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Donnerstag, 6. November 2025

Mary Shelly: Frankenstein (1818)

Eine passende Lektüre für Halloween: Frankenstein - neben Bram Stokers Dracula ist das der Horrorklassiker schlechtweg. Und oft wird das Monster mit seinem Schöpfer verwechselt. Denn im Unterschied zu Dracula ist Frankenstein nicht der Name der schaurigen Kreatur, sondern ihres Erschaffers: des jungen Schweizer Naturwissenschaftlers Victor Frankenstein aus Genf. Aus dessen Perspektive wird, vermittelt durch den Abenteurer Robert Wilson, die Geschichte mit epischem Atem erzählt: Wie er aus faustischem Erkenntnisdrang die Grenzen des zulässigen Wissens überschreitet, mit dem Geheimnis des Lebens experimentiert und schliesslich Opfer seiner eigenen Schöpfung wird, nachdem er sich angewidert von ihr abgewandt hatte. Nur wenige Minuten, nachdem sein Wesen, belebt durch den "Funken des Seins", "das trübe gelbe Auge" öffnet, erfüllen "Abscheu und atemloses Grauen" Frankensteins Herz, als er die missgebildete Kreatur erblickt: "Unfähig, den Anblick des Wesen zu ertragen, das ich erschaffen hatte, floh ich aus dem Labor." (53) Doch das Monster wird ihn in einem erbitterten Kampf bis ans Ende der Welt verfolgen, um sich an ihm für seine unglückliche Existenz zu rächen.

Während Frankenstein über Monate hinweg seelenruhig "in Grüften und Beinkammern" (46) Leichen untersucht, ohne dabei auch nur den geringsten Schauer zu empfinden, schlägt sein Erfinderstolz beim Anblick seines Geschöpfs augenblicklich in abgrundtiefe Abscheu um: "aber nun, da mein Werk vollbracht war, verblasste der schöne Traum, und Abscheu und atemloses Grauen erfüllte mein Herz" (53). Während er Leichen als bloss "leblose Körper" (46) betrachtet, hat er es nun mit einer lebendigen, ja gar mit einer "dämonischen Leiche", nämlich einer "erneut zum Leben erwachten Mumie" (54) zu tun. Rühmte er sich zuvor, dass nie ein "übernatürlicher Schrecken" (46) seinen Verstand getrübt habe, verlässt ihn angesichts seines Geschöpfs jedwede rationale Fassungskraft, die ihn überhaupt erst jene Erfindung machen liess. Das Produkt naturwissenschaftlicher Spitzenleistung wird in einem Atemzug zu einer Ausgeburt der Hölle. Dieser drastische Gesinnungsänderung mag übertrieben und psychologisch unplausibel wirken. Diegetisch erklärt sie aber, weshalb sich das Geschöpf von Anbeginn verstossen und ungeliebt empfindet. Anders als Viktor kann es auf keine behütete Kindheit und "liebevollere Eltern" (28) hoffen, da es von seinem Schöpfer von Anbeginn nicht akzeptiert wird, nicht als "Adam", sondern als "gefallener Engel" behandelt wird (103).

Gerade diese harsche Zurückweisung lässt die künstlich aus Leichenteilen zusammengesetzte Gestalt böse werden (und schliesslich Frankensteins jüngerer Bruder Wilhelm ermorden) - zumindest der eigenen Darstellung zufolge, die im zweiten Teil des Romans ausführlich geschildert wird. Wie das Monster seine eigene Hässlichkeit erkennt, wie er sich deshalb vor den Menschen verbirgt, sie heimlich aber beobachtet und dadurch nicht nur Sprechen, sondern auch Lesen lernt. Zufällig findet er ein Büchlein mit Die Leiden des jungen Werthers, dessen Lektüre ihm die eigene tragische Situation vor Augen führt: Ihm fehlt eine Partnerin, mit der er glücklich sein könnte, weshalb er von Frankenstein fordert, "eine Kreatur des anderen Geschlechts" zu erschaffen: "so monströs wie ich selbst" (158), um nicht länger gesellschaftlich isoliert zu sein: "Überall sehe ich Glückseligkeit, von der ich unwiderruflich ausgeschlossen bin. Ich war gütig und gut. Nur das Elend liess mich böse werden. Mach mich glücklich und ich werde erneut tugendhaft sein." (103)

Das alles erfährt der Leser in dritter Instanz: Es gehört zum erzähltechnischen Kniff des Romans (aber auch zu seiner besonders verschachtelten Architektur), dass er im Bericht von Wilson einen Binnenbericht enthält: Wilson gibt wieder, was Frankenstein ihm erzählte, darunter auch, was das Monster diesem wiederum erzählte - alles in direkter Rede, als würden die Betroffenen selbst sprechen. Dadurch gewinnt die Erzählung an unmittelbarer Lebensnähe und manchmal unterläuft der Autorin tatsächlich, dass sie die komplexe Erzählanlage vergisst und direkt in eine Ich-Perspektive kippt. Zugleich steht durch diese Erzählanlage andererseits die Verlässlichkeit dieser Berichte fortlaufend in Frage. Frankenstein erzählt Wilson seine Geschichte, als er schon halbwegs im Wahnsinn liegt, während er zugleich die Redlichkeit seiner Kreatur in Zweifel zieht, ihn als Lügner und Schönredner bezichtigt und ihm deshalb auch seinen Wunsch verweigert, ein weibliches Pendant zu erschaffen.

Nach dieser erneuten Abfuhr schwört ihm das Monster Rache und droht, bei seiner Hochzeitsnacht zu erscheinen, um ihn im Gegenzug an seinem eigenen Glück zu hindern (186). Diese Drohung hallt in Frankenstein nach (210, 213), weshalb er die Heirat zum Unverständnis seiner Verlobten Elisabeth hinauszögern will. Frankenstein erkennt, dass er zum "Sklaven seiner Schöpfung" (168) geworden ist, sich mit dem missglückten Menschenexperiment eine persönliche Nemesis geschaffen hat, ein "Unhold", ein "Dämon" (75), ein "Teufel" (221), der nicht ruhen wird, bis er selbst ins Unglück stürzt. Als schliesslich die Hochzeit herannaht, ist das Monster auch zur Stelle und erwürgt Frankensteins Verlobte. An diesem Punkt folgt der dialektische Umschlag: In seiner Verzweiflung startet nun Frankenstein einen blindwütigen Rachefeldzug gegen sein Geschöpf und verfolgt es zunächst entlang der Rhône bis hinauf in die Polargegend. Mit einer Besessenheit, wie sie später nur Kapitän Ahab kennt, jagt Frankenstein seinen "Feind" (230) durch die Eismeere - und zweifellos liess sich Herman Melville durch die Schilderung dieser schrecklichen Schneewüste zu seinem "Weissen Wal" inspirieren.

Gemessen an heutigen Sehgewohnheiten kann der Roman nur bedingt als Horror-Roman gelten. Wer ihn unter dieser Erwartung liegt, wird aufgrund seines langen epischen Atems zwangsläufig enttäuscht. Auch wenn die Idee eines lebendigen Leichnams, eines Zombies avant la lettre, damals schockierend gewesen sein musste und die Schilderung des mordenden Monsters furchteinflössend und Frankensteins Grabschändungen durchaus gruselig, dominieren im Roman nicht die Schockmomente, sondern die psychologische Situation, die durch die personale Erzählweise umso dringlicher erscheint. Spürbar ist das insbesondere dort, wo der Überschwall emotionaler Rede sich disproportional zur relativ simplen Plotstruktur verhält. In dieser sprachlichen Weitschweifigkeit handelt es sich letztlich auch um einen rhetorischen Roman. Von Frankensteins Beichte bis hin zum Schlussmonolog des Monsters als Märtyrer stehen grosse, emotionsgeladene Reden im Vordergrund, die - dem Drama nicht unverwandt - der Erzählung letztlich ihre Dramatik verleihen.

Der Roman erlebte eine leicht überarbeitete Neuauflage 1832. Doch den anhaltenden Weltruhm bescherte ihm ein Jahrhundert später die Verfilmung mit Boris Karloff in der Rolle des Monsters. Seine Maske mit dem kantigen Kopf und der Narbe an der Schädeldecke sowie den Elektroden am Hals hat sich tief ins kulturelle Gedächtnis eingegraben. Doch mit der Romanvorlage hat der Film und alle weiteren Sequels wie Frankensteins Braut (1935), Frankensteins Sohn (1939), Frankensteins Haus (1944) usw. nur noch sehr wenig zu tun. Der gravierendste Unterschied besteht darin, dass im Film dem künstlichen Menschen unwissentlich das Hirn eines Massenmörders eingepflanzt wurde, er also ab ovo zum Gewaltverbrecher bestimmt ist, während der Reiz des Romans gerade in der moralischen Frage liegt: Ist die Kreatur genuin böse oder ist sie es durch seine Lebensumstände und die soziale Ausgrenzung erst geworden. Das Monster selbst stellt sich auf den zweiten Standpunkt, allein seine Aufrichtigkeit wird von Frankenstein mehrmals in Zweifel gezogen. Mehr noch attestiert er seinem Geschöpf eine Persuasionskraft und stempelt es also zum unzuverlässigen Erzähler. Doch wie zuverlässig ist Frankenstein selbst, der seine Geschichte bereits halb im Wahnsinn mitteilt? Aus diesen Unschärfen seiner komplexen Erzählsituation zieht der im Grunde simpel gestrickte Roman seine Stärken.

Die Entstehungsgeschichte ist ebenso legendär wie das von der nur knapp 19jährigen Mary verfasste Buch selber. Gemeinsam mit ihrem späteren Gemahl Percy Shelley, ihrer Stiefschwester Claire Clairmont und deren Liebhaber, dem notorischen Dandy-Dichter Lord Byron, sowie seinem Leibarzt John Polidori verbrachte sie die Sommermonate 1816 in der Villa Diodati in Genf, die heute noch existiert, sich aber in Privatbesitz befindet. Das Jahr 1816 ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein, da die klimatischen Verhältnisse durch einen Vulkanausbruch in Indonesien erheblich gestört waren. Die Atmosphäre verdüsterte sich, die Temperaturen sanken und viele heftige Gewitter gingen über dem Genfer See nieder, so dass die englische Gruppe mehrheitlich gezwungen war, sich im Innern aufzuhalten, wo sie zur Zerstreuung eine französischsprachige Sammlung deutscher Gespenstergeschichten lasen: die Fantasmagoriana, in Deutschland unter dem Titel Gespensterbuch von Johann August Apel und Friedrich Laun herausgegeben. Der Regisseur Ken Russell hat die Begebenheit in seinem Film Gothic (1986) in schwülstigen Bildern imaginiert, die sich mancher verbürgter Versatzstücke bedienen, aber insgesamt wenig mit der historischen Realität zu tun haben.

Auf einen Vorschlag von Byron sollen alle eine eigne Gruselgeschichte verfassen: Polidori schreibt in der Folge die Erzählung The Vampyre, die Bram Stoker später zu seinem Dracula inspirieren wird, und Mary legt einen ersten Entwurf zu Frankenstein vor, der zwei Jahre später in Buchform erscheinen wird: mit einer Widmung an ihren Vater William Godwin, doch anonym, ohne Angabe der Verfasserin, da ihr der Stoff wohl zu kühn erschien und es für Frauen um 1800 ohnedies nicht einfach war als Autorinnen akzeptiert zu werden. Tatsächlich äussert sich ein Kritiker der Quarterly Review entsetzt über das "Wirrwarr aus grauenvollen und abscheulichen Absurditäten" und fragt sich am Ende, "ob das Hirn oder das Herz des Autors das kränkere" sei. In der zweiten, überarbeiteten Auflage von 1831, die dann unter ihrem vollen Namen Mary Wollstonecraft Shelley erschien, schildert die Autorin in der Vorrede ausführlich die Entstehungsgeschichte des Romans im Juni 1816, die seither mit zu seinem Renommee massgeblich beigetragen hat. 

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Die Urfassung. Aus dem Englischen neu übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Düsseldorf: Artemis & Winkler Verlag, 2006.


Montag, 21. Juli 2025

Ann Cotten: Verbannt! Versepos (2016)

Versuch einer kurzen Zusammenfassung: Eine "sehr begabte Fernsehmoderatorin" (49) hat die Tochter Lena ihrer Kollegin verführt (oder sich von ihr verführen lassen), worauf die Mutter einen Prozess anstrebt, der indes wieder fallen gelassen wird, weil die Motive Lenas (angeregt durch zu viel "exquisite Manga-Seiten") an dem Getechtel unklar waren. Stattdessen heckt die Tochter den Plan für eine neue Reality-TV-Sendung aus: "Verführ den Moderator" (22), in der das Ziel ist, die Moderatorin mit allen Mitteln rumzukriegen. Durch den Druck schlittert die Moderatorin in ein seelisches Ungleichgewicht und in einen liederlichen Lebenswandel, so dass sie für die Sendung untragbar wird. Von Lena vor die Wahl gestellt: Entweder eine freiwillige Burstvergrösserung oder ab auf die Verbannungsinsel Tantalos (23), entscheidet sich die Moderatorin für letzteres und darf als einzige drei Dinge mitnehmen: ein Schleifstein, ein Messer und ein 22bändiges Meyer-Konversationslexikon aus dem Jahr 1910. Die unfreiwillige Robinsonade kann beginnen. Wobei, freiwillig sind Robinsonaden ja nie.

Auf der Insel angekommen denkt die Moderatorin zunächst darüber nach, Bier zu brauen, bevor eine niederfallende Kokosnuss sie auf die Idee bringt, es mit dieser Paradiesfrucht zu versuchen. Doch es nähert sich ein Tiger, weshalb die Moderatorin rasch auf die Palme flüchtet. Sogleich erklingt ein lauter Knall. Die Moderatorin vermutet eine Atomexplosion bzw. erwartet einen Sturm, der nicht eintritt, was die Moderatorin an sich selbst zweifeln lässt: "Wie angeschlagen ist mein Selbstvertrauen" (57). In ihrer Sinnkrise denkt sie darüber nach, die Zeit zurückzudrehen: "Ich scratche Wirklichkeit" (47). Dieser Wirklichkeits-Scratch erfolgt schon sehr bald nach drei längeren Exkursen über das Wetter (die Wolken), die Psyche und die Seele. Wobei es sich vielmehr um einen Wirklichkeits-Glitch handelt: Was bislang zwar ziemlich skurril, aber nicht gänzlich unrealistisch anmutete, kippt auf die phantastische Ebene, als mit Wonnekind der Bürgermeister der Insel auftritt, die er "Hegelland" nennt. Dort leitet er eine Gruppe ehemaliger Quäker an, die in der Verehrung der Schraube eine neue Religion gefunden haben.

Die Gruppe publiziert drei Zeitungen, die als Illustrationen von Ann Cotten auch abgebildet sind: die rechtskonservative N-Presse (das N steht für "naiv"), die postmoderne Zy-Presse und das satirische Wisch-Blatt. In allen drei Zeitungen geht es Frauen, welche sich die ziemlich notgeile Truppe herbeisehnt. Schon bald soll auf der Insel von Frauen nur so wimmeln. Denn es erfolgt eine Metamorphose, welche die Geschichte nun vollends im Phantastischen ansiedelt. Der Moderatorin wächst ein Geweih, ein "Riesenpimmel" (73) sowie ein Fischschwanz und transformiert sich in eine Mischung von Götterbote Hermes und Wolpertinger, beides zwei mythologische Wesen, denen man hohe Wandelbarkeit nachsagt. Doch damit nicht genug: Bald stellt sich heraus, dass die Hoden dieses Wesens tief ins Erdreich wurzeln und mit dem Internet verbunden sind, es sich also um "Interhoden" (151) handelt. Aus dem Kabel des Netzes entsteigt der Reihe nach, nicht nur der Internetspion Pan Orama (Wortspiel aus dem Bocksgott Pan und dem Begriff "Panorama"), sondern eine Horde Frauen, die aus einer Beautyklinik ins Internet geflüchtet sind, darunter auch Pans alte Geliebte Syrinx, die sich in der Klinik eine Beinprothese machen liess.

Uff. Doch die Absurditätsschraube dreht sich munter weiter: Die Frauen fallen über die Männer her, was Pan verhindern möchte, indem er zu einer Frauenbewegung aufruft, allerdings vergebens: "Er muss seine Vorstellungen vom Feminismus überdenken" (118). Er versucht die griessfressenden Ziegen auf seine Seite zu ziehen, doch Syrinx weiss dies zu verhindern. Pan sucht unterdessen Kontakt zur Umweltschutzgruppe der Kryptomerienfreunde und es stellt sich heraus, dass das Internet pleite ist, weshalb die Frauen nicht mehr zurückgehen können. Es tauchen noch etliche andere Absonderlichkeiten auf, wie eine lesende Eselin, die die gesamte Insel mit Strom versorgt (148), bis die gesamte Geschichte implodiert und in einer lexikographische Passage mit "Seemüll" mündet, die es locker mit Homers berühmten Schiffskatalog aus der Ilias aufnehmen kann. Sie knüpft dabei just an jene Stelle an, bevor die Geschichte ins Phantastische kippte. Bereits dort wurden über mehrere Seiten alle Lemmata mit "See-" aufgeführt, die schliesslich beim Eintrag "Seele" endete (61). Nicht von ungefähr hat die Moderatorin ein Nachschlagewerk mit auf die Insel genommen.

So durchgeknallt der hier nur ansatzweise skizzierte Plot auch klingt, das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Es handelt sich nämlich um keine konventionelle Prosaerzählung, sondern um ein Versepos! Also jenes verstaubte Genre, das um 1900 nochmals kurz von Carl Spitteler oder Theodor Däubler wachgerufen wurde. "wir schreiben in zu ungewohnten Stilen" (15), heisst es zu Beginn, und zwar, genauer gesagt, in der - allerdings nicht überall konsequent angewendeten - "Byronstrophe" (9), besser bekannt als Spenserstrophe, eine nach Edmund Spenser benannte Adaption der italienischen Stanze, der sich die englischen Romantiker, darunter auch Lord Byron, bevorzugt bedienten. Weiter hinten wird die Zeile "Lass die Götter immer ihre Formen wechseln" zitiert, von einem, "den wirklich niemand mehr kennt" (72), nicht einmal das leitmotivische Internet ergibt einen Treffer. Natürlich denkt man sofort an Ovids Metamorphosen, doch im Wortlaut existiert dort diese Zeile nicht. Wahrscheinlich stammt sie von Ann Cotten selbst.

Item, der Seitenhieb soll wohl bloss noch einmal unterstreichen, dass die Autorin mit dem Versepos eine antiquierte Form beerbt - und mit der Spenserstrophe obendrein ein strenges Versmass wählt. Diese doppelte Einschränkung lockert sie jedoch zweifach wieder auf: Formal, indem sie relativ nonchalant damit umgeht und die metrischen Vorgaben insbesondere für allerlei sprachliche Komik nutzt, für erzwungene Reime (Dänen/Migränen, 31; Bienensprache/Karlheinz Strache, 54; Gottverschleiss/Denkergirls und -boys; 72; "Fellationen/Interpretationen", 99), kühne Enjambements ("eher Soß- / e ist die Spezialität", 92; "herg- / ekommen", 99), schräge Vergleiche ("wie eine langverheiratete Luxusnutte / den Flachbildschirm betätigt", 41; "Mein Herz klopft wie ein Geigerzähler in Minamisoma", 54; "erschöpft wie Erdnussflips", 111) und waghalsige Gedankenflüge, bei denen man sich manchmal wundert, wie sie wieder auf sicheren Boden gelangen. Oftmals scheint es so, als diktiere das Versmass den Fortgang des Epos, und nicht umgekehrt, als würde der Inhalt bloss in die vorgegebene sprachliche Form gegossen: "Man findet lieber einen komplett irren Reim, / lässt zu, dass was passiert - passieren muss -, auch wirklich kein / Schwein mehr verstehen kann, weil es nichts zu verstehen gibt" (44).

Das führt zum zweiten Punkt, den Cottens Versepos so zeitgemäss und lebendig macht: Sie konterkariert die hohe Form (genus sublime) durch den frivolen Inhalt und bewirkt mit dieser Kontrafaktur einen weiteren komischen Stilbruch. Doch handelt es sich weniger um eine Parodie, als um eine konsequente Weiterentwicklung, die auch den historischen Vorläufern Tribut zollt: vom anfänglichen klassischen Musenanruf bis hin zu unzähligen intertextuellen Verweisen auf die Meister des Versepos wie eben Homer oder John Milton (149). Mehr noch bietet die antiquierte Form das ideale Gegengewicht für die im Epos formulierte Medienkritik der Gegenwart: Mit Thrash-TV, Boulevard-Presse und Internet figurieren gleich drei dominante, meinungsbestimmende Leitmedien unserer Unterhaltungskultur. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Moderatorin mit einem - ebenfalls aus der Zeit gefallenen - Konversationslexikon von 1910 unterwegs ist und nicht etwa versucht, "alles mittels Wikipedia zu kapieren" (127).

Man muss nicht alles nachvollziehen wollen, was in geballter Form in diesem Epos steckt, das dem Lesefrüchtchen allen Respekt vor dieser atemberaubenden Leistung abverlangt. Das Vergnügen teilt sich allein schon mit, wenn man sich auf den schier grenzenlosen und meist höchst schrägen Phantasiereichtum einlässt, wie er in einem unmotiviert eingeschobenen Minidrama zum Beispiel prägnant zum Ausdruck kommt, das auch ein gutes Muster für die Sprachspielkunst und den absurden Witz der Autorin abgibt: "Aroma-Aria heisst das nächste Stück, und Orama | spielt darin ein in seinen Herrn verliebtes Lama. | Benni erscheint als Engel der Erkenntnis, | erklärend, dass jedwede Ordnung Schändung ist. | Das Lama blökt und masturbiert und emigriert nach Ghana; | der Herr, gespielt von Karma, weint lange und bitterlich, | denn wie sich nun herausstellt, weiss er nicht, | wie sein, wenn niemand an ihn glaubt. Die Ordnung bricht zusammen." (155)

Ann Cotten: Verbannt! Versepos. Mit Illustrationen von Ann Cotten. Berlin: Suhrkamp 2016.

Montag, 27. Januar 2025

Jeanette Winterson: Frankissstein (2019)

Ein Roman für die Gegenwart, der aktuelle Fragen rund um KI, VR, Transhumanismus, Genderfluidität miteinander verquirlt und an die Franksteingeschichte zurückbindet, der Schauergeschichte um die Erschaffung eines künstlichen Menschen. Eine Idee, die die Autorin bereits in ihrem Roman Das Power-Book von 1998 anwandte, wo sie Ovids Metamorphosen und Virigina Woolfs Orlando mit dem Cyberspace in Verbindung bringt. Orlando wird auch in Frankissstein kurz als "erster Trans-Roman" erwähnt. Und auch dort wechseln sich zwei zeitliche Ebenen, eine historische und eine gegenwärtig-erfundene, alternierend ab und überblenden sich punktuell: Die historische Ebene rund um Mary Shelley, wie die Achtzehnjährige 1816 in Gesellschaft ihres Gemahls Percy Shelley, Lord Byron und dem Arzt John Polidori an einem verregneten Tag oberhalb des Genfer Sees die Geschichte von Frankenstein erfindet, die zwei Jahre später für Aufsehen sorgen wird. Der andere Erzählstrang spielt in einer leicht zukünftigen Gegenwart: Auch hier steht eine Mary Shelley im Zentrum, die sich aber Ry nennt, weil sie sich zum Mann umwandeln liess. Das heisst: Sie nimmt Hormone, verzichtete aber auf einen operativen Eingriff, so dass sie halb Frau, halb Mann ein Zwitterwesen darstellt.

Ry Shelley ist Arzt und versorgt einen gewissen Victor Stein regelmässig mit frischen Leichen für seine Experimente bei Alcor - einer real existierenden Organisation für sogenannte Kryokonservierung. In einem geheimen Labor in Tunnels unterhalb von Manchester konstruiert er intelligente Prothesen und versucht das Gehirn von Jack Good wieder zu reaktivieren, einem genialen Mitarbeiter Alan Turings, der in Bletchley Park während dem Zweiten Weltkrieg an der Dechiffrierung der Enigma beteiligt war (und später Stanley Kubrick für seinen Film Space Odyssey beraten hat.) Victor Stein tritt somit als postmoderner Wiedergänger Frankensteins auf, der mit seinem Monster ebenfalls künstliches (und damit ewiges) Leben schaffen wollte. Zwischen Stein und Ry Shelly entspannt sich eine "Liebesgeschichte" - so auch der Untertitel des Romans. Die Frage, wie Liebe im transhumanen Zeitalter beschaffen sein wird, wenn der Mensch nur noch mit Sexbots interagiert oder lediglich als Gehirn-Upload - als "iHead" - auf einer Cloud existiert, durchzieht den Text leitmotivisch, neben der ebenfalls leitenden Frage nach der Realität. Antworten auf diese Fragen finden sich jedoch keine, auch nicht in der Kontrastierung mit dem romantischen Zeitalter Shelleys, das in der Fiktion zumindest den künstlichen Menschen vorwegnahm.

Zumindest gelangt die Erzählung nicht über das Offensichtlichste hinaus, nämlich, dass der Mensch sich von der Maschine durch sein Seelen- und Gefühlsleben unterscheidet, auch wenn diese Erkenntnis in einem originellen Vergleich mitgeteilt wird: mit dem Herz einerseits als körperliches Organ, andererseits als emotive Metapher, wobei die Konnotation nicht gegensätzlicher sein könnte, wie eine träfe Bemerkung der beiden Mary Shelleys (in Gegenwart und Vergangenheit) belegt: "Jeder Metzger verkauft einem eines. [...] Das, was am Menschen am meisten geschätzt wird, ist das billigste Fleisch: das Herz." Während der Herzmuskel zum Wertlosen gerechnet wird, steht das Herz als Sprachmarke desto höher in Kurs, wie durch eine Wortspielerei demonstriert wird: "Niemand sagt, ich liebe dich von ganzer Niere. Ich liebe dich mit ganzer Leber. Niemand sagt, meine Gallenblase gehört nur dir. Niemand sagt, sie hat mir den Blinddarm gebrochen." Der Mensch lässt sich weder auf seine Körperlichkeit noch allein auf seinen Geist reduzieren: Seine Existenz entfaltet sich just in der Leib-Seele-Dualität, die durch die künstliche Trennung beider Sphären gerade nicht realisieren bzw. technisch simulieren lässt.

Irgendetwas stört das Lesefrüchtchen an diesem Buch, obschon es ein interessantes Thema aufgreift, fachkundig historisches und technisches Wissen mit Fiktion vermischt, mit witzigen bis kalauerhaften Dialogen aufwartet (siehe eben zitierte Kostprobe) und die Dinge immer wieder durch markante Sätze auf den Punkt bringt. Trotzdem wirkt alles allzu glatt und routiniert, als hätte eine Journalistin den Roman verfasst. Die Geschichte bleibt mehrheitlich an der Oberfläche haften und lässt es trotz vieler historischer Bezüge und Zitate an Tiefe vermissen, die gerade bei dieser philosophisch relevanten Thematik einen weniger plakativen Zugang gefordert hätte. Letztlich bleibt von der ohnehin dünnen Story, die sich hauptsächlich in Sachdiskursen und einer fatiganten Obsession für Sexbots erschöpft, auch nicht viel übrig, sie verpufft am Ende ganz einfach. Auch die Charaktere sind allzu platt und stereotyp geraten. Transgender hin oder her. So vielversprechend und aktuell die gewählten Motive sind, literarisch bleibt die Umsetzung weitgehend enttäuschend und gelangt nicht über ein Mittelmass hinaus.