer zudem die "Precogs" aus Philip K. Dicks Minory Report heraushört, liegt ebenfalls nicht falsch, zumal der Autor von Puterweck mehrfach in seiner Datei erwähnt und zitiert wird, insbesondere seine Biographie Only Apparantly Real, deren Titel gleichsam symbolische Bedeutung zukommt.

Sonntag, 14. Oktober 2018

Oskar Panizza: Eine Mondgeschichte (1890)


Die Menschheit ist seit jeher vom Mond fasziniert, der immer auch Spekulationen über die Bewohner dieses Gestirns evozierte. Bereits Plutarch verfasste einen Traktat über das vermeintliche Mondgesicht, wie sich auch die Literatur der phantastischen Mondreisen bis auf die Antike zurückführen lässt. Eine der skurrilsten Mondgeschichten stammt jedoch aus der Feder von Oskar Panizza, dem späteren Skandalautor, der gegen Staat und Kirche polemisierte. In diesem Zusammenhang notorisch bekannt geworden ist vor allem sein Stück Das Liebeskonzil (1894), das ihm ein Jahr Gefängnis wegen Blasphemie einbrachte. Bei der Mondgeschichte, 1890 im Verlag von Georg Müller erschienen, handelt es sich um den längsten zu Lebzeiten erschienene Text Panizzas.

Geschildert wird in der Ich-Form der Augenzeugenbericht eines jungen Studenten in Leyden, der nächtens aus Liebeskummer aufs offene Feld flüchtet und dort beobachtet, wie erst der Mond sich ruckartig bewegt, scheinbar auf die Erde gezogen wird und dort von einem Mann vergraben wird. Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, folgt der Student dem Mann, klettert hinter ihm eine Strickleiter hinauf, die bis in den Himmel zu führen scheint. Die Luft wird immer dünner, bis er schließlich in einer runden Baracke ankommt, die weit über der Erde schwebt. Zwei Monate lang hält sich der Student dort versteckt und observiert das seltsame Treiben in dem Gehäuse, von dem er annimmt, dass es sich um den von der Erde her vertrauten Mond handeln muss.

Bewohnt ist die schwebende Holzkugel vom einem keifenden Ehepaar mit zwölf Kindern. Sie ernähren sich ausschließlich von Käse, weshalb ihre Gesichter selbst schon ganz rund und gelblich sind. Nach und nach stellt sich heraus, dass der Mondmann einmal im Monat, nachdem ihm die Sonne die äußere Pechhülle des Hauses versengt hat, auf die Erde hinuntersteigt und dabei die brennende Pechschicht mitnimmt, um sie auf einem Feld zu begraben. Gleichzeitig nutzt er den Aufenthalt auf der Erde, die er mit seiner Familie den „großen Käse“ nennt, um sich mit Proviant (ausschließlich holländischer Käse) und Gebrauchsgegenständen versorgt, die er nachts unbemerkt mitlaufen lässt.

Das alles klingt natürlich phantastisch genug, doch der Erzähler versucht mit allen Mitteln die Glaubwürdigkeit seiner Erlebnisse zu beteuern. Der Text ist deshalb mit zahlreichen Authentizitätssignalen – darunter auch ein frühes Beispiel (vor Joyce, Schnitzler und Virginia Woolf!) einer Gedankenstromtechnik – ausgestattet, was mitunter zu umständlichen Erklärungen und einer Detailversessenheit führen, die aber alle im Dienst stehen, das Erzählte als wahr erscheinen zu lassen. Zuletzt versteigt sich der Student in eine waghalsige Theorie, der Mond sei nichts anderes als ein Räubernest, wo sich seit den Assyrern ein Zigeunergeschlecht eingenistet habe, um nicht entdeckt zu werden. Was wir von der Erde als Mond wahrnehmen sei bloß der Korb eines ungeheuren Ballons, mit dem die Zigeuner von der Erde geflohen sind und der jetzt als Trabant um die Erde kreist.

Auch diese Theorie wird in aller Ausführlichkeit und mit allen möglichen Einwänden vorgebracht und erwogen. In dieser Mischung zwischen absoluter Phantastik und pseudo-wissenschaftlicher Genauigkeit der Darstellung liegt der Reiz des Textes, der durch eine geschickte Leserführung überdies nie an Spannung einbüßt. Ganz offensichtlich stand – der einmal sogar namentlich erwähnte – Edgar Allan Poe (bzw. dessen Erzählung über die Abenteuer von Hans Pfaall) Pate für diese phantastische Reise zum Mond.