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Sonntag, 12. April 2020

Walter Vogt: Der Vogel auf dem Tisch (1968)


Der Kurzroman handelt davon wie der Buchhandlungsgehilfen Johannes Lips in den Wahnsinn schlittert. Lips wird als Figur am Rande der Zeit und Gesellschaft vorgeführt, der sich vor allem mit Büchern umgibt, weshalb er von verschiedenen Seiten gemahnt wird, es mit dem Lesen nicht zu übertreiben. Es gab einmal einen Junker aus La Mancha, der ebenfalls durch übermäßiges Lesen den Verstand verloren hat. Tatsächlich ist Lips aber nachgerade eine papierne Existenz: ein Buch in Person, das aus lauter Zitaten besteht.

Da er sich ganz in seiner Gedankenwelt verliert, fühlt er sich länger je mehr von seinen „Gedankenvögeln“ bedroht. Vogt spielt an verschiedenen Stellen mit der umgangssprachlichen Redewendung „einen Vogel haben“ für den Zustand der Verrücktheit. Lips besitzt aber tatsächlich einen echten ausgestopften Vogel, der auf seinem Schreibtisch steht und ihn mit seinen Glasaugen anstarrt. (Und offenbar auch Schuldgefühle weckt, weil er dem Vogel früher mit seinen Schulkameraden den Kopf umgedreht hat.) Sinnigerweise handelt es sich um einen Seidenschwanz, der auch als „Sterbevogel“ bekannt sei: „Wer ihn sieht, muß sterben.“

Dieser Vogel kündet als steinerner Gast gewissermaßen bereits Lips Schicksal an, der sich von allen Vögeln des Naturhistorischen Museum verfolgt fühlend in der Aare ertränken will, aber gerettet wird und im Glauben, er sei der heilige Franziskus, ins Irrenhaus kommt, wo er nach einer Elektroschocktherapie - „vrdammggfäärlich – abrvrdammt humaan“ - wieder entlassen wird, sich darauf aber in der Dusche entleibt. Auch dieser Ort ist symbolisch, weil Lips unter einem permanenten Waschzwang leidet.

Schauplatz ist Bern, weshalb zahlreiche Einsprengsel in Dialekt vorkommen. Obwohl es sich um eine Erzählung mit tragischem Ende handelt, bleibt der Tonfall eher humoristisch bis grotesk. Zudem wechselt die Erzählstimme von einer auktorialen in eine Ich-Perspektive, womit vermutlich die schizoide Spaltung narrativ verdeutlicht werden soll. Auch temporal vollzieht die Erzählung eine Schlaufe, insofern der Rutsch in den Wahnsinn als Binnengeschichte erzählt wird, gerahmt vom Irrenhaus-Aufenthalt. Vielleicht handelt es sich auch nur um eine Rückerinnerung, des erzählenden Ich.

Speziell hervorzuheben ist außerdem die doppelte Mise-en-abyme, als Lips in der Auslage seiner Buchhandlung ein Buch mit demselben Titel „Ein Vogel auf dem Tisch“ im selben Verlag (Lukianos Verlag von Hans Erpf) und derselben Geschichte entdeckt und die Verkäuferin zudem exakt die Stelle im Buch lobt, die davon handelt, wie Lips das Buch über sich selbst entdeckt.

Sonntag, 16. April 2017

Martin Kessel: Die Schwester des Don Quijote (1938)

Vom kulinarischen Verhalten entspricht das Lesefrüchtchen denjenigen, die sich vom Gemüse allmählich zum Filet hinfressen. Diese Eigenart bringt leider mit sich, dass die wirklich schmackhaften Stücke oft zugunsten leichter Kost liegen bleiben. Eben kürzlich hat das Lesefrüchtchen einen Stapel entdeckt, auf dem sich längst vergessene Leckerbissen sedimentiert haben: Samuel Beckett, Albert Drach, H.P. Lovercraft, Harry Mathews oder auch Thomas Kapieleskis Volumenroman Je dickens, destojewski. Statt sich aber endlich ans Eingemachte zu wagen, futtert sich das Lesefrüchtchen weiterhin durch Gelegenheitslektüren. So auch geschehen im jüngsten Fall: Obwohl der Großroman Herrn Brechers Fiasko von Martin Kessel im Visier war, wich es auf die viel schmalere Erzählung Die Schwester des Don Quijote aus. Aber immerhin: eine weitere Don Quijotiade.

Im Unterschied zur offenbar weitaus opulenteren Romanprosa Kessels handelt es sich bei der Geschichte um eine Künstlernovelle von fast klassischem Zuschnitt und formvollendeter Erzählkunst. Literarische Vorbilder sind unverkennbar Fontane und Thomas Mann, über den Kessel auch promoviert hatte. Wie Lothar Müller in seinem glänzenden Nachwort betont, fällt die Novelle merkwürdig aus der Zeit. Obwohl im modernen, motorisierten und elektrifizierten, Berlin spielend, verhandelt die Geschichte unter Ausschluss jeglicher zeithistorischer Bezüge den romantischen Konflikt des Künstlers zwischen Lebenswirklichkeit und Werkideal. Reminiszenzen an den Maler Frenhofer bei Balzac oder E.T.A Hoffmanns Johannes Kreisler werden wach, die auf existentielle Weise mit ihrem Kunstwerk verstrickt sind.

Im Zentrum der Erzählung steht denn auch ein Gemälde, dessen Sujet, wie es gleich zu Beginn heisst, „über den Rahmen hinausweist“ auf das dahinter liegende Schicksal. Das Bild trägt den Titel Die Schwester des Don Quijote und zeigt einen Frauenakt vor dem Spiegel, aus dem zwei markante Augen entgegenblicken. Sie gehören der neurasthenischen Salonschönheit Saskia Sorell, die für den Maler Schratt zum Inbegriff dessen wird, was er „die Dame“ nennt: eine im mondänen Verblendungszusammenhang lebende Gesellschaftsdame, die zum „Vexierbild ihrer Spiegelnatur“ wird. Kurz: Ein weiblicher Don Quijote der High Society. Die Antipode zur diesem Frauentypus ist die Haushälterin Agnes Veitzuch, ein neugieriges, linkisches Weibsbild, bei dem der Maler zur Untermiete wohnt. Zu beiden Frauen gerät der Maler in eine verhängnisvolle Abhängigkeit, die sich auch auf dem Gemälde manifestiert. Das Konterfrei der Veitzuch schleicht sich schemenhaft in den Hintergrund des Spiegelporträts und verdoppelt so die Spiegelung nochmals. Auch das natürlich ein zutiefst romantisches Motiv.

Lange Zeit scheint der Maler an diesem Gemälde zu scheitern. Zum einen hindert ihn die leidenschaftliche Zuneigung zu seinem koketten Modell an der Vollendung, zum anderen die vormundschaftliche Art der Haushälterin, die heimlich bereits Besitzansprüche an dem Bild anmeldet, in der Hoffnung, dass der baldige Erfolg des Künstlers sie für ihre Umtriebe entschädigen könne. So ist Schratt zwischen Begehren auf der einen und häuslicher Observation auf der anderen Seite gefangen. In einem dramatischen Akt entlädt sich sein Konflikt auf dem Gemälde, das ihm nicht gelingen will: Er zieht einen roten Querstrich mitten durch das gemalte Gesicht der Haushälterin im Hintergrund, die sich von der Exekution in effigie auch persönlich getroffen fühlt. Schliesslich triumphiert die Kunst aber über das Leben. Während die porträtierte Sorell in einer Nervenheilanstallt in Italien landet, verfällt die Veitzuch dem letalen Wahnsinn und haucht ihren letzten Odem in den Armen des konsternierten Künstlers aus.

Die Krise kündigte sich schon lange vorher an durch den Gestank von verbrannter Milch, der wie ein „milchig brenzliche[r] Trauer- und Begräbinisgeruch“ das ganze Haus durchströmte und „unvertreibbar“ schien. Von diesem unheilvollen Vorzeichen drängt das Geschehen immer stärker zum finalen Ereignis in der Silvesternacht, das für den Künstler zum Sieg der Kunst, für die beiden Porträtieren allerdings zum Verhängnis wird. Auf diese dramatische Weise ist seit den Konjunkturen der Romantik nicht mehr um die Kunst gerungen und gelitten worden. Wohl unfreiwillig bekommt die Erzählung dadurch einen fast parodistischen Zug. Mit dem Maler Theo Schratt aufersteht nochmals eine romantische Künstlerfigur, die sich im Kontext der Moderne und ihren zahlreichen Ismen (in der Erzählung durch die Kunstrichtung des „Trilogismus“ kurz anzitiert) bloß mit erheblichen Kollateralschäden behaupten kann. Selbst die geplante Italienfahrt, der klassische Topos der künstlerischen Bildungsreise, endet mit einer typischen Erfahrung der Moderne: mit einem Autounfall.

In dieser seiner ersten Autofahrt erlebt Schratt gewissermaßen auch die Ästhetik der Moderne, wie sie Tommaso Marinetti paradigmatisch im Manifest des Futurismus beschreibt – und zwar nicht zufällig auch am Beispiel einer rasanten Autofahrt. Der Rausch der Geschwindigkeit, wie sie die moderne Technik ermöglicht, soll auch in der Kunst zu neuen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen führen. Mehr noch inszeniert Marinetti den Autounfall zu einem natalen Akt, aus dem der neue Mensch und seine radikal neue Ästhetik hervorgeht. Während der Fahrt lernt Schratt zwar auch den Rausch der Geschwindigkeit kennen, der ihn sogar in eine Art „Wachtraum“ versetzt. Er zieht daraus aber ebenso wenig ästhetische Konsequenzen wie aus der darauffolgenden Carambolage. Vielmehr wertet er ihn als geradezu schicksalhaftes Zeichen, das ihn wieder in die Fänge der Haushälterin zurückwirft.

Wohl auch deshalb, weil der Unfall just in dem Moment erfolgt, als ihm die Bedeutung des Hintergrundes generell, insbesondere aber die Hintergründigkeit seines Gemäldes klar wird. So setzt eben der romantische Künstler nicht sein eigenes Leben aufs Spiel, sondern ergötzt sich an der abstrakten Schönheit des Todes. Dieses romantische Ideal der schönen Leiche ist jedenfalls die Erkenntnis, die Schratt am Ende ereilt: „Leichnam und Schönheit“. Darin erblickt er die „Größe der Kunst“: „Denn nur, wer die Schönheit von Grund auf errichtet, aus Finsternis, Wollust und Sterngeäder der Nacht, nur der ist ihr Schöpfer.“ Besser hätte es auch Detlev Spinell, der große Verehrer der Todesschönheit, nicht formulieren können.

Mittwoch, 29. März 2017

Wolfgang Koeppen: Jugend (1976)

Wolfgang Koeppen (1906-1996) gilt als wichtiger Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur. Anstatt aber der zeittypischen Kahlschlagästhetik zu folgen, hat er neue sprachliche Ausdrucksformen erprobt. Auch der spätere, nach einer längeren Schreibpause vorgelegte Prosatext Jugend (der Text trägt keine konkrete Gattungszuweisung) folgt einer experimentellen Erzählweise. Sie zeigt sich allein schon in der – im Impressum eigens erwähnten und damit besonders markierten – eigenwilligen Interpunktion, welche die mehrfach gebrochenen Gedankenbilder und Erinnerungsschlieren syntaktisch verfugt. Marcel Reich-Ranicki zieht auf dem Klappentext Vergleiche zu Joyce, Dos Passos und Döblin. Man könnte zudem auch Der Tod des Vergils von Hermann Broch nennen – wie Jugend ebenfalls ein gewaltiger innerer Monolog. Bei Koeppen handelt es sich um eine ältere männliche Erzählstimme im Rückblick auf die während dem Ersten Weltkrieg verlebte Jugendzeit, die keine sein durfte: „Jugend galt nicht“.

Beim Titel Jugend erwartet man entweder ein Coming-of-Age-Geschichte oder ein Erinnerungsbuch. Koeppens Jugend gehört also zur zweiten Kategorie. Erinnert wird wie bei Marcel Proust - der mit seiner mémoire involonaire offensichtlich Pate gestanden hat - eine verlorene Zeit. Bereits die ersten Seiten beschwören den Lauf der „sichtbar verrieselnden Zeit“. Und auch am Ende des Buchs wird die verflossene Zeit erwähnt, die sich aber „in dem Gedächtnis in irgendeiner Zelle“ des Erzählers sedimentiert habe und dort reaktiviert werden kann. Diese Vorstellung einer körperlich inkarnierten Zeit entwickelt auch Proust am Ende der Recherche à la temps perdu. Bei Koeppen handelt es sich jedoch nicht nur um eine verlorene Zeit, sondern auch um ein verlorenes Paradies, wie ebenfalls gleich zu Beginn deutlich gemacht wird: „Meine Mutter fürchtete die Schlangen.“ Mit der Präsenz von Schlangen ist auch die Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr weit.

Tatsächlich weint die genannte Mutter den verflossenen Glanzzeiten ihrer Familie nach. Eine Nostalgie, die ihr Sohn (der Erzähler) nicht teilen kann, und schon damals als Kind nicht teilen wollte. Im Gegenteil: Vielmehr wünschte er der Stadt seiner Herkunft – die unschwer als Rostock identifizierbar ist – die Schlangen nachgerade auf den Hals. Sein Paradies ist denn auch nicht die durch den ersten Weltkrieg zerrüttete Heimat, sondern das Kino, „das Jugendlichen verbotene, schwarzweiße Paradies“. Doch wie schon Adam im biblischen Paradiese, so gehen dem Erzähler im Kino die Augen auf. Es ist ihm als würde er „die Frucht vom Baum der Erkenntnis essen“. Er entdeckt im Lichtspiel den „Schrein der Wahrheit“ und sieht im Dunkeln des Kinosaals „zum erstenmal die Wirklichkeit“. Was da durch die „Sternenstaubbahn“ des Projektors auf die Leinwand flimmert, besitzt einen höheren Wirklichkeitswert als die verlogene Propaganda, welche die Schrecken des Krieges zugunsten der nationalen Glorie konsequent wegzuleugnen sucht.

Als Knabe erlebt der Erzähler die blinde Verehrung, die Bismarck entgegenschlägt, als er die Lange Strasse von Rostock entlang promeniert. Andererseits kennt er auch die ausgeblendete Wirklichkeit: die Niederlage in Verdun, die Kriegskrüppel, die vielen Toten. Ein starkes Fieber rettet den 14jährigen in der Militärschule davor, selber mit an die Front ziehen zu müssen. In einer Art Delirium auf der Krankenstation in der leeren Kaserne vermischt sich die Kriegsrealität mit dem eigenen inneren Kampf gegen die nationale militärische Vereinnahmung. Auch im Fiebertraum sieht er in einer Art visionärem Rausch eine höhere „Wahrheit“ hinter dem „Trugbild der Welt“.

Vermutlich gibt es keinen Roman, der nicht mit einem kleinen Wink wenigstens auf die Mutter aller Romane, auf Cervantes Don Quijote, anspielt. So bezeichnet sich auch der namenlose Ich-Erzähler bei Koeppen einmal als „Ritter von der traurigen Gestalt“. Fügt jedoch an: „Das war lustig.“ Er spielt den Narren bloß. Anders als Don Quijote lebt er nicht in einer verklärten Phantasiewelt, sondern verlacht im Gegenteil die falschen Illusionen der Nachkriegsgesellschaft: „Ich fand sie komisch, wie sie die Augen zusammenkniffen, die Stirn in strenge Falten legten, die eiserne Zeit des Krieges beschworen und die Toten vergessen hatten.“ Gemeinsam mit einem Hypnotiseur spielt er auch „Jesus“, doch geht daraus freilich kein Heilsversprechen hervor. Geschildert wird eine ganz und gar heillose Welt und eine von Anbeginn hoffnungslose Existenz: ohne Jugend und ohne Zukunft. Zum Schluss heuert der Erzähler auf einem Schiff  an und verschwindet. Was aus ihm wurde, bleibt ungewiss.

Dienstag, 21. März 2017

Robert Walser: Jakob von Gunten (1909)

Auch wenn das Lesefrüchtchen der bedingungslosen Walser-Verehrung, die jede Mikrogramm-Kapriole als neuen Geniestreich feiert, mit bedenklicher Skepsis begegnet – eines muss man lassen: Jakob von Gunten (1909) ist ein grandioser Roman, der in einer Linie steht mit Klassikern der Moderne wie Melvilles Bartleby, dem Buch der Unruhe von Pessoa oder Flauberts Bouvard & Pecuchet. Alle diese Bücher warten mit scheiternden, sich verweigernden oder zurückziehenden Antihelden auf, von denen vordergründig auch Jakob einer ist. Erklärt er doch gleich zu Beginn, er wolle im Leben nichts anderes als eine zierliche, kugelrunde Null“ werden. Die fast schon provokative Nonchalance, mit der dieser invertierte Karrierewunsch geäußert wird, lässt aber bereits erahnen, dass es mit Jakobs Bescheidenheit nicht weit her ist, und sich vielmehr ein ausgewaschenes Grossmaul hinter der Parole der Selbstverkleinerung verbirgt.

Der im Untertitel als „Tagebuch“ deklarierte Roman schildert aus der Sicht von Jakob seinen Eintritt und Aufenthalt im Institut Benjamenta, einer merkwürdigen und ziemlich maroden Knabenschule, die ihre Glanzzeiten längst hinter sich hat. Jedenfalls erfährt der Leser mit der ersten Zeile, dass die Zöglinge dieses Instituts fast nichts lernen, weil alle Lehrer entweder fort, tot oder am Schlafen sind. Der Unterricht, der aufgrund der absenten Lehrerschaft von der Schwester des Vorstehers gehalten wird, beläuft sich auf inhaltsleere Exerzitien, die entfernt an monastische Meditationsrituale erinnern. Mit Eintritt von Jakob gerät die Organisation gänzlich aus den Fugen und das Institut geht seinem Untergang entgegen: „Du bist der letzte Schüler gewesen. Ich nehme keine Zöglinge mehr an“, sagt der Vorsteher, bevor er am Ende die Pforten schließt.

Wenn nicht unbedingt eine apokalyptische, so ist Jakob doch eine ganz und gar subversive Figur, die sich lustvoll über die gesellschaftlichen und institutionellen Schranken hinwegsetzt. Für Irritationen sorgt bereits, dass er sich, obwohl (wie er mehrfach betont) aus vornehmen Hause stammend, in der Knabenschule zum Diener ausbilden will. Er wählt also vorsätzlich, doch nur vordergründig einen sozialen Abstieg auf subalterne Stufe, denn insgeheim kokettiert er mit einer mondänen Existenz, wie sie sein Dandy-Bruder, der Künstler Johann, in der Großstadt verwirklicht. So legt Jakob auch im Institut öfters ein hochmütiges, ja freches Gebaren zu Tage, eigens um den Vorsteher zu provozieren. Doch anstatt zum Konflikt kommt es schließlich zu einer Art Verbrüderung zwischen ihm und seinem Schüler. Das Buch endet mit dem Bild, wie beide gemeinsam in die Wüste ziehen: „Ich war immer der Knappe, und der Vorsteher war der Ritter.“ Unverkennbar zeichnet sich da die Silhouette von Don Quijote mit seinem Begleiter Sancho Pansa ab. So liest sich der Roman rückwärts auch als eine moderne Donquijotiade. 

Jakob von Gunten ist Robert Walsers dritter und – im Vergleich mit den beiden Vorgängern – merklich surrealster Roman. Nicht allein, weil er sich einer konventionellen Handlungsführung relativ konsequent verweigert. Mit dem Institut Benjamenta scheint man auch eine Parallel- oder Traumwelt zu betreten, in der die gewohnte Alltagslogik außer Kraft gesetzt wird. Tatsächlich hintersinnt sich Jakob mehrmals, ob er nicht etwa alles nur träume, mehr noch kommt ihm sein „ganzer hiesiger Aufenthalt wie ein unverständlicher Traum“ vor. Unverständlich ist vieles, aber zugleich alles auch ungeheuer bedeutungsschwanger. Allein die zahlreichen biblischen Sub- und Intertexte rufen geradezu nach einer Interpretation. Doch vielleicht ist man am besten beraten, wenn man es wie Jakob mit seinen Träumen hält: „Ah bah, laß das Deuten.“ Auf der anderen Seite ist der Roman wieder so durchtrieben komponiert, dass wohl tatsächlich nichts unbedeutend ist und selbst dem scheinbar belanglosen Detail ein Sinn abzugewinnen wäre. Wie auch immer: Auf jeden Fall handelt es sich um jene Kategorie von Romanen, die nie ausgelesen werden können, weil sie bei jeder Lektüre wieder neue Einsichten eröffnen.

Samstag, 25. Februar 2017

Joseph Breitbach: Das blaue Bidet oder das eigentliche Leben (1978)

Dieser Roman ist ein so frischer und frivoler Altersroman, dass man es erst gar nicht glauben will, dass der Autor ihn im hohen Alter von 75 Jahren, das heißt unterdessen vor gut 40 Jahren, geschrieben hat. Keine einzige Zeile klingt verstaubt. Auch heute nicht. Vielmehr zeichnet sich der Text durch eine narrative Vitalität und erzählerische Verve aus, die seinesgleichen sucht. Der Roman besticht nicht durch hohen Stil, sondern durch eine klare, flüssige Erzählweise, die keine Experimente wagt, sondern von solider Könnerschaft zeugt. Kein Satz ist missglückt, auch wenn nicht jeder Satz zwingend notwendig erscheint. Das einzige, was man dem Buch vorwerfen könne, sind gewisse Längen und Dehnungen.

Zum Inhalt: Jean Barbe, ein 60jähriger Unternehmer und Produzent von Qualitätsknöpfen, beschließt vor der befürchteten Sozialisierung des Arbeitsmarktes seine Firma zu verkaufen und endlich das ›eigentliche‹ Leben zu führen: »Ich will endlich einmal zu mir selbst kommen! [...] Das Eigentliche, danach dürstet mich. Das uneigentliche Dasein, mein bisheriges, lohnt sich nicht mehr, seitdem Produktivität Schinderei der Arbeitnehmer, Besitz Diebstahl, kurz: seitdem der Inhalt meiner Existenz, nach einem bereits allgemein geteilten Urteil, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist.«

Auf seinem Gang in das neue freie Leben begegnet er aber just dem jungen Marxisten Ferdinand Malis, einem Studenten, den er als Fahrer für seine Reise in den Süden anheuern will. Obwohl Malis von Barbe nachhaltig irritiert, ja sogar abgestoßen ist, geht er den Deal ein, weil es für ihn erstens eine willkommene Gelegenheit ist, die Trennung von seiner Freundin zu verschmerzen, zweitens den kapitalistischen Klassenfeind einer Realanalyse zu unterziehen und last but not least auch deshalb, weil - Ironie - ein ordentliches Gehalt winkt.

Was wir als Leser somit serviert bekommen, sind seine »Beobachtungen an einem Kapitalisten«, zumal Malis im 19. Kapitel auch auf relativ spektakuläre Weise als neuer Erzähler eingeführt wird, nachdem die Geschichte zunächst durch eine personal an Barbe gebundene Erzählstimme wiedergegeben wurde. Es kommt deshalb, in dem ansonsten schnörkellosen Text zu einer auffälligen metanarrativen Bruchstelle, an der Malis als Erzähler das Wort ergreift:

»Ich bin es, der jetzt hier die Feder führt; im Einverständnis mit dem Autor werde ich mich bemühen, daß der Leser auf eine ihn nicht ärgernde, bequeme Weise erfahre, wie ich Barbe kennenlernte und welche Rolle dieser Sechzigjährige in meinem Leben spielen sollte.«

Es gehört als zum Kniff der Erzählanlage, dass der Kapitalist Barbe aus der Optik des Jungmarxisten Malis geschildert wird. Während Barbe zu Beginn als eher tolpatschiger und weltfremder Kauz in Erscheinung tritt (was ür allerhand slapstickartige Episoden sorgt), gewinnt er aus der Perspektive von Malis vermehrt großtuerische Züge, die dennoch nicht frei von Verschrobenheit sind. Im Gegenteil: Barbe erweist sich als geradezu kapriziöser, impulsiver, ja obsessiver (und darüber hinaus auch hochgradig erotomaner) Charakter, dessen Eigentümlichkeiten in der besonderen Vorliebe für Bidets gipfelt.

Im Bidet sieht er (auch für den Mann!) das Wahrzeichen der körperlichen Hygiene. Von dieser Ansicht lässt sich Malis am Ende ebenso überzeugen, wie er den wortreich dargebrachten Argumenten des Kapitalisten Barbe über den Egoismus als Triebkraft der menschlichen Natur streckenweise recht geben muss. Die Geschichte endet mit der Bilanz: »Ich fürchte, geblieben ist die Einsicht in seine einmal so hart geäußerte Meinung, daß wir uns alle viel gleichgültiger seien als wir es uns eingestehen wollten, und daß es die eigenen Interessen seien, die unser Fühlen, Denken und Handeln bestimmten, wie bewußt oder unbewußt auch imer wir diese verbrämten.«

Der Roman ist jedoch alles andere als ein theoretischer Schlagabtausch zwischen Kapitalismus und Sozialismus, auch wenn die hin und wieder vorgebrachten Reden und Gegenreden der Protagonisten etwas stark nach Denkschablone geschrieben sind. Im Vordergrund stehen die skurrile Figur Barbes und die durch seinen Eigensinn ausgelösten Skandale und Missverständnisse, gemäß dem von Chamfort vorangestellte Motto: »Der Eigensinn vertritt den Charakter ungefähr so, wie das Temperament die Liebe vertritt.«

Es ist eine Art Pikaroroman in modernem Gewand, hochkomisch, zuweilen derb, wie es sich für dieses Genre gehört (ein Höhepunkt bildet der kollektive Puffbesuch im Khedive mit anschließender Prügelei). Und natürlich scheint im Zweigespann vom närrischen Barbe und seinem mitschreibenden Begleiter Malis auch das literarische Vorbild von Don Quijote und Sancho Pansa durch. Gleich zu Beginn des Romans wird zudem ein anderer, sehr deutlicher intertextueller Verweis gesetzt, wenn fast beiläufig gesagt wird, Barbe habe sein Knopfgeschäft von der Familie »Bouvard und Pécuchet« übernommen.

Wie diese beiden Antihelden bei Flaubert ausziehen, um alle Wissenschaften zu erkunden, so lässt Barbe alles hinter sich, um sich in bare Leben zu stürzen. Während die beiden Kopisten Bouvard und Pécuchet am Ende ihres Kursus jedoch wieder enttäuscht in die Schreibstube zurückkehren, endet Barbes Ausflug tödlich: Er wird, Opfer seines überschäumenden Lebens- und Liebestriebs, in Tunesien aus Rachsucht niedergestochen von der schönen Fatima. So findet eine groteske Existenz ihren grotesken Abgang...

Auch wenn sich Barbe – steckt in diesem Namen vielleicht eine Kurzform von Barbar? – oft als Wüstling oder Soziophat verhält, faszinierend am Roman ist, dass er in keiner Sekunde unsympathisch wirkt, vielleicht gerade weil er im Grunde eine erzarchaische Figur ist, ein Saftkerl wie viele Schelme der Weltliteratur, die Dinge an- und aussprechen, die man sich gemeinhin nicht zu sagen wagt. Beispiel gefälligst: »Acht Tage Enthaltsamkeit, wem platze da nicht der Sack!«