Dieser
Roman ist ein so frischer und frivoler Altersroman, dass man es erst
gar nicht glauben will, dass der Autor ihn im hohen Alter von 75
Jahren, das heißt unterdessen vor gut 40 Jahren, geschrieben hat.
Keine einzige Zeile klingt verstaubt. Auch heute nicht. Vielmehr
zeichnet sich der Text durch eine narrative Vitalität und
erzählerische Verve aus, die seinesgleichen sucht. Der Roman
besticht nicht durch hohen Stil, sondern durch eine klare, flüssige
Erzählweise, die keine Experimente wagt, sondern von solider
Könnerschaft zeugt. Kein Satz ist missglückt, auch wenn nicht jeder
Satz zwingend notwendig erscheint. Das einzige, was man dem Buch
vorwerfen könne, sind gewisse Längen und Dehnungen.
Zum
Inhalt: Jean Barbe, ein 60jähriger Unternehmer und Produzent von
Qualitätsknöpfen, beschließt vor der befürchteten Sozialisierung
des Arbeitsmarktes seine Firma zu verkaufen und endlich das
›eigentliche‹
Leben zu führen: »Ich
will endlich einmal zu mir selbst kommen! [...] Das Eigentliche,
danach dürstet mich. Das uneigentliche Dasein, mein bisheriges,
lohnt sich nicht mehr, seitdem Produktivität Schinderei der
Arbeitnehmer, Besitz Diebstahl, kurz: seitdem der Inhalt meiner
Existenz, nach einem bereits allgemein geteilten Urteil, Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen ist.«
Auf
seinem Gang in das neue freie Leben begegnet er aber just dem jungen
Marxisten Ferdinand Malis, einem Studenten, den er als Fahrer für seine
Reise in den Süden anheuern will. Obwohl Malis von Barbe nachhaltig
irritiert, ja sogar abgestoßen ist, geht er den Deal ein, weil es
für ihn erstens eine willkommene Gelegenheit ist, die Trennung von
seiner Freundin zu verschmerzen, zweitens den kapitalistischen
Klassenfeind einer Realanalyse zu unterziehen und last but not least auch deshalb, weil - Ironie - ein ordentliches Gehalt winkt.
Was
wir als Leser somit serviert bekommen, sind seine »Beobachtungen
an einem Kapitalisten«, zumal Malis im 19. Kapitel auch auf relativ spektakuläre Weise
als neuer Erzähler eingeführt wird, nachdem die Geschichte zunächst durch eine personal an
Barbe gebundene Erzählstimme wiedergegeben wurde. Es kommt
deshalb, in dem ansonsten schnörkellosen Text zu einer auffälligen
metanarrativen Bruchstelle, an der Malis als Erzähler das Wort ergreift:
»Ich bin es, der jetzt hier die
Feder führt; im Einverständnis mit dem Autor werde ich mich
bemühen, daß der Leser
auf eine ihn nicht ärgernde, bequeme Weise erfahre, wie ich Barbe
kennenlernte und welche Rolle dieser Sechzigjährige in meinem Leben
spielen sollte.«
Es
gehört als zum Kniff der Erzählanlage, dass der Kapitalist Barbe
aus der Optik des Jungmarxisten Malis geschildert wird. Während
Barbe zu Beginn als eher tolpatschiger und weltfremder Kauz in
Erscheinung tritt (was ür allerhand slapstickartige Episoden
sorgt), gewinnt er aus der Perspektive von Malis vermehrt großtuerische Züge, die dennoch nicht frei von Verschrobenheit
sind. Im Gegenteil: Barbe erweist sich als geradezu kapriziöser,
impulsiver, ja obsessiver (und darüber hinaus auch hochgradig
erotomaner) Charakter, dessen Eigentümlichkeiten in der besonderen
Vorliebe für Bidets gipfelt.
Im
Bidet sieht er (auch für den Mann!) das Wahrzeichen der körperlichen
Hygiene. Von dieser Ansicht lässt sich Malis am Ende ebenso
überzeugen, wie er den wortreich dargebrachten Argumenten des
Kapitalisten Barbe über den Egoismus als Triebkraft der menschlichen
Natur streckenweise recht geben muss. Die Geschichte endet mit der
Bilanz: »Ich fürchte,
geblieben ist die Einsicht in seine einmal so hart geäußerte
Meinung, daß wir uns alle
viel gleichgültiger seien als wir es uns eingestehen wollten, und
daß es die eigenen
Interessen seien, die unser Fühlen, Denken und Handeln bestimmten,
wie bewußt oder unbewußt
auch imer wir diese verbrämten.«
Der
Roman ist jedoch alles andere als ein theoretischer Schlagabtausch
zwischen Kapitalismus und Sozialismus, auch wenn die hin und wieder
vorgebrachten Reden und Gegenreden der Protagonisten etwas stark nach Denkschablone geschrieben sind. Im Vordergrund stehen die skurrile Figur
Barbes und die durch seinen Eigensinn ausgelösten Skandale und
Missverständnisse, gemäß dem von Chamfort vorangestellte Motto: »Der Eigensinn
vertritt den Charakter ungefähr so, wie das Temperament die Liebe
vertritt.«
Es
ist eine Art Pikaroroman in modernem Gewand, hochkomisch, zuweilen
derb, wie es sich für dieses Genre gehört (ein Höhepunkt bildet
der kollektive Puffbesuch im Khedive mit anschließender Prügelei).
Und natürlich scheint im Zweigespann vom närrischen
Barbe und seinem
mitschreibenden Begleiter Malis auch das literarische Vorbild von Don
Quijote und Sancho Pansa durch. Gleich zu Beginn des Romans wird
zudem ein anderer, sehr deutlicher intertextueller Verweis gesetzt,
wenn fast beiläufig gesagt wird, Barbe habe sein Knopfgeschäft von
der Familie »Bouvard und Pécuchet« übernommen.
Wie
diese beiden Antihelden bei Flaubert ausziehen, um alle
Wissenschaften zu erkunden, so lässt Barbe alles hinter sich, um
sich in bare Leben zu stürzen. Während die beiden Kopisten Bouvard
und Pécuchet am Ende ihres Kursus jedoch wieder enttäuscht in die Schreibstube zurückkehren, endet Barbes Ausflug tödlich: Er wird,
Opfer seines überschäumenden Lebens- und Liebestriebs, in Tunesien
aus Rachsucht niedergestochen von der schönen Fatima. So findet eine
groteske Existenz ihren grotesken Abgang...
Auch
wenn sich Barbe – steckt in diesem Namen vielleicht eine Kurzform
von Barbar? – oft als Wüstling oder Soziophat verhält,
faszinierend am Roman ist, dass er in keiner Sekunde unsympathisch
wirkt, vielleicht gerade weil er im Grunde eine erzarchaische Figur
ist, ein Saftkerl wie viele Schelme der Weltliteratur, die Dinge an- und aussprechen, die man sich gemeinhin nicht zu sagen wagt. Beispiel gefälligst: »Acht Tage
Enthaltsamkeit, wem platze da nicht der Sack!«