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Montag, 22. Mai 2017

Gerold Späth: Stimmgänge (1972)

In Stimmgänge macht Gerold Späth den Orgelbau, das traditionsreiche Metier seiner Familie, zum Thema einer gargantuesken Lebensgeschichte. Noch heute steht die Marke Späth für Qualitätsorgeln. Im Roman wird sie, nebst zahlreichen anderen, auch beiläufig, aber an zentraler Stelle erwähnt, nämlich dort, wo in der Kirche St. Bombast alle Orgelpfeifen in einer wilden Kakophonie losdröhnen: „Sauer, Seuffert, Silbermann, Slegel, Späth, Schweimb, Riepp und Gabler haben einander, auf einmal höllisch aufbrüllend, an der Gurgel und gehen – wie das in dem Kunsthandwerk üblich ist – alle zusammen wie der Teufel auf den Hasslocher los“. Das „hornt“ dann nicht nur „wie vor Jericho“, sondern bringt in der Tat die Kuppel der Kirche zum Einsturz, so dass der Fuß des genannten Hasslocher unter den niederfallenden Steinmassen zerquetscht wird.

Dieser zertrümmerte Fuß setzt nun das ganze Erzählwerk in Gang. Denn Jakob Hasslocher, der Protagonist und Erzähler, verkürzt sich den Aufenthalt im Spital mit der Niederschrift seiner Lebensgeschichte. Adressiert sind seine Aufzeichnungen an Haydée, seine ehemalige Geliebte und Ehefrau, von ihm mehrmals als „ewiges Mädchen“ apostrophiert, da sie in der Tat eine Art Urweib verkörpert. Jedenfalls handelt es sich um eine der merkwürdigsten Frauenfiguren der Weltliteratur: eine wahrhaft männerverschlingende Femme fatale, die ihre Opfer während des Beischlafs aussaugt und vaginal vertilgt. Eine menschliche Venusfliegenfalle, die mit jedem einverleibten Opfer ein noch stärkeres Odeur verströmt, das die Männer reihenweise anlockt und um den Verstand bringt, Hasslocher nutzt die unbändige Libido seiner Frau, um daraus Kapital zu schlagen, indem er ihr auf der gemeinsamen Hochzeitsreise regelmäßig Freier zuführt, die dann gegen gutes Geld im gierigen Schlund ihres Unterleibs verschwinden.

Zu diesem Schritt nötigt ihn das Testament seiner verstorbenen Großmutter, die ebenfalls ein monströses Urweib war und die halbe Sippschaft auf dem Gewissen hat. Auch für ihren Enkel hat sie sich über den Tod hinaus einen bösen Scherz ausgedacht. Gemäß der testamentarischen Verfügung kann Hasslocher sein Erbe erst antreten, wenn er eine Million beisammen hat. Immer wieder erscheint ihm die tote Großmutter und drängt ihn dazu, nicht länger auf der faulen Haut zu liegen und die Million endlich aufzutreiben. Mit dem Orgelhandwerk allein ist das kaum zu meistern, auch wenn er davon träumt, eine Orgel der Superlative zu bauen. Durch ein traumatisches Ereignis im Wald – Hasslocher gerät mitten in eine unkontrollierte Schießübung des Militärs – verschlägt es ihm zudem die Sprache. Seither ist er stumm, was mitunter auch ein unerwünschtes Erbe seiner Großmutter sein dürfte, die durch ein herrisches „Halt's Maul“ die anderen zum Schweigen verdammte und so aus Hasslochers Vater einen „Murmler“ machte.

Unter diesen Voraussetzungen – mit der toten Großmutter im Nacken, einem Kropf im Hals und der Vision einer Superorgel vor Augen – schlägt sich der junge Hasslocher auf seinen Stimmgängen durchs Leben, bis er schließlich seine eigene Stimme wieder findet und – gefördert durch den dubiosen Mäzen Jean de Blégrangers – zu einem renommierten Orgelbauer wird, der die verrücktesten Modelle entwirft. Ein Anhang zum Buch verzeichnet alle realisierten und nicht-realisierten Orgelprojekte von Hasslocher. Nur die Sache mit dem Testament erweist sich letztlich als Jux: die Großmutter hat ihren Enkel vollkommen vergebens angestachelt, denn ein lohnenswertes Erbe hat sie gar nicht vorzuweisen. So geht Hasslocher am Ende zwar leer aus, hat dafür allerhand Abenteuer erlebt. Die „Stimmgänge“ stehen deshalb auch metaphorisch für die zahlreichen, mitunter arg abschweifenden Episoden und Geschichten. Andererseits gibt Hasslocher auch an, er wolle sein Erzählung wie eine Orgel mit allen möglichen Ober-, Unter- und Zwischentönen orchestrieren. Das ist eine indirekte Einladung, die Romanarchitektur mit den eingeschalteten Konstruktionsplänen des komplexen Rudwieser Orgelwerks zu vergleichen. Am Ende liegt mit den Stimmgängen eine papierne Version der von Hasslocher erstrebten Wunderorgel vor.

Jedenfalls stellen die Stimmgänge einen Wälzer von epischem Ausmass dar, der alle Register zieht. Wie schon der Vorgänger Unschlecht, in dem der Orgelbauer Jakob Hasslocher als Nebenfigur bereits einen kurzen Auftritt hat, besticht auch der Zweitling des Autors durch eine archaische Sprachgewalt, eine derbe Komik und eine funkensprühende Fabulierfreude. Mitten in der postulierten Krise des Erzählens der Nachkriegszeit belebte Späth, in der Folge von Günter Grass, die Literatur mit neobarocken Romanungetümen, die alle Grenzen sprengen und ihre Herkunft aus der Tradition des Schelmenromans nicht verleugnen können. Narren und Schelme treten in der Literatur häufig auf, wenn es gilt der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. So sehen sich auch Späths naiv-gewiefte Helden wie weiland Simplicissimus einer bigotten und korrupten Gesellschaft ausgesetzt, der sie aber - zu ihrem eigenen Vorteil - mit List und Tücke begegnen. Nicht von ungefähr heißt Hasslocher Jakob mit Vornamen und sollte eigentlich auf den Namen Simon getauft werden: „Jakob der Listige und Simon der Erhörte“. Durch List zu Ruhm, so könnte verkürzt der Verlauf der Stimmgänge zusammengefasst werden.

Neben barocken Anleihen, beerbt der Roman auch seine modernen Vorläufer. So sind Kapitelüberschriften wie „Erstes fruchtiges Kopf- und Hinterstück“ ganz offensichtlich von Jean Pauls Blumen- und Fruchtstücken aus dem Siebenkäs inspiriert, während die Stimmgänge insgesamt auf der Folie von Melvilles Moby Dick komponiert sind. Wie dort das Buch mit dem berühmten Auftakt, den von einem Hilfsunterbibliothekar zusammengetragenen Exzerpten aus der gesamten Walfischliteratur, einsetzt, so beginnt auch Späths Roman mit einer mehrseitigen Reihe von Zitaten zur Orgel. Die Orgel – insbesondere die Vision einer Wunderorgel – bedeutet für Hasslocher somit, was der weiße Wal für Kapitän Ahab darstellt: eine gefährliche Obsession. Ahab und Hasslocher sind Verwandte im Geiste. Nicht von ungefähr hat ihre Leidenschaft beiden eine Prothese eingebracht: Der Wal biss Ahab das Bein ab, und der Orgelklang zertrümmerte Hasslochers Fuß. So bekennt er zum Schluss auch: „ich habe einen Bockfuss zu verstecken [...] es ist, hier haben Sie's: meine hasslochische Besessenheit“.

Dass beiläufig doch noch von einem echten Walfisch in den Stimmgängen die Rede ist, bildet die heimliche Pointe dieser literarisch durchtriebenen Tour de force. In einem erzähltechnisch herausragenden Kapitel, das verschiedene Geräusch- und Gesprächsebenen polyphon miteinander verfugt und außerdem noch typographisch mit einer semimimetischen Wiedergabe der Klangstruktur experimentiert, erzählt ein mitgenommener Tramper und „monströser Schwätzer“ während der Autofahrt von einem gestrandeten Walfisch, einem „Monstrum“ und „Riesentier“, dessen Speck er stückweise verkauft habe, bis das Tier ganz grauenhaft zu stinken begonnen habe und er den Kadaver in Formalin legen musste. - Das ist nur eine von vielen, scheinbar zusammenhangslosen Episoden, in die der Roman zu zerfallen droht. Doch zum einen besitzen solche Binnengeschichten hintergründig - wie hier mit dem Walfisch - eine symbolische Funktion für die Gesamterzählung; andererseits weisen sie strukturell auch auf die folgenden Werke von Späth voraus wie etwa Commedia oder Sindbandland, die dann zugunsten narrativer Mikrozellen gänzlich auf einen durchgehenden Handlungsbogen verzichten.