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Mittwoch, 3. September 2025

Steven Hall: Gedankenhaie (2007)

Vor fünfzig Jahren kam Jaws von Steven Spielberg in die Kinos und ging als erster Kassenschlager Hollywoods - als Monster-Blockbuster im wahrsten Wortsinn - in die Filmgeschichte ein. Spielbergs Geniestreich brach alle Rekorde: Er gilt bis heute als kommerziell erfolgreichster Kinofilm und setzte neue Massstäbe für Hollywood-Produktionen. Der damals noch nicht einmal 30jährige Regisseur - Spielberg war beim Dreh 29 Jahre alt - zeigte allen, wie man Filme und Geld macht ("making movies and money"). Das führte natürlich Trittbrettfahrer und Nachahmer auf den Plan. Das Genre des 'Haifischfilms' explodierte förmlich und zog eine unüberschaubare Fülle von Adaptionen und Fortführungen nach sich - mitunter auch plumper oder hirnrissiger Art, wie Sand Sharks, die sich durch den Strand fressen, oder in Sharknado, wo Haie, aufgewirbelt durch einen Tornado, über die Luft angreifen. Steven Hall setzt dem allem mit seinen Raw Shark Texts (wie das Buch im Original heisst) die Krone auf: Diese Gedankenhaie schwimmen durch die Informationsflüsse und fressen Gedächtnisinhalte auf ...

Das Buch erschien zwei Jahre nach Jonathan Safran Foers Unglaublich laut (2005) und operiert wie dieser Roman mit typographischen Spielereien in der Tradition der visuellen Poesie. Wie bei Foers handelt es sich um eine Spurensuche, wobei die Indizien in Form von Codes, Karten, Plänen, Diagrammen und Kryptogrammen oder graphisch speziell gestalteten Seiten mimetisch abgebildet sind, um dem Leser selbst in den Erfahrungsmodus eines Fährtenjägers zu versetzen. (An einer Stelle wähnt sich der Protagonist gar als "Indiana Jones", 232) Wo Foers einen autistischen Jungen auf die Suche nach seinem Vater setzt, begibt sich Eric Sanderson, der Protagonist von Steven Hall, auf die Suche nach seinem früheren Ich, denn er leidet angeblich an einem Gedächtnisverlust, der die gesamte Erinnerung an seine Person einfach gelöscht hat. Seine Psychotherapeutin meint, es handle sich um eine Extremform des Fugue-Syndroms, um eine Persönlichkeitsflucht, ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis - in Sandersons Fall ein tödliches Unglück seiner Freundin Clio.

Sanderson selbst jedoch hat eine andere Theorie. Zumindest der Sanderson vor dem Gedächtnisverlust, der sein dementes Ich mittels hinterlegten Nachrichten über die Ursache seiner Amnesie informiert. Der Romananfang erinnert an Christopher Nolans Film Memento, wo Guy Pearce ebenfalls jeden Tag aufwacht und sich nur dank tätowierten Informationen seine zweifelhafte Identität aufrecht erhalten kann. Hall schildert Sandersons erwachen als eine "Wiedergeburt" (106) in ein "zweites Leben" (7): die Eingangspassage liest sich, als würde der Protagonist nochmals aus dem Uterus kriechen: "und ich, blind, zitternd, presste meinen verschleimten Mund fest in die hohle Hand und versuchte, zwischen den Fingern hindurch möglichst systematisch zu atmen" (7). Angesichts dessen, dass Freud das intrautesine Dasein als ozeanisches Gefühl umschrieben hat, erinnert die Szene auch an Jemanden, der aus den Tiefen des Ozeans wieder ans Tageslicht auftaucht - und das ist gerade der springende Punkt.

Wie Sanderson der Zweite nämlich sukzessive von den brieflichen Mitteilungen seines Vorgängers erfährt, war dieser beim Versuch gescheitert, seine tote Freundin wieder zum Leben zu erwecken, indem er mit Hilfe von Dr. Trey Fidorous - dem "Klischee des wahnsinnigen Professors" (235) - die Vergangenheit qua Erinnerung manipulieren wollte, dabei aber unversehens einen Grauen Schwammkopf-Geisterhai aktivierte, der nun Jagd auf ihn machte, sein Hirn häppchenweise auffrass und ihn schliesslich mit sich in die Tiefe der Amnesie riss. Diese Bestie zählt als "Konzepthai" zu den "Gedanken-, Wort- und Phantasiefischen" (263), gilt als "persistenter, mnemonischer Räuber" (264) und ist ausgestattet mit "perfekt ausgebildeter Gedanken-Flosse" (161 bzw. 68) sowie einem Rachen "bestückt mit Okhams Klingen" (290): "Das Auge im Schwammkopf ist eine nachtschwarze Null, ein Tintenklecks, ein dunkles Loch in der Welt." (290). Im Text erscheint er in visualisierter Form, zusammengesetzt aus Buchstaben und Textfragmenten, die sich an einer Stelle wie in einem Daumenkino in Bewegung setzen, so dass der Hai plötzlich auf die Lesenden zuschwimmt.

Sanderson begibt sich auf die gelegten Fährten seines früheren Ichs, um Dr. Fidorous aufzusuchen und durch ihn mehr über seine gelöschte Vergangenheit zu erfahren und die Möglichkeit, sich vom Gedankenhai wieder zu befreien. Auf seinem Suche begleiten ihn sein Kater "Ian" und "Scout", eine couragierte junge Frau, die ihm den Weg in den "Unraum" zu Fidorous weist. Dieser lebt abgeschottet in einem unterirdischen Bücherlabyrinth, um sich von den Angriffen des Gedankenhais zu schützen: Denn die Vielzahl an Informationen kann dieser nicht durchdringen (221). Es stellt sich heraus, dass Scout ein analoges Problem wie Eric hat: Sie wurde von der grossen Datenkrake Mycroft Ward gehackt, die sich fortlaufend ausdehnt und ihre virtuelle Existenz auf verschiedene Wirtskörper wie auf Server verteilt. Der Plan besteht nun darin, den Gedankenhai auf Mycroft ward loszulassen, um beide zu neutralisieren: "Gegen ein kollektives Riesenbewusstsein wie Mycroft Ward hilft nur ein Gedankenfresser wie der Geisterhai, das ist gewissermassen wie Materie und Antimaterie, sie heben sich gegenseitig auf. Bumm." (246)

Das Finale spielt sich als Showdown wie im Film Der weisse Hai (Jaws) ab. Die Dreiermannschaft von Fidorous, Eric und Scout sticht mit ihrem Schiff, der Orpheus (nicht die Orca wie im Film), auf hohe See und macht Jagd auf den Hai, indem sie ihn zu ködern versuchen und ihm Fässer mittels Harpunen in den Leib rammen, damit er nicht entkommen kann. Wie im Film erweist sich der Hai jedoch viel gerissener und mächtiger als vermutet, taucht unter, führt die Besatzung in die Irre und attackiert letztlich das Boot. Das Psychodrama, das sich hinter dieser Haifischjagd abspielt, betrifft jedoch Erics traumatisches Erlebnis mit seiner Freundin Clio, als deren Reinkarnation sich, wenig überraschend, die kecke Scout entpuppt, zu der sich längst eine neue Liebschaft angebahnt hat. Inmitten des Grande Finale der Haiattacke sagt zu ihm die erlösenden Worte und sprich ihn von der Verantwortung ihres Todes frei: "Es war nicht deine Schuld." (426) Das Buch endet ambivalent: Einerseits mit einem Happy End der Wiedervereinigung, andererseits mit dem Tod (Suizid?) von Eric. Kurz davor schreibt er an seine Psychotherapeutin eine Postkarte mit der Mitteilung: "Mir geht es gut, ich bin glücklich, aber ich komme nicht mehr zurück," (428)

Die Frage, ob der Ich-Erzähler unter einer Psychose leidet, sich also alles nur einbildet, oder es tatsächlich erlebt, anders formuliert: ob es sich um einen psychologischen oder einen Fantasyroman handelt, ist müssig, zumal der Gedankenhai in beiden Fällen als Monstertrope für das Trauma fungiert. Er verkörpert das Verdrängte, die unbewusste Ängste, die Schuldgefühle, das sich nicht dauerhaft unterdrücken lässt, sondern in Form eines schrecklichen Ungeheuers an die Oberfläche dringt. Der Textkörper des typographisch visualisierten Hais besteht deshalb aus dem dritten Teil des Glühbirnen-Fragments, der man erst am Ende in integraler Form lesen kann. Es enthält die Ursache für die Psychose. Man erfährt, dass Clio bei einem Tauchgang ums Leben kam, bei dem sie unter Wasser Fische fotografierte - mit einer Kamera, die ihr Eric einen Tag zuvor geschenkt hatte. Daher sein Gefühl, schuld an ihrem Tod zu sein; daher auch der Grund, weshalb sich diese unaufgearbeitete Schuld ausgerechnet in Form eines Hai-Fisches manifestiert. 

Das Buch beginnt vielversprechend, verliert sich dann aber rasch in einer konventionellen Abenteuergeschichte, deren Cyperpunk-Charme nicht über die Willkürlichkeit des nur anfänglich besonders ausgeklügelt erscheinenden Handlungsverlaufs hinwegtäuschen kann. Steven Hall arbeitet auch als Game Designer - und das merkt man dem Roman an, der streckenweise wie ein Videogame aufgebaut ist, verschiedene Szenerien kreiert und die Protagonisten von einer Aufgabe zur nächsten führt. Eine blühende Phantasie ist dem Autor jedenfalls nicht abzusprechen, doch reicht das nicht für einen gelungenen Roman, wenn die Spracheebene trotz dem Einsatz typographischer Extravaganzen kaum mithalten kann. Er verbleibt dann auf dem Niveau eines Game-Plots, das zwar spannend, aber auf die Dauer auch belanglos wirkt. Abgesehen von den wilden theoretischen Spekulationen bleibt die Sprache bis auf wenige Ausnahmen unauffällig, um nicht zu sagen farblos, und schmiegt sich ganz und gar dem Plot an. Originelle Vergleiche wie dieser sind leider Einzelfälle: "Die Luft im Tunnel roch nach einem antiquarischen Dickens-Roman." (226)

Steven Hall: Gedankenhaie. Thriller. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay, Susanne Hornfeck und Sonja Hauser. München: Piper Verlag, 2007.

Samstag, 22. Februar 2025

Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung (2012)

Wolf Haas, bekannt für seine mit Sprachwitz gespickten Brenner-Krimis, legte mit mit die Verteidigung der Missionarsstellung einen Roman ausserhalb seiner Krimi-Serie vor, der alle Register des postmodernen Erzählens zieht, ohne dabei anstrengend zu wirken. Im Grunde ist es schon eher eine Parodie auf postmoderne Erzählverfahren, die hier mit grossem Augenzwinkern zur Schau gestellt werden. Es handelt sich - ganz in der Tradition von Laurence Sterne und seinem Tristram Shandy - um einen Antiroman, der sich dem linearen Fortgang verweigert, den Erzählfluss ständig sabotiert und die Geschichte lediglich entwickelt, um sie wie eine Seifenblase platzen zu lassen. Das beginnt schon damit, dass wir keinen fertigen Roman lesen, sondern gewissermassen einzelne Entwurfsfragmente, deren Lücken erst noch ausgearbeitet werden müssen. Immer mal wieder vermerkt der Autor in Klammern, was bei einer Überarbeitung noch zu ergänzen wäre. Quasi konträr zu dieser Ästhetik des Unfertigen ist der Roman bereits mit diversen typographischen Spielereien ausgestattet, auch da bleibt der Tristram Shandy Vorbild. Mal muss man um die Ecke lesen, dann Querlesen oder ein Textblock bewegt sich wie ein Lift vom oberen Seitenrand nach unten. Auch das besitzt eher ironischen Charakter und fungiert als Parodie auf ähnliche, jedoch symbolisch überladene Verfahren wie etwa in Extrem laut und unglaublich nah (2005) von Jonathan Safran Foer.

Verteidigung der Missionarsstellung ist deshalb nicht nur ein Anti-, sondern auch ein - in der Tradition von Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979) stehender - Metaroman, da er permanent auch über das eigene Verfahren reflektiert und sich auf sich selbst bezieht, bis hin zur Absurdität, wenn dem Autor am Ende des noch unfertigen Romans eine Reiterin begegnet, die das Buch bereits aufmerksam gelesen hat. Auf diese Form der Selbstreferentialität verweist bereits das Cover des Buchs, wo der Autor sein Buch in die Kamera hält. Das Buch erscheint also im Buch und das könnte in einem infiniten Regress so weitergehen. Tatsächlich inszeniert Wolf Haas ungefähr in der Mitte der Geschichte eine solche Mise en abyme, als die lediglich als "die Baum" apostrophierte Figur beginnt, den gesamten Text zu lesen, den wir bereits gelesen haben, wobei der Autor bemerkt: "Ich fragte mich, wie sie es geschafft hatte, aus der Schleife auszusteigen. Sie hätte doch am Ende des Buches wieder an die Stelle kommen müssen, wo ich schlafen gehe und die Baum in meinem Arbeitszimmer sitzt und zu lesen beginnt. Dann hätte die Geschichte ein drittes Mal von vorn beginnen müssen, und wieder wäre sie am Ende zu der Stelle gekommen, wo die Baum in meine Arbeitszimmer geht und zu lesen beginnt, und die Geschichte hätte ein viertes Mal angefangen ..."

Nicht nur praktisch, auch theoretisch ist Wolf Haas mit allen Wassern postmoderner Konzepte gewaschen. Nicht von ungefähr heisst der Protagonist seines Metaromans Benjamin Lee Baumgartner in Anlehnung an den Linguisten Benjamin Lee Whorf, dessen sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese von der sprachlichen Abhängigkeit der Weltsicht die postmoderne Theoriebildung von der Unhintergehbarkeit sprachlicher Strukturen massgeblich mitbestimmte. Haas weiss das alles, drückt es uns aber nicht demonstrativ aufs Auge, sondern spielt mit diesen Theoriemodellen, zu denen auch das Lügnerparadox oder Tarskis Forderung einer strikten Trennung zwischen Objekt- und Metasprache gehören, ein vergnüglich leichtes Spiel. Denn eingebettet sind alle diese Versatzstücke in die amüsante Liebesgeschichte besagten Benjamin Baumgartner, der - obwohl sein Vater entgegen der Behauptung seiner Mutter gar kein Indianer war - dem Chief Bromden aus Einer folg über das Kuckucksnest verblüffend ähnlich sieht - sich immer dann in eine Frau verliebt, als gerade eine Seuche ausbricht (BSE in London, Vogelgrippe in Peking, Schweingrippe in Santa Fee), was ihn zur fixen Idee verleitet, seine Verliebtheit löse jeweils eine solche Epidemie aus. Das ist im Prinzip schon die ganze Geschichte, die vor allem von Wolf Haas' unvergleichlich witzigen Dialogen und Sprachspielen lebt - und hier zusätzlich von einem ausgeklügelten Antinarrativ.