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Sonntag, 14. Oktober 2018

Oskar Panizza: Eine Mondgeschichte (1890)


Die Menschheit ist seit jeher vom Mond fasziniert, der immer auch Spekulationen über die Bewohner dieses Gestirns evozierte. Bereits Plutarch verfasste einen Traktat über das vermeintliche Mondgesicht, wie sich auch die Literatur der phantastischen Mondreisen bis auf die Antike zurückführen lässt. Eine der skurrilsten Mondgeschichten stammt jedoch aus der Feder von Oskar Panizza, dem späteren Skandalautor, der gegen Staat und Kirche polemisierte. In diesem Zusammenhang notorisch bekannt geworden ist vor allem sein Stück Das Liebeskonzil (1894), das ihm ein Jahr Gefängnis wegen Blasphemie einbrachte. Bei der Mondgeschichte, 1890 im Verlag von Georg Müller erschienen, handelt es sich um den längsten zu Lebzeiten erschienene Text Panizzas.

Geschildert wird in der Ich-Form der Augenzeugenbericht eines jungen Studenten in Leyden, der nächtens aus Liebeskummer aufs offene Feld flüchtet und dort beobachtet, wie erst der Mond sich ruckartig bewegt, scheinbar auf die Erde gezogen wird und dort von einem Mann vergraben wird. Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, folgt der Student dem Mann, klettert hinter ihm eine Strickleiter hinauf, die bis in den Himmel zu führen scheint. Die Luft wird immer dünner, bis er schließlich in einer runden Baracke ankommt, die weit über der Erde schwebt. Zwei Monate lang hält sich der Student dort versteckt und observiert das seltsame Treiben in dem Gehäuse, von dem er annimmt, dass es sich um den von der Erde her vertrauten Mond handeln muss.

Bewohnt ist die schwebende Holzkugel vom einem keifenden Ehepaar mit zwölf Kindern. Sie ernähren sich ausschließlich von Käse, weshalb ihre Gesichter selbst schon ganz rund und gelblich sind. Nach und nach stellt sich heraus, dass der Mondmann einmal im Monat, nachdem ihm die Sonne die äußere Pechhülle des Hauses versengt hat, auf die Erde hinuntersteigt und dabei die brennende Pechschicht mitnimmt, um sie auf einem Feld zu begraben. Gleichzeitig nutzt er den Aufenthalt auf der Erde, die er mit seiner Familie den „großen Käse“ nennt, um sich mit Proviant (ausschließlich holländischer Käse) und Gebrauchsgegenständen versorgt, die er nachts unbemerkt mitlaufen lässt.

Das alles klingt natürlich phantastisch genug, doch der Erzähler versucht mit allen Mitteln die Glaubwürdigkeit seiner Erlebnisse zu beteuern. Der Text ist deshalb mit zahlreichen Authentizitätssignalen – darunter auch ein frühes Beispiel (vor Joyce, Schnitzler und Virginia Woolf!) einer Gedankenstromtechnik – ausgestattet, was mitunter zu umständlichen Erklärungen und einer Detailversessenheit führen, die aber alle im Dienst stehen, das Erzählte als wahr erscheinen zu lassen. Zuletzt versteigt sich der Student in eine waghalsige Theorie, der Mond sei nichts anderes als ein Räubernest, wo sich seit den Assyrern ein Zigeunergeschlecht eingenistet habe, um nicht entdeckt zu werden. Was wir von der Erde als Mond wahrnehmen sei bloß der Korb eines ungeheuren Ballons, mit dem die Zigeuner von der Erde geflohen sind und der jetzt als Trabant um die Erde kreist.

Auch diese Theorie wird in aller Ausführlichkeit und mit allen möglichen Einwänden vorgebracht und erwogen. In dieser Mischung zwischen absoluter Phantastik und pseudo-wissenschaftlicher Genauigkeit der Darstellung liegt der Reiz des Textes, der durch eine geschickte Leserführung überdies nie an Spannung einbüßt. Ganz offensichtlich stand – der einmal sogar namentlich erwähnte – Edgar Allan Poe (bzw. dessen Erzählung über die Abenteuer von Hans Pfaall) Pate für diese phantastische Reise zum Mond.