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Montag, 22. Oktober 2018

Jörg Schröder (erzählt Ernst Herhaus): Siegfried (1972)


Bei Schöffling erscheint diesen Bücherherbst die Neuauflage eines Skandalbuchs, eines Skandalbuch-Klassikers sogar. Es ist – für den Verlag ungewöhnlich – knallgelb und mit fetten Lettern versehen wie man sie nur vom März-Verlag kennt. Denn es handelt sich um das Buch des März-Verlegers Jörg Schröder, mit dem er im Alter von 34 Jahren so ziemlich mit allen abrechnete, die ihm bislang über den Weg gekommen sind. Und das sind gerade im Kulturbereich nicht wenige, ging Schröder doch bei Kiepenheuer & Witsch in die Lehre, sanierte den maroden Melzer-Verlag, indem er Maurice Girodias Olympia Press an Land zog und mit Der Geschichte der O. einen großen Porno-Markterfolg verbuchen konnte, bis er sich schließlich von Melzer trennte und seinen eigenen März-Verlag gründete, der ein Gütesiegel für harte amerikanische Avantgarde und allerhand queere und schwule Literatur wurde, lange bevor das die universitären Orchideenfächer auch nur am Rande interessiert hätte.

Schröder ist ein cooler Hund und das spielt er in jeder Sekunde dieser Nacherzählung seines Lebens aus. Er hat stets den richtigen Riecher, den Durchblick, die wahre Intuition, während alle anderen um ihn herum Waschlappen und denkfaule Säcke oder einfach bereits von Betrieb verschleißte Figuren sind. Und auf Rang und Autorität pfeift er sowieso. Sein Credo: „Du kommst nur weiter, wenn du es systematisch mit Leuten verdirbst, von denen alle Welt glaubt, daß man es mit ihnen niemals verderben dürfte.“ Schröder ist zudem ein unverwüstlicher Kerl. Im gesamten Buch ist so viel von „Bumsen“, vom „Puff“ und vom „Saufen“ die Rede, dass man bass erstaunt ist, wie er scheinbar nebenher ein erstklassiges Verlagsprogramm auf die Beine stellen konnte. Aber Schröder ist eben immer auf Achse, selbst wenn er im Suff versinkt oder im Spital liegt, wo ihm beinahe ein Bein amputiert werden muss. Noch in dieser prekären Situation schmeißt er den Laden aus dem Krankenlager.

Neben dem mitunter etwas anstrengenden Großsprechertum besticht das Buch durch eine schonungslose Selbstentblößung. So gut wie Schröder gegen alle Seiten austeilen kann, so nimmt er auch sich betreffend kein Blatt vor den Mund. Keine Peinlichkeit oder Intimität lässt er aus, nur dass sie aus seinem Mund keineswegs wie Peinlichkeiten klingen, sondern eben auch Ausdruck des mit allen Wasser gewaschenen Lebemannes sind, der sich keiner falschen Scham bewusst ist. Ein harter Kerl halt, der dem Leben mehr als nur einmal die Stirn geboten hat. Dass Schröder erzählen kann, was er will, ohne dass es peinlich wirkt, liegt neben seinem Habitus auch an seinem brillanten Erzähltalent, seiner pointenreichen und oft auch derben Sprache, mit der er die Dinge beim Namen nennt. Hinzu kommt – neben einem offensichtlich ausgeprägten Selbstbewusstsein – auch eine starke analytische Fähigkeit und ein beneidenswertes Gedächtnis.

Vermutlich gehört es zur hypertrophen Rhetorik dazu, dass Schröder alles aus dem Gedächtnis (an den Schriftsteller Ernst Herhaus) erzählt, denn damit beweist er einmal mehr, dass ihm niemand das Wasser reichen kann. Jedes Detail, alle Zusammenhänge und Befindlichkeiten sind Schröder noch präsent und er versteht es, diese mit einem unbestechlichen Blick einzufangen und einem psychologisch feinem Gespür für situations- oder milieubedingte Faktoren. Es gibt keinen Charakter, den er nicht erbarungslos in seinen individuellen und sozialen Verstrickungen erkennen kann. Zum Beispiel den Standesdünkel des Verlegers Melzer: „Wie die meisten bürgerlichen Juden hatte auch Melzer einen Adelstic, da schmolzen ihm die Eier ab.“ – Hier paart sich grobe Diktion mit einer messerscharfen Beobachtungsgabe.

Siegfried – benannt nach Schröders Onkel – bietet großartige Unterhaltung (man ist mit Schröder immer auf der Seite des lachenden Siegers: insofern ist der Buchtitel sicher auch allegorisch zu lesen) und vor allem ein spannendes Stück Verlagsgeschichte, natürlich aus einer radikal subjektiven Perspektive, die in den wenigsten Fällen für bare Münze genommen werden darf. Das Buch neigt zum Literarischen, wie Schröder auch an einer Stelle erwähnt, dass er anfänglich selber Schriftsteller werden wollte. Darüber kann auch die Koketterie mit der Oral History nicht hinwegtäuschen, derzufolge das Buch mündlich Ernst Herhaus erzählt wurde, der dann alles niedergeschrieben habe. Was auf den ersten Blick wohl als Authentitzitätssignal fungieren soll, kann genauso gut als Herausgeberfiktion gewertet werden.