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Montag, 9. Oktober 2023

Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters (1978)

Wenn Du einen Brief aus der Klinik bekommst, der möglicherweise ein letale Diagnose enthält, würdest Du ihn öffnen, um Gewissheit zu haben? Ein interessantes Gedankenexperiment. Der Protagonist aus Gustafssons Buch entscheidet sich dagegen.

Dieser fünfte und letzte Teil aus Lars Gustafssons Roman-Pentalogie Risse in der Mauer geht von einer ähnlichen Ausgangslage aus wie die ein Jahr später erschienene Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän von Max Frisch. In beiden Fällen handelt es sich um Aufzeichnungen sozial entfremdeter, sterbender Männer, um Endzeit-Monologe. Während sich bei Frisch ein Rentner namens Geiser in den hintersten Winkel eines Tessiner Bergdorfs zurückzieht, ist es bei Gustafsson der frühpensionierter Lehrer Lars Lennart Westin, von allen nur 'Wiesel' genannt, der im schwedischen Hinterland von Vertrana ein einsiedlerisches Leben führt und sich der Bienenzucht widmet. Beide leben sie alleine und getrennt von der menschlichen Gesellschaft und sehen sich in ihrer Einsamkeit nochmals mit den zentralen Fragen des Lebens und des Menschseins konfrontiert.

Geiser leidet unter fortschreitender Demenz und versucht sein Wissen, das erodiert wie draussen der Erdboden aufgrund heftiger Unwetter, auf unzähligen Zetteln festzuhalten. Westin hingegen laboriert, wie man gleich Zu Beginn erfährt, an einem tödlichen Krebsgeschwür, das ihm zuweilen heftige Schmerzen verursacht, einen tiefen, "weissglühenden" Schmerz. Er selber kennt die Ursache seiner Schmerzen nicht, da er sich weigerte, den Brief vom Krankenhaus mit der Diagnose zu öffnen. Stattdessen bleibt er lieber im Ungewissen und benutzt den Brief als Fidibus für seine Pfeife. Eine letztlich zwar letale, dennoch aber glückliche Entscheidung. Denn Westin hat die "Pause", die ihm vor seinem Tod noch vergönnt war, wie er selber meint, "gut genutzt". Er findet im Kampf mit dem Schmerz immer mehr zu sich selbst, während sich Geiser in seinem Bergdorf immer stärker abhanden kommt. Nicht allein darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen den von der Ausgangsidee ähnlichen Texten.

Einen Roman in konventionellen Sinne kann man Der Tod es Bienenzüchters nicht nennen. Er präsentiert sich vielmehr als Nachlass-Konvolut verschiedener Hefte mit verstreuten Einträgen: Es gibt ein gelbes, ein blaues und ein beschädigtes Notizbuch, aus denen der als Herausgeber fungierende Lars Gustafsson in loser Reihenfolge Auszüge unter sprechenden Kapitelüberschriften zusammenstellt. Die Farbterminologie der Notizbücher erinnert an die Diarien eines anderen grossen Schweden: August Strindberg nannte seine (erst postum publizierte) Notizensammlung das 'Blaubuch' und bezeichnete es als die "Synthese seines Lebens". Das gilt nun auch für Westins Aufzeichnungen in besonderem Maße: Angesichts des nahen Todes zieht er nochmals Bilanz über seine Existenz im Persönlichen wie im Allgemeinen. Er übt sich in der ars moriendi, wobei er eine gänzlich neue Praxis für sich reklamiert: "Oder vielleicht ist es eine neue Art des Sterbens, die ich gerade erfinde?" Genau genommen ist es keine Sterbekunst, sondern vielmehr die "Kunst, Schmerzen zu ertragen" - eine Kunstart mithin, "deren Schwierigkeitsgrad so hoch ist, daß es niemanden gibt, der sie ausübt." Außer Westin.

Westin, der zeitlebens zu wenig gewollt hatte, sich zu wenig 'wirklich' fühlte, findet nun im Schmerz zu einer Art ekstatischer Erfahrung, die er einem paradiesischen Zustand gleichsetzt, in dem Lust- und Schmerzempfinden in einander übergehen. Der Schmerz "ist ein Reich, in dem endgültige Wahrheit herrscht." Weil der Schmerz nichts anderes als real ist. In einer an die Akademie von Lagado (aus Gullivers Reisen von Jonathan Swift) angelegten Parabel entwirft Westin die Utopie einer "Welt, in der die Wahrheit herrscht". Die Bewohner dieser Welt kommunizieren nicht mit Sprache oder Symbolen, sondern mit den Gegenständen respektive Handlungen selbst. Sie sagen es nicht, sondern tun es direkt, was sie mitteilen wollen. Zwei Konsequenzen resultieren daraus: Zum einen, sind Lügen nicht möglich, zum anderen bleibt der Horizont dessen, was überhaupt ausgedrückt werden kann, beschränkt. Einen Begriff von 'Welt' kann es in dieser Utopie nicht geben, weil die Welt als solche müsste aufgeboten werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Schmerz: Auch er ist absolut real, echt und ohne Falschheit und entzieht sich letztlich jedem sprachlichen Zugriff.

Hier macht sich der Sprachphilosoph Gustafsson bemerkbar, der - im selben Jahr wie Tod eines Bienenzüchters - über das Thema "Sprache und Lüge" habilitierte und dabei neben Fritz Mauthner und Alexander Bryan Johnson auch Friedrich Nietzsche behandelte. Dessen Einfluss zeigt in einer anderen, weitaus kühneren Utopie in Westins Notizheften. Anders als Nietzsche, dessen Zarathustra den Tod Gottes verkündete, entwirft Westin eine Parabel vom erwachenden Gott. Gott ist nicht tot, er schläft nur 20 Millionen Jahre lang tief und fest in einem fernen Winkel des Universums und kümmert sich nicht um seine Schöpfung, bis eines Tages seltsame Klänge an sein Ohr dringen. Gott wacht auf und bemerkt, dass es sich um Gebete der Menschen handelt. Sofort eilt Gott herbei, hilft den Bedürftigen, sorgt für ewigen Frieden und soziale Gerechtigkeit und liest den Menschen alle heimlichen Wünsche von den Lippen. Mit dem Effekt, dass die ganze Welt in Saus und Braus aufgeht. Es wird fröhlich pokuliert und kopuliert, es herrschen Zustände wie in Sodom und Gomorrha. Der Beweis für die Güte und Allmacht Gottes ist erbracht, jedoch ganz zum Ärger des Klerus und der Kirche, die sich die göttliche Obhut gänzlich anders ausgemalt haben. Weshalb sie das Volk dringend dazu aufrufen, weniger zu beten, damit die katholische Welt nicht noch mehr aus den Fugen gerät.

Wie in der Geschichte des Großinquisitors bei Dostojewski sieht die Kirche ihre Vormachtstellung auch hier durch die Realpräsenz des Göttlichen bedroht - und will es lieber wieder aus dem Weg schaffen. Gustafssons Parabel endet jedoch nicht mit dem Sieg der Kirche, sondern sie mündet wiederum in die Sprachlosigkeit. Die Erfüllung aller Wünsche durch Gott führt zu einem Dasein, "für das keine Worte gab" und es "begann das Sterben der Sprache". Das utopische Ideal einer Welt ohne Lüge und grenzenlosem Glück ist für Gustafsson nur als Bereich jenseits der Sprache denkbar. Das gilt für das Paradies ebenso wie für die göttliche Offenbarung. Wo sich die Sprache dazwischen mischt, da entstehen Missverständnisse und es kommt zu Konflikten. Obwohl Westin seinen Schmerz als einen  Zustand kat exochen erlebt, will er sich ihm doch nicht ergeben, sondern er kämpft täglich dagegen an. Sein Credo lautet: "Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf." Er erweist sich dadurch als ein spezieller Typus eines Atheisten: Er negiert nicht Gott, sondern stellt sich ihm als Antithese entgegen: "Wenn es einen Gott gibt, ist es unsere Aufgabe, nein zu sagen." Und Westins nachgelassene Aufzeichnungen stehen unter dem dezidierten Vorsatz, "ein großes, deutliches Nein zu sein".