Die Prager Schriftstellerin Libuše Moníková schrieb zeitlebens auf Deutsch. Im Vergleich zu ihrem eher schmalen Oeuvre nimmt sich der Roman Die Fassade, für den sie den Alfred-Döblin-Preis erhielt, als der umfangreichste aus. Er steht ganz in der Tradition des polyhonen, enzyklopädischen, humorvollen Romans. Die Vorliebe der Autorin für Arno Schmidt oder Jean Paul ist ihm in jeder Zeile anzumerken. Sprachmächtig, fremdwortverliebt, anspielungsreich und mit viel verstecktem und teilweise politisch motiviertem Witz entfaltet sich die Schelmengeschichte rund um ein Künstlerquartett, das im Auftrag des böhmischen Denkmalschutzes die Fassade des Schlosses Litomyšl in der Geburtsstadt Smetanas erneuern muss. Anstatt sich aber an die Renaissance-Vorlage zu halten, gestalten sie die Fresken keineswegs originalgetreu, sondern mit neuen, zuweilen aus der Literatur entliehenen Motiven aus. Zum Beispiel verewigen sie auch Franz Kafkas Prozess auf diese Weise.
Die Palimpsesttechnik gilt auch für die intertextuelle Anlage des Romans. Nicht nur die Schlossfassade überlagert sich mit verschiedenen Versatzstücken aus der böhmischen Kulturgeschichte, auch die Gespräche zwischen den Künstlern und den anderen Figuren kreisen stets um das kulturelle Erbe Tschechiens. Neben Kafka sind es der Romantiker Karel Hynek Mácha, der exzentrische Philosoph Ladislav Klima und der Erfinder des braven Soldaten Schwejk, Jaroslav Hašek, sowie die Komponisten Dvorak und Smetana, die Erwähnung finden. Auch dem Schicksal des Studenten Jan Palach, der sich nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings aus Protest gegen das Sowjetregime selbst verbrannte, gilt die Aufmerksamkeit. Und selbstverständlich darf auch - hier setzt die Autorin augenzwinkernd eine selbstreferentielle Note - die Legende der Libuše, der mythischen Stammmutter Böhmens, nicht fehlen. Der Sage nach führte die Wahrsagerin die Tschechen, die zuvor wie "unverständige Tiere" lebten, in die Zivilisation.Montag, 30. Dezember 2024
Libuše Moníková: Die Fassade (1987)
Sonntag, 17. November 2024
Dino Buzzati: Die Mauern der Stadt Anagoor. Erzählungen (1987)
Das Grauen nimmt kein Ende. Nachdem das Lesefrüchtchen zu Hanns Heinz Ewers und H.P. Lovecraft griff, zieht es nun Dino Buzzati aus dem Regal, der freilich eine ganz andere Art von Schauergeschichten verfasste, die weniger dem blanken Horror, sondern - wenn man so will - eher einem metaphysischen Gruseln verpflichtet sind. Meistens fungieren die Erzählung zwar ebenfalls nach dem Prinzip, dass etwas Unerklärliches oder Übersinnliches in den Alltag tritt und die Geschehnisse fortan schicksalhaft bestimmt, Buzzati im Unterschied zu Ewers und Lovecraft jedoch mehr an der psychologischen Seite solcher Phänomene interessiert ist, weshalb seine Erzählungen oft ins Allegorische und Parabelhafte driften. Die mitunter phantastischen Geschehnisse wollen sich als Gleichnisse verstanden wissen. Nicht völlig zu Unrecht ist der 1906 in Belluno bei St. Pellegrino geborene Autor und Journalist daher schon zum 'italienischen Kafka' erklärt worden.
Die Titelgeschichte des vorliegenden Bandes Die Mauern der Stadt Anagoor mit Erzählungen aus den 1940er und 1950er Jahren liesse etwa sich leicht als Variante von Kafkas Türhüter-Parabel begreifen. Ein namenloser Ich-Erzähler wird in der Sahara an einen Ort geführt, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist: eine mit hohen Mauern umgebene Stadt mitten in der Wüste. Dort lagern unzählige Menschen und warten bereits seit Jahren darauf, dass sich das Tor öffnet, um eingelassen zu werden. Dabei steht nicht einmal fest, ob die Stadt auch wirklich bewohnt ist. Es kursiert lediglich die Legende, dass einst ein "einziger Mensch", ein Pilger der sich zufällig vor den Toren aufhielt und nicht einmal wusste, dass es sich um die begehrte Stadt Anagoor handelt, Einlass erhielt. Das allein verschafft den Wartenden ein den Glauben einer "nahen Glückseligkeit". Dem Erzähler jedoch reisst nach 25 Jahren der Geduldsfaden und er bricht sein Lager ab, was von den anderen mit der Bemerkung quittiert wird: "Du verlangst zuviel vom Leben".
Die Anspielung auf Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" ist zu offensichtlich, auf deren Folie sich auch die Schlusspointe der Erzählung erschliesst: Der Mann vom Lande bei Kafka wurde erst bei seinem Tod eingelassen. Das Warten vor dem Tor ist ein existentielles Gleichnis. Auch sonst scheint Buzzati intertextuell eng mit einigen Klassikern der phantastischen Moderne verknüpft. Ein übermütiger Mensch präsentiert eine Art Bartleby-Figur, in Der Hund, der Gott gesehen hatte stirbt ein Eremit ausgestreckt wie Robert Walser im Schnee (der Text erschien allerdings zwei Jahre vor Walser Tod) und eine Erzählung trägt mit Der Mantel denselben Titel wie Gogols berühmte Novelle. Auch Jorge Luis Borges liesse sich als literarischer Anverwandter nennen, weisen seine dichten, paradoxen Kurzgeschichten doch etliche Parallelen mit Buzzatis Prosa auf. Ohne dass damit eine bewusste Bezugnahme auf die genannten Autoren behauptet werden soll, lässt sich Buzzatis Prosa motivgeschichtlich in diesem Kontext verorten, auch wenn sein Name im Vergleich weniger bekannt sein dürfte. Als Entdeckung lohnt sich Buzzati aber allemal.
Wie Borges geht auch Buzzati meist von einer abstraktem, metaphysischem Problem aus, das er zu einer parabolischen, gleichnishaften Erzählung ausgestaltet. So etwa in der Eingangserzählung Wenn es dunkelt. Ein erfolgreicher Mann in seinen besten Jahren wird auf dem Dachboden mit seinem kindlichen Alter Ego konfrontiert. Während er von seinem früheren Ich Bewunderung und Achtung vor seiner Lebensleistung erwartet, zeigt sich das Kind eher enttäuscht von seinem späteren Selbst. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, das Streben nach einem erfüllten Dasein, aber auch die sich wandelnde Selbstwahrnehmung im Laufe der Zeit wird hier in eine spannungsreiche Konstellation gebracht. Ebenfalls auf einem Dachboden spielt die mitunter längste Erzählung Die Bodenkammer. Hier taucht plötzlich eine Kiste mit Äpfeln auf, so verlockend, dass ein Maler nicht widerstehend kann und durch den Biss in den Apfel in ekstatische Rauschzustände gerät, die er fortan stets wieder aufsuchen will. Was folgt ist - unter dem Motiv des biblischen Sündenfalls - das drastische Gleichnis einer Sucht, die den Betroffenen selbstquälerisch zwischen auferlegten Verboten und permanenter Selbstüberlistung oszillieren lässt.
Das Einbrechen des Irrationalen oder Übersinnlichen in das Leben eines Menschen bildet ein wiederkehrendes Motiv bei Buzzati. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt er in einer präzisen, schnörkellosen Sprache die Psychogramme seiner Figuren. Das kann eine Kiste Äpfel sein, aber auch der Tod, eine unheilbare Krankheit wie Aussatz oder ein Tier wie ein gigantischer Igel oder - wie in der zweiten längeren Erzählung - ein herumstreunender Hund, von dem die gesamte Bevölkerung annimmt, es handle sich um den Vierbeiner des kürzlich verstorbenen Heiligen auf dem Hügel. Sie verfallen deshalb auf die fixe Idee, dass Gott höchstpersönlich sie durch dieses Tier observiere, weshalb sie in seiner Gegenwart ein gänzlich anderes Verhalten an den Tag legen und auf ihre heimlichen Sünden verzichten. Sie steigern sich sogar richtiggehend in einen Kult des Hundes hinein und verehren ihn wie ein Totemtier, bis sie auf das Grab des Heiligen pilgern und dort ein Hundeskelett erblicken, das ihnen schlagartig vor Augen führt, dass sie einem falschen Glauben aufgesessen sind: Das angebetete Tier war irgendein Strassenköter, der Hund des Heiligen ist längst mit seinem Herrn verschieden.
Der Band erschien in der "Reihe religiöser Erzählungen", weshalb die Herausgeberin Elisabeth Antkowak ihre Auswahl auf Texte stützte, in denen Fragen nach Gott und Tod, Gut und Böse, Gnade und Schicksal im Zentrum stehen. Im eigentlichen Sinne religiös können die Erzählungen dennoch nicht genannt werden, da sie einerseits keine spezifischen Glaubensinhalte transportieren, zum anderen auch in keinster Weise erbaulich sind, wie das die Herausgeberin gern suggerieren möchte, wenn sie insbesondere auf den Aspekt der Hoffnung abhebt. Doch sind die allermeisten Erzählungen alles andere als hoffnungsvoll, im Gegenteil enden sie oft auf die fatalste Weise, ohne Aussicht auf Trost, Rettung oder Umkehr. Der Verlauf jeder Erzählung steuert unerbittlich immer in Richtung Verdammnis zu. Wo die Herausgeberin da noch Hoffnungsschimmer aufblitzen sieht, bleibt ein Rätsel, heisst es an einer Stelle doch vielmehr unmissverständlich explizit: "Keine Hoffnung!" und "kein Heilmittel".
Der Mensch, so sehr er sich nach Transzendenz sehnt und sein Wunsch nach göttlicher Gnade zum Ausdruck kommt - bei Buzzati wird sie ihm fast durchwegs verwehrt. Sie sind von Anbeginn Verdammte, die sich ihrem Schicksal schliesslich widerstandslos ergeben. Alles andere wäre literarisch auch wenig erspriesslich.
Mittwoch, 7. August 2024
Haruki Murakami: Kafka am Strand (2002)
Kafka ist hoch im Kurs wegen seinem 100. Todestag. Das Lesefrüchtchen nimmt dies zum Anlass, um - nein, nicht Kafka selbst zu lesen, den kennt es schon zu Genüge, sondern um sich auf bislang unbekanntes Terrain zu wagen. Angelockt vom Titel, liest es seinen ersten Murakami: Kafka am Strand. Um den historischen Franz Kafka geht es dabei jedoch nur am Rande, nur einmal wird der Schriftsteller und seine bekanntesten Bücher kurz erwähnt. Mit Kafka ist stattdessen der 15jährige Kafka Tamura gemeint, der an einer Stelle so charakterisiert wird: "Cool wie eine Gurke, geheimnisvoll wie Kafka." Echt jetzt? Er wählte diesen Übernamen, um sich als Ausreisser von zuhause "ein neues Ich" zu schaffen. Dieses neue Ich artikuliert sich als innere Stimme eines Jungen namens Krähe, weil - jahaha! -Kafka auf tschechisch Krähe bedeutet, worauf der Roman auch nicht versäumt hinzuweisen. Kafka-Fans wissen das natürlich längst. Das Familienwappen von Franz Kafka ziert eine rabenschwarze Krähe.
Dieses Krähen-Über-Ich begleitet den jungen Kafka auf seinem Weg ins Erwachsenwerden, das jedoch rasch phantastische Züge annimmt und ziemlich verworren wird. Kafka schlittert in einer Art Traum- oder Parallelwelt, in der sich die unheilvolle ödipale Prophezeiung seines Vaters zu erfüllen scheint: Er (oder vielmehr stellvertretend für ihn der Katzenflüsterer Nakata) bringt ihn um und begeht Inzest mit seiner Mutter und seiner Schwester - ob real oder nur in seiner Vorstellung ist ebenso unklar wie ob es sich tatsächlich Mutter und Schwester handelt, die er seit dem vierten Lebensjahr nie mehr gesehen hat. Jedenfalls glaubt er in einer Tramperin seine Schwester und seine Mutter in der mysteriösen Bibliothekarin Saeki-San, die früher eine kurze Karriere als Sängerin und einen grossen Erfolg mit dem Lied Kafka am Strand hatte. Nun hängt ein Gemälde mit dem selben Titel in der Bibliothek, das offenbar Seaki-Sans früheren Geliebten zeigt, der um tragische Weise ums Leben kam, weshalb sie schliesslich die Gesangskarriere aufgab.
Der Songtext handelt von einem Moment, bei dem Fische vom Himmel fallen und ein Stein den Eingang in eine andere Welt öffnet, die von Soldaten bewacht wird. Genau das, was die Lyrics prophezeien, ereignet sich dann, wobei das Schicksal von Tamura Kafka auf unerklärliche Weise mit demjenigen von Nakata gekoppelt ist. Bei einem paranormalen Vorfall in der Kindheit wurde Nakata schwachsinnig, glaubt seither aber Katzen sprechen zu hören und verdient seinen Lebensunterhalt damit, herumstreunende Tiere wieder ihren Besitzern zurückzubringen, bis er auf Johnny Walker stösst oder vielmehr auf eine Art Dämon, der sich in Gestalt des Whiskey-Brands manifestiert. Er zwingt Nakata auf perfide Weise - indem er vor seinen Augen reihum die geliebten Katzen abschlachtet - dazu, ihn selbst zu ermorden. Doch wie sich am nächsten Morgen herausstellt, handelt es sich bei der Leiche um den Vater von Kafka, der nach der Mordnacht ebenfalls mit blutverschmiertem Shirt aufwacht. Höhere Mächte kitten fortan beide aneinander, ohne dass sie gegenseitig von ihrer Existenz wissen. Nakata schafft es mit Hilfe eines Truckers, den Eingang zur Parallelwelt zu öffnen und ermöglicht es dadurch Kafka, in sie einzutreten. Während Nakata mit dem Leben dafür bezahlt, kehrt Kafka als gereifter Jüngling vom "Rande der Welt" zurück. Am Ende weiss man nicht, was Realität, was blosse Einbildung und Traum war. Fest steht nur, dass der Junge namens Krähe seinen Adoleszenzprozess abgeschlossen hat.
Kafka am Strand ist Mysterythriller, antike Tragödie (Ödipus-Motiv), Coming-of-Age-Geschichte, Fantasyroman, japanische Gespenstersage und zu zwei Dritteln ein veritabler Pageturner, der all die aufgebaute Spannung am Ende aber nicht auflöst.. Vor allem aber ist der Roman, was man heutzutage Midcult nennt: eine seichte Lektüre, die einen gehobenen Anspruch erwecken will, ohne ihn wirklich einzulösen. Bestes Beispiel dafür ist der Titel, der Kafka zwar zitiert, was für den Roman aber insgesamt keine Rolle spielt. Der Protagonist könnte genauso gut Konrad heissen, das würde keinen Unterschied machen und der Geschichte auch nichts fehlen. Zum Midcult gehört auch das zwar raffiniert, aber letztlich doch bedeutungslos eingestreute Bildungsgut, das mit der Handlung in keinem anderen Bezug steht, als dass eine Figur gerade ein Buch liest oder bestimmte Musik hört, ansonsten aber keinen übergeordneten Symbolwert besitzt, lediglich äusserlich aufgesetzt ist. So referiert ein Café-Besitzer lang und breit über Beethovens Erzherzog-Trio, der geneigten Leserin wird also en passant kanonisiertes Bildungswissen serviert, dabei ist dieses Stück für den Text selbst nicht mehr als nur eine weitere Requisite, ohne die er ebenso bruchlos funktionieren würde.
Damit ist ein zentrales Merkmal von Murakamis Schreibstil angesprochen: Er operiert stark mit Versatzstücken nicht nur inhaltlicher, auch rein sprachlicher Natur. Auffällig etwa dort, wo banale Handlungsabläufe wie Aufstehen, Essen, Waschen, Zu-Bett-Gehen in allen irrelevanten Einzelheiten und repetitiv geschildert werden. Das bringt die Erzählung voran, ohne dass wirklich etwas geschieht, und dient wohl der lesenden Erholung. Man liest, ohne sich übermässig konzentrieren und Informationen aufnehmen zu müssen. Die Leserin kann sich vom Text berieseln lassen wie von einer Telenovela und hat trotzdem das Gefühl, an der gehobenen Literatur teilzuhaben. Damit soll dieses Leseerlebnis nicht geschmälert werden. Schliesslich tut es hin und wieder einfach gut, einen dickleibigen Roman in einem Schnurz durchzulesen. Ärgerlich ist am Ende dann nur, dass man - wie nach einem Besuch in einer Fastfood-Kette - mit einem falschen Gefühl der Sättigung zurückgelassen wird. Alles, was sich als so bedeutungsschwanger ankündigte, verflüchtigt sich als heisse Luft.
Dienstag, 13. Februar 2024
Nikolaj Gogol: Die toten Seelen (1842/1852)
Es ist ein merkwürdiger Handlungsreisender, dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow: In seiner Troika (seinem Dreigespann) zieht er von Landgut zu Landgut durch die russische Provinz und versucht die Gutsbesitzer davon zu überzeugen, ihm 'tote Seelen' zu einem geringen Preis zu verkaufen oder gar zu schenken. Gemeint sind sogenannte "Revisionsseelen", das heisst alle steuerrelevanten und daher auf der Revisionsliste geführten leibeigenen Bauern der Gutsbesitzer. Da diese Listen bis zur nächsten Revision unverändert gültig bleiben, müssen die Gutsherren auch für inzwischen bereits verstorbene Bauern Kopfsteuern bezahlen. Der listige Tschitschikow will sie deshalb von dieser Steuerlast befreien, indem er ihre toten Seelen vertraglich übernimmt, jedoch nicht aus purem Altruismus, sondern um sich selbst den Anschein eines vermögenden Herren, der über hunderte von Leibeigenen gebietet, zu geben und sich damit die nötige Kreditwürdigkeit zu verschaffen. Denn seit seiner Jugend träumt der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Tschitschikow davon, ein eigenes Landgut zu besitzen.
Ein Grossteil der Romanhandlung besteht darin, Tschitschikow auf seinem Weg von Gutshof zu Gutshof zu folgen, was mit der Zeit repetitiv und daher auch ermüdend wirkt. Das einzige Spannungsmoment liegt in der lange unbeantworteten Frage nach der Motivation Tschitschikows, tote Seelen zu kaufen. Das erfährt der Leser erst zum Schluss des ersten (und einzig vollendeten) Teils, wo der Autor in einer riesigen (und in dieser Dimension wohl einmaligen) Analepse den gesamten Werdegang des Helden nacherzählt, nachdem man ihm bereits quer durch halb Russland gefolgt ist.
Diese Ausgangslage bietet dem Erzähler jedoch die Gelegenheit, der Reihe nach verschiedene Sozialcharaktere vorzuführen und sich in mitunter weit ausholende Exkurse teilweise auch satirischer Art über Land und Leute zu ergehen. Einer dieser Exkurse nutzt der Erzähler auch für eine poetologische Rechtfertigung des gesamten Romanunternehmens, das keine positiven Helden aufweisen kann. Im Gegenteil, Tschitschikow begegnet Antitypen jeglichen Couleurs: Lügnern, Betrügern, Neppern, Prahlköpfen, Geizigen wie Verschwendern - und auch er selbst ist als Hochstaplerfigur keineswegs ein Vorzeigeheld im klassischen Sinn. Auch von den gesellschaftlichen Zuständen schildert der Roman alles andere als ein harmonisches Bild: Nepotismus und Korruption sind an der Tagesordnung, wie auch das Paradestück einer Amtssatire zeigt, wie man sie erst wieder bei Franz Kafka lesen wird, wo die Absurdität, der Leerlauf und nicht zuletzt auch der Filz eines gigantischen Verwaltungsapparats auf die Schippe genommen.
Der Erzähler schätzt jene Schriftsteller glücklich, welche "an allen langweiligen oder gar abstoßenden und in ihrer Erbärmlichkeit kränkenden Charakteren vorübergehen" und sich jene Personen aussuchen könne, "welche die wahre menschliche Würde zur Geltung bringen", um der Leserschaft "das Idealbild des Menschen" vor Augen zu führen. Die anderen Schriftsteller hingegen, die das Wagnis auf sich nehmen, das zu zeigen, was man lieber geflissentlich übersieht, nämlich den "ganzen Leerlauf der kalten, innerliche zerrissenen, alltäglichen Charaktere, die uns auf unserer bitteren und oft öden irdischen Bahn bedrängen", diese Schriftsteller haben einen viel schwierigeren Stand, weil Kritiker nur allzu rasch vom Inhalt auf den Verfasser schliessen. Zweifelsohne zählt sich auch der Gogolsche Erzähler zu dieser unrühmlichen zweiten Sorte, weshalb ihm besonders daran gelegen ist, die Leserschaft in einem längeren Exkurs vom Wert seines Unternehmens zu überzeugen. Dazu wählt er ein optisches Gleichnis: Es sei ebenso ehrenwert, (mit dem Teleskop) die entfernten Gestirne am Himmel vor das Auge zu zaubern, wie (mit dem Mikroskop) die Regungen der unscheinbarsten Wesen sichtbar zu machen.
Die romantische Prägung des Fragment gebliebenen Romans ist noch deutlich in solchen Exkursen des Erzählers erkennbar, mit denen er sich direkt an die Leserschaft wendet oder sein Vorgehen legitimieren will. Nicht wenige Exkurse nutzt er auch, um eben erzählte Episoden ins Allgemeine zu wenden, so dass sie leicht als Allegorie auf russische Zustände zu verstehen sind. Denn das Einsammeln von toten Seelen ist gleichsam nur ein narrativer Vorwand, um ein satirisches Sittengemälde der vielbeschworenen russischen Seele auszubreiten, die sich durch den mikroskopisch-sezierenden Blick des auktorialen Erzählers als nahezu ebenso leer und tot erweist. Besonders deutlich zeigt sich dieser allegorisch Zug in der Schlussapotheose des ersten Teils, wo die Troika Tschitschikows sinnbildlich mit Russland gleichgesetzt wird.
Tatsächlich ist hinter dem vordergründigen Spott und der Satire ein patriotischer, zuweilen sogar reaktionärer Zug vernehmbar, der im zweiten, unvollendeten Teil noch deutlicher zum Ausdruck kommt, wo das Lob von Tradition und Landwirtschaft beschworen und positiv in Stellung gebracht wird gegen den Sittenzerfall in den Städten, die bereits unrettbar von der westlichen Dekadenz eingenommen sind.
Sonntag, 9. Mai 2021
C.K. Chesterton: Der Mann, der Donnerstag war (1908)
G.K. Chesterton war weitaus mehr als nur der Erfinder des behäbigen Ermittlerpriesters Pater Brown. Neben diesen berühmten Kriminalgeschichten verfasste er eine Fülle von weiteren Erzählungen, scharfsinnige und witzige Essay so wie eine Handvoll Romane, von denen The man who was Thursday (1908) am einflussreichsten war. Es ist eine Mischung aus Thriller und Nonsens, welche die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischt, und gilt deshalb als Vorläufer von alptraumhaften Visionen eines Kafka oder Borges. Im Untertitel wird der Roman auch als «A Nightmare» bezeichnet – in der deutschen Übersetzung als «eine Nachtmahr». Am Ende entpuppt sich tatsächlich alles als verrückter Traum, wobei es unklar ist, wann genau die Erzählung die Realitätsebene verlässt und in eine zusehends irrwitzige Phantasmagorie schlittert. Es gehört jedoch zur Raffinesse des Erzählers, dass die Ereignisse, so absurd sie auch anmuten, nie unglaubwürdig wirken.
Doch worum geht es: Im Zentrum steht der Dichter Gabriel Syme, der von einer Spezialeinheit der Polizei angeheuert wird, um sich in Anarchistenkreise einzuschleusen, was ihm auch gelingt. Unter dem Decknamen «Donnerstag» dringt er in den inneren Zirkel um den hünenhaften, ominösen «Sonntag» vor, der in ganz England Sprengstoffattentate mit Dynamit plant, die es zu vereiteln gilt. In ständiger Angst aufzufliegen, fühlt sich Syme von Anarchisten aus der Gruppe observiert. Es kommt zu Duellen und rasanten Verfolgungsjagden zu Fuss im Auto und im Ballon, die aber alle in der Pointe münden, dass jeder der vermeintlichen Anarchisten sich in Tat und Wahrheit als verdeckter Ermittler erweist. So stellt sich schliesslich die ganze Anarchistenbande als maskierte Gesetzeshüter heraus, die von der Person namens «Sonntag» rekrutiert worden war. Der Roman mündet schliesslich in einer allegorischen Szene, wo alle Polizisten als Personifikationen der Wochentage figurieren und sich zu einem Show-down versammeln – bis dann die Traumblase zerplatzt und der Protagonist Syme wieder erwacht.
Die faszinierendste Figur des Romans ist jedoch der
rätselhafte Sonntag, der als eine Art Übermensch oder Gott geschildert wird:
ein Riese, ein halbes Tier, der mit der mythologischen Gestalt des Pan
verglichen wird und den Syme an die «kolossale Memnonmaske» im British Museum
erinnert. Sonntag ist eine dämonisch-archaische Urgestalt, auch eine
karnevaleske Figur im Sinne Bachtins, wenn er etwa seinen Verfolgern seine «unmessbare,
unübersehbare Hinteransicht» präsentiert und sie mit Nonsens-Botschaften
traktiert. Er ist eine irrationale Kraft, welche das Verständnis der Menschen
übersteigt; er ist der Gott, der mit den Menschen spielt und darüber lacht. Kurz
vor dem Aufwachen stellt er Syme die Frage: «Vermagst Du aus dem Kelch zu
trinken, aus dem ich trinke?» Gemeint damit ist der ‘bittere Kelch’, der «Becher
des Zorns», aus der Bibel als Symbol für ein schweres Schicksal, das es zu ertragen
gilt. Der Mensch, so die Pointe von Chestertons «Nachtmahr», muss die
Absurdität seines Daseins ertragen, auf die nicht einmal ein Gott eine Antwort
weiss. Der Roman gibt sich so als eine umgekehrte Theodizee zu erkennen.
Chesterton soll einmal gesagt haben: Die Welt sei «die beste aller unmöglichen
Welten».