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Mittwoch, 19. März 2025

André Pieyre de Mandiargues: Das Motorrad (1963)

Der 1909 in Paris geborene Mandiargues gehörte zum Umkreis der Surrealisten rund um André Breton, mit dem er eine enge Freundschaft pflegte. Doch dieser relativ späte Roman weist, abgesehen von einigen Traumsequenzen und der Schilderung einer abgründig perversen Leidenschaft, kaum mehr surrealistische Züge auf. Im Gegenteil: Der Erzählton ist eher klassisch-gediegen und von einer , das Erzähltempo gedrosselt, was dem Motiv der rasanten Motorradfahrt diametral entgegen steht. So als hätte Thomas Mann eine Road Novel geschrieben. Vom Flair wiederum ist der Roman ein typisches Kind der 1960er Jahre, was sich auch daran zeigt, dass er erstaunlich rasch verfilmt wurde - der Streifen kam 1968 ins Kino mit Marianne Faithfull, der Ikone der Swinging Sixties, in der Hauptrolle. Ein Jahr später knatterten die Easy Rider Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson über die Leinwand.

Die Geschichte handelt von einer Amour fou, von einer jungen, 19jährigen Frau namens Rebecca, die sich in ein gefährliches Liebesspiel verwickelt. Der Roman beginnt damit, dass die frisch Verheiratete verfrüht aus einem Traum erwacht und kurzerhand beschliesst, das Ehebett zu verlassen, sich nackt die schwarze Lederkombination überzieht und auf ihr Motorrad steigt, um - wie 12 Tage zuvor schon - zu ihrem Liebhaber nach Deutschland zu fahren. Von ihm, einem an Esoterik interessierten Kunden ihres Vaters, der eine Buchhandlung führt, hat sie dieses Motorrad als Hochzeitsgeschenk bekommen, nachdem er vor der Hochzeit nächtens in ihr Hotelzimmer und schliesslich wie ein Inkubus auch in sie eingedrungen ist. Seither bindet sie ein magischer Bann an diesen mysteriösen Mann, den sie als ihren "Tigergott" verehrt und ihm absolut unterwürfig ergeben ist. Auf der Motorradfahrt zu ihm verfällt sie etappenweise in Tagträume und Reminiszenzen, an die sexuelle Initiationen.

Das führt zu einem eigentümlichen erzähltechnischen Effekt: Trotz der rasenden Geschwindigkeit, mit der Rebecca auf ihrem Motorrad unterwegs ist, zögert sich ihre Ankunft ständig hinaus: "die Zeit entschlüpft ihrem Blick". Sie befindet sich auf dem Weg in eine zeitlose, transzendente Sphäre. In ein Nirwana. Am Ende wird sie auch gar nicht ankommen, sondern tödlich verunglücken. Die Fahrt voraus führt somit zurück in die Vergangenheit: Wie seitlich die Häuser an Rebecca "wie eine Folge kleiner Träume" vorbeiziehen, so ziehen auch die Erinnerungsbilder an ihrem inneren Auge vorüber. Dabei verschmilzt sie zusehends mit ihrer Maschine zu einem "vollkommenen Ungetüm", gibt sich dem vibrierenden Motor unter ihren Schenkel mit derselben Ergebenheit, wie sie sich auch ihrem Liebhaber unterwirft. Die rauschhafte Fahrt steigert sich zu einem transluziden Zustand, der schliesslich im letalen Crash als der ultimativen Form der Ekstase und Erleuchtung mündet.

Ein Motiv, das man sowohl aus Marinettis Futuristischem Manifest als auch aus J.G. Ballards Crash oder John Hawkes Travestie kennt. Mandiargues führt dem eine esoterische Ebene hinzu: Der Liebhaber, Daniel Lionart, entpuppt sich als Swedenborgianer, als Anhänger des Schwedischen Mystikers und Theosophen Emanuel Swedenborg, und scheint mit spirituellen Ritualen vertraut. Er erscheint Rebecca in seinem Morgenmantel als "Priester einer sonderbaren Religion". Allerdings erinnern die zuweilen brutalen Exerzitien, die er an Rebecca vornimmt, eher an sexualmagische Praktiken eines Aleister Crowley als an Swedenborgs Lehre von der göttlichen Weisheit und Liebe. Die letale Motorfahrt lässt sich hingegen als Allegorie der Swedenborgischen Metaphysik lesen, derzufolge der irdische Körper als rein äussere Hülle im Moment der Aufweckung abgestreift werde, um in die rein geistige Welt überzugehen. So mündet der Roman denn auch mit einer kosmischen Auflösung: "Ein übermässiges lächelndes Antlitz wird sie verschlingen [...], ein menschliches, übermenschliches Antlitz, das letzte, vielleicht das eigentliche Antlitz des Alls."

Dass es sich bei diesem Gesicht lediglich um das Werbebild des Lastwagens handelt, in den Rebecca mit Vollgas donnert, ist die bittere Pointe des Romans. Es handelt sich um einen Weintransporter mit einem aufgemalten lachenden Bacchus auf der Plane. Allegorisch steht natürlich auch dieser Weingott für dionysischen Rausch und Ekstase, freilich weitaus profaner als es die von Swedenborg indoktrinierte Rebecca zum Zeitpunkt ihres Todes wähnt. Vor ihrem Crash kippte sie mehrere Gläser Kirschwasser in einer Kneipe.

Dienstag, 27. August 2024

John Hawkes: Travestie (1976)

Ein Buch, das einen von der ersten Seite an fraglos und unmittelbar fesselt. Und das obschon die gesamte Erzählanlage hochgradig unrealistisch ist. Handelt es sich doch um einen einzigen langen Monolog, in Echtzeit vorgetragen, und zwar am Steuer eines mit Hochgeschwindigkeit fahrenden Autos. Auf dem Nebensitz befindet sich ein renommierter Lyriker, der nicht nur ein Verhältnis mit der Frau des Autofahrers, sondern auch mit dessen Tochter einging, die sich hinten auf dem Rücksitz verkriecht und aus Todesangst irgendwann übergeben muss. Der Fahrer nimmt beide mit auf eine letale Amokfahrt durch die Nacht mit dem erklärten Ziel, den Wagen am Ende mit allen Insassen gegen die Mauer einer alten Scheune prallen zu lassen und damit seine "private Apokalypse" herbeizuführen. Ein acte gratuit, wie der Fahrer selber zugibt, absurd und sinnlos: "was jetzt geschieht, muss jedem, ausser vielleicht den Insassen des zerstörten Wagens, unsinnig erscheinen".

Das literarische Motiv ist durch den Futurismus vorgeprägt. Tommaso Marinetti schildert im ersten Futuristischen Manifest eine ebenso waghalsige Autofahrt, die letztlich auch im (schier tödlichen) Unfall mündet, aus dem der Fahrer, aber - gestählt durch seinen Wagemut - als neuer Mensch hervorgeht. Der Crash als schöpferischer Akt und als Wiedergeburt. Einen ähnlich (pro)kreativen Effekt verspricht sich der Fahrer von dem nächtlichen Todesritt, den er mit dem Liebhaber seiner Frau und Tochter unternimmt. Nicht Eifersucht sei sein psychologisches Motiv, wie er beteuert, auch nicht Rache oder Strafe. Aus der schier endlosen Suada, die der Monolog- und Autoführer von sich gibt, geht sein Motiv zwar nicht restlos hervor, dafür umso deutlicher seine Perversionen. Insbesondere lässt sie tief blicken, was seinen Hang zum Sadismus betrifft.

Gleich zu Beginn bekennt er, ihn habe als Jugendlicher nichts so sehr fasziniert, wie verstümmelte Leichenbilder und Pinups. Die Kombination von Gewalt und Erotik hat ihn schon früh geprägt. Ihren Höhepunkt erreicht sie in der Affäre mit Monique, die er eines Abends mutwillig übers Knie legt und verdrischt, aus Revanche dann von ihr ungleich brutaler mit dem Gürtel gezüchtigt wird, was ihn aber zur Erkenntnis führt, dass "im Sadismus Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung" liege. Im Vergleich zu diesem Flagellantismus stellt die Todesfahrt für ihn die ultimative Ekstase dar, nachdem er jahrelang die Affäre des Lyrikers mit seiner Frau und Tochter nicht nur toleriert, sondern auf seine perverse Art auch gefördert und mitverfolgt hat, nur um alle (auch sich selbst) im entscheidenden Augenblick auszulöschen.

Weshalb aber heisst der schmale, von Jürg Laederach bravourös ins Deutsche übertragene Roman "Travestie"? Als literarisches Verfahren versteht man darunter die komische Verfremdung eines klassischen Stoffes. In diesem Fall ist es das bürgerliche Eifersuchtsdrama, das hier karnevalesk verkehrt wird. Keine heimlichen Liebschaften, kein offenes Duell unter Ehrenmännern, sondern eine perverse (und das heisst auf lateinisch wörtlich: verkehrte, also travestierte) und von langer Hand orchestrierte menage à quatre, die ihre Erfüllung im Kollektivtod finden soll. Als Schlüsselerlebnis gibt der Fahrer ein "Vorkommnis in [s]einem frühen Mannesalter" an, als er blindwütig auf einen älteren Herrn mit einem Mädchen lossteuerte, und das er "eine Art Travestie, mit einem Wagen, mit einem alten Lyriker und mit einer jungen Frau" bezeichnet, also eine direkte Vorwegnahme dessen, was er im Begriff ist, gerade nochmals aus- und diesmal auch: zu Ende zu führen.

Der Roman endet tödlich, zumindest mit dem "Versprechen": "Es wird keine Überlebenden geben. Keine."