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Mittwoch, 7. August 2024

Haruki Murakami: Kafka am Strand (2002)

Kafka ist hoch im Kurs wegen seinem 100. Todestag. Das Lesefrüchtchen nimmt dies zum Anlass, um - nein, nicht Kafka selbst zu lesen, den kennt es schon zu Genüge, sondern um sich auf bislang unbekanntes Terrain zu wagen. Angelockt vom Titel, liest es seinen ersten Murakami: Kafka am Strand. Um den historischen Franz Kafka geht es dabei jedoch nur am Rande, nur einmal wird der Schriftsteller und seine bekanntesten Bücher kurz erwähnt. Mit Kafka ist stattdessen der 15jährige Kafka Tamura gemeint, der an einer Stelle so charakterisiert wird: "Cool wie eine Gurke, geheimnisvoll wie Kafka." Echt jetzt? Er wählte diesen Übernamen, um sich als Ausreisser von zuhause "ein neues Ich" zu schaffen. Dieses neue Ich artikuliert sich als innere Stimme eines Jungen namens Krähe, weil - jahaha! -Kafka auf tschechisch Krähe bedeutet, worauf der Roman auch nicht versäumt hinzuweisen. Kafka-Fans wissen das natürlich längst. Das Familienwappen von Franz Kafka ziert eine rabenschwarze Krähe. 

Dieses Krähen-Über-Ich begleitet den jungen Kafka auf seinem Weg ins Erwachsenwerden, das jedoch rasch phantastische Züge annimmt und ziemlich verworren wird. Kafka schlittert in einer Art Traum- oder Parallelwelt, in der sich die unheilvolle ödipale Prophezeiung seines Vaters zu erfüllen scheint: Er (oder vielmehr stellvertretend für ihn der Katzenflüsterer Nakata) bringt ihn um und begeht Inzest mit seiner Mutter und seiner Schwester - ob real oder nur in seiner Vorstellung ist ebenso unklar wie ob es sich tatsächlich Mutter und Schwester handelt, die er seit dem vierten Lebensjahr nie mehr gesehen hat. Jedenfalls glaubt er in einer Tramperin seine Schwester und seine Mutter in der mysteriösen Bibliothekarin Saeki-San, die früher eine kurze Karriere als Sängerin und einen grossen Erfolg mit dem Lied Kafka am Strand hatte. Nun hängt ein Gemälde mit dem selben Titel in der Bibliothek, das offenbar Seaki-Sans früheren Geliebten zeigt, der um tragische Weise ums Leben kam, weshalb sie schliesslich die Gesangskarriere aufgab.

Der Songtext handelt von einem Moment, bei dem Fische vom Himmel fallen und ein Stein den Eingang in eine andere Welt öffnet, die von Soldaten bewacht wird. Genau das, was die Lyrics prophezeien, ereignet sich dann, wobei das Schicksal von Tamura Kafka auf unerklärliche Weise mit demjenigen von Nakata gekoppelt ist. Bei einem paranormalen Vorfall in der Kindheit wurde Nakata schwachsinnig, glaubt seither aber Katzen sprechen zu hören und verdient seinen Lebensunterhalt damit, herumstreunende Tiere wieder ihren Besitzern zurückzubringen, bis er auf Johnny Walker stösst oder vielmehr auf eine Art Dämon, der sich in Gestalt des Whiskey-Brands manifestiert. Er zwingt Nakata auf perfide Weise - indem er vor seinen Augen reihum die geliebten Katzen abschlachtet - dazu, ihn selbst zu ermorden. Doch wie sich am nächsten Morgen herausstellt, handelt es sich bei der Leiche um den Vater von Kafka, der nach der Mordnacht ebenfalls mit blutverschmiertem Shirt aufwacht. Höhere Mächte kitten fortan beide aneinander, ohne dass sie gegenseitig von ihrer Existenz wissen. Nakata schafft es mit Hilfe eines Truckers, den Eingang zur Parallelwelt zu öffnen und ermöglicht es dadurch Kafka, in sie einzutreten. Während Nakata mit dem Leben dafür bezahlt, kehrt Kafka als gereifter Jüngling vom "Rande der Welt" zurück. Am Ende weiss man nicht, was Realität, was blosse Einbildung und Traum war. Fest steht nur, dass der Junge namens Krähe seinen Adoleszenzprozess abgeschlossen hat.

Kafka am Strand ist Mysterythriller, antike Tragödie (Ödipus-Motiv), Coming-of-Age-Geschichte, Fantasyroman, japanische Gespenstersage und zu zwei Dritteln ein veritabler Pageturner, der all die aufgebaute Spannung am Ende aber nicht auflöst.. Vor allem aber ist der Roman, was man heutzutage Midcult nennt: eine seichte Lektüre, die einen gehobenen Anspruch erwecken will, ohne ihn wirklich einzulösen. Bestes Beispiel dafür ist der Titel, der Kafka zwar zitiert, was für den Roman aber insgesamt keine Rolle spielt. Der Protagonist könnte genauso gut Konrad heissen, das würde keinen Unterschied machen und der Geschichte auch nichts fehlen. Zum Midcult gehört auch das zwar raffiniert, aber letztlich doch bedeutungslos eingestreute Bildungsgut, das mit der Handlung in keinem anderen Bezug steht, als dass eine Figur gerade ein Buch liest oder bestimmte Musik hört, ansonsten aber keinen übergeordneten Symbolwert besitzt, lediglich äusserlich aufgesetzt ist. So referiert ein Café-Besitzer lang und breit über Beethovens Erzherzog-Trio, der geneigten Leserin wird also en passant kanonisiertes Bildungswissen serviert, dabei ist dieses Stück für den Text selbst nicht mehr als nur eine weitere Requisite, ohne die er ebenso bruchlos funktionieren würde.

Damit ist ein zentrales Merkmal von Murakamis Schreibstil angesprochen: Er operiert stark mit Versatzstücken nicht nur inhaltlicher, auch rein sprachlicher Natur. Auffällig etwa dort, wo banale Handlungsabläufe wie Aufstehen, Essen, Waschen, Zu-Bett-Gehen in allen irrelevanten Einzelheiten und repetitiv geschildert werden. Das bringt die Erzählung voran, ohne dass wirklich etwas geschieht, und dient wohl der lesenden Erholung. Man liest, ohne sich übermässig konzentrieren und Informationen aufnehmen zu müssen. Die Leserin kann sich vom Text berieseln lassen wie von einer Telenovela und hat trotzdem das Gefühl, an der gehobenen Literatur teilzuhaben. Damit soll dieses Leseerlebnis nicht geschmälert werden. Schliesslich tut es hin und wieder einfach gut, einen dickleibigen Roman in einem Schnurz durchzulesen. Ärgerlich ist am Ende dann nur, dass man - wie nach einem Besuch in einer Fastfood-Kette - mit einem falschen Gefühl der Sättigung zurückgelassen wird. Alles, was sich als so bedeutungsschwanger ankündigte, verflüchtigt sich als heisse Luft.

Dienstag, 13. Februar 2024

Nikolaj Gogol: Die toten Seelen (1842/1852)

Es ist ein merkwürdiger Handlungsreisender, dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow: In seiner Troika (seinem Dreigespann) zieht er von Landgut zu Landgut durch die russische Provinz und versucht die Gutsbesitzer davon zu überzeugen, ihm 'tote Seelen' zu einem geringen Preis zu verkaufen oder gar zu schenken. Gemeint sind sogenannte "Revisionsseelen", das heisst alle steuerrelevanten und daher auf der Revisionsliste geführten leibeigenen Bauern der Gutsbesitzer. Da diese Listen bis zur nächsten Revision unverändert gültig bleiben, müssen die Gutsherren auch für inzwischen bereits verstorbene Bauern Kopfsteuern bezahlen. Der listige Tschitschikow will sie deshalb von dieser Steuerlast befreien, indem er ihre toten Seelen vertraglich übernimmt, jedoch nicht aus purem Altruismus, sondern um sich selbst den Anschein eines vermögenden Herren, der über hunderte von Leibeigenen gebietet, zu geben und sich damit die nötige Kreditwürdigkeit zu verschaffen. Denn seit seiner Jugend träumt der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Tschitschikow davon, ein eigenes Landgut zu besitzen.

Ein Grossteil der Romanhandlung besteht darin, Tschitschikow auf seinem Weg von Gutshof zu Gutshof zu folgen, was mit der Zeit repetitiv und daher auch ermüdend wirkt. Das einzige Spannungsmoment liegt in der lange unbeantworteten Frage nach der Motivation Tschitschikows, tote Seelen zu kaufen. Das erfährt der Leser erst zum Schluss des ersten (und einzig vollendeten) Teils, wo der Autor in einer riesigen (und in dieser Dimension wohl einmaligen) Analepse den gesamten Werdegang des Helden nacherzählt, nachdem man ihm bereits quer durch halb Russland gefolgt ist.

Diese Ausgangslage bietet dem Erzähler jedoch die Gelegenheit, der Reihe nach verschiedene Sozialcharaktere vorzuführen und sich in mitunter weit ausholende Exkurse teilweise auch satirischer Art über Land und Leute zu ergehen. Einer dieser Exkurse nutzt der Erzähler auch für eine poetologische Rechtfertigung des gesamten Romanunternehmens, das keine positiven Helden aufweisen kann. Im Gegenteil, Tschitschikow begegnet Antitypen jeglichen Couleurs: Lügnern, Betrügern, Neppern, Prahlköpfen, Geizigen wie Verschwendern - und auch er selbst ist als Hochstaplerfigur keineswegs ein Vorzeigeheld im klassischen Sinn. Auch von den gesellschaftlichen Zuständen schildert der Roman alles andere als ein harmonisches Bild: Nepotismus und Korruption sind an der Tagesordnung, wie auch das Paradestück einer Amtssatire zeigt, wie man sie erst wieder bei Franz Kafka lesen wird, wo die Absurdität, der Leerlauf und nicht zuletzt auch der Filz eines gigantischen Verwaltungsapparats auf die Schippe genommen.

Der Erzähler schätzt jene Schriftsteller glücklich, welche "an allen langweiligen oder gar abstoßenden und in ihrer Erbärmlichkeit kränkenden Charakteren vorübergehen" und sich jene Personen aussuchen könne, "welche die wahre menschliche Würde zur Geltung bringen", um der Leserschaft "das Idealbild des Menschen" vor Augen zu führen. Die anderen Schriftsteller hingegen, die das Wagnis auf sich nehmen, das zu zeigen, was man lieber geflissentlich übersieht, nämlich den "ganzen Leerlauf der kalten, innerliche zerrissenen, alltäglichen Charaktere, die uns auf unserer bitteren und oft öden irdischen Bahn bedrängen", diese Schriftsteller haben einen viel schwierigeren Stand, weil Kritiker nur allzu rasch vom Inhalt auf den Verfasser schliessen. Zweifelsohne zählt sich auch der Gogolsche Erzähler zu dieser unrühmlichen zweiten Sorte, weshalb ihm besonders daran gelegen ist, die Leserschaft in einem längeren Exkurs vom Wert seines Unternehmens zu überzeugen. Dazu wählt er ein optisches Gleichnis: Es sei ebenso ehrenwert, (mit dem Teleskop) die entfernten Gestirne am Himmel vor das Auge zu zaubern, wie (mit dem Mikroskop) die Regungen der unscheinbarsten Wesen sichtbar zu machen.

Die romantische Prägung des Fragment gebliebenen Romans ist noch deutlich in solchen Exkursen des Erzählers erkennbar, mit denen er sich direkt an die Leserschaft wendet oder sein Vorgehen legitimieren will. Nicht wenige Exkurse nutzt er auch, um eben erzählte Episoden ins Allgemeine zu wenden, so dass sie leicht als Allegorie auf russische Zustände zu verstehen sind. Denn das Einsammeln von toten Seelen ist gleichsam nur ein narrativer Vorwand, um ein satirisches Sittengemälde der vielbeschworenen russischen Seele auszubreiten, die sich durch den mikroskopisch-sezierenden Blick des auktorialen Erzählers als nahezu ebenso leer und tot erweist. Besonders deutlich zeigt sich dieser allegorisch Zug in der Schlussapotheose des ersten Teils, wo die Troika Tschitschikows sinnbildlich mit Russland gleichgesetzt wird.

Tatsächlich ist hinter dem vordergründigen Spott und der Satire ein patriotischer, zuweilen sogar reaktionärer Zug vernehmbar, der im zweiten, unvollendeten Teil noch deutlicher zum Ausdruck kommt, wo das Lob von Tradition und Landwirtschaft beschworen und positiv in Stellung gebracht wird gegen den Sittenzerfall in den Städten, die bereits unrettbar von der westlichen Dekadenz eingenommen sind.





Sonntag, 9. Mai 2021

C.K. Chesterton: Der Mann, der Donnerstag war (1908)

G.K. Chesterton war weitaus mehr als nur der Erfinder des behäbigen Ermittlerpriesters Pater Brown. Neben diesen berühmten Kriminalgeschichten verfasste er eine Fülle von weiteren Erzählungen, scharfsinnige und witzige Essay so wie eine Handvoll Romane, von denen The man who was Thursday (1908) am einflussreichsten war. Es ist eine Mischung aus Thriller und Nonsens, welche die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischt, und gilt deshalb als Vorläufer von alptraumhaften Visionen eines Kafka oder Borges. Im Untertitel wird der Roman auch als «A Nightmare» bezeichnet – in der deutschen Übersetzung als «eine Nachtmahr». Am Ende entpuppt sich tatsächlich alles als verrückter Traum, wobei es unklar ist, wann genau die Erzählung die Realitätsebene verlässt und in eine zusehends irrwitzige Phantasmagorie schlittert. Es gehört jedoch zur Raffinesse des Erzählers, dass die Ereignisse, so absurd sie auch anmuten, nie unglaubwürdig wirken.

Doch worum geht es: Im Zentrum steht der Dichter Gabriel Syme, der von einer Spezialeinheit der Polizei angeheuert wird, um sich in Anarchistenkreise einzuschleusen, was ihm auch gelingt. Unter dem Decknamen «Donnerstag» dringt er in den inneren Zirkel um den hünenhaften, ominösen «Sonntag» vor, der in ganz England Sprengstoffattentate mit Dynamit plant, die es zu vereiteln gilt. In ständiger Angst aufzufliegen, fühlt sich Syme von Anarchisten aus der Gruppe observiert. Es kommt zu Duellen und rasanten Verfolgungsjagden zu Fuss im Auto und im Ballon, die aber alle in der Pointe münden, dass jeder der vermeintlichen Anarchisten sich in Tat und Wahrheit als verdeckter Ermittler erweist. So stellt sich schliesslich die ganze Anarchistenbande als maskierte Gesetzeshüter heraus, die von der Person namens «Sonntag» rekrutiert worden war. Der Roman mündet schliesslich in einer allegorischen Szene, wo alle Polizisten als Personifikationen der Wochentage figurieren und sich zu einem Show-down versammeln – bis dann die Traumblase zerplatzt und der Protagonist Syme wieder erwacht.

Die faszinierendste Figur des Romans ist jedoch der rätselhafte Sonntag, der als eine Art Übermensch oder Gott geschildert wird: ein Riese, ein halbes Tier, der mit der mythologischen Gestalt des Pan verglichen wird und den Syme an die «kolossale Memnonmaske» im British Museum erinnert. Sonntag ist eine dämonisch-archaische Urgestalt, auch eine karnevaleske Figur im Sinne Bachtins, wenn er etwa seinen Verfolgern seine «unmessbare, unübersehbare Hinteransicht» präsentiert und sie mit Nonsens-Botschaften traktiert. Er ist eine irrationale Kraft, welche das Verständnis der Menschen übersteigt; er ist der Gott, der mit den Menschen spielt und darüber lacht. Kurz vor dem Aufwachen stellt er Syme die Frage: «Vermagst Du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?» Gemeint damit ist der ‘bittere Kelch’, der «Becher des Zorns», aus der Bibel als Symbol für ein schweres Schicksal, das es zu ertragen gilt. Der Mensch, so die Pointe von Chestertons «Nachtmahr», muss die Absurdität seines Daseins ertragen, auf die nicht einmal ein Gott eine Antwort weiss. Der Roman gibt sich so als eine umgekehrte Theodizee zu erkennen. Chesterton soll einmal gesagt haben: Die Welt sei «die beste aller unmöglichen Welten».

Dienstag, 12. Mai 2020

Franz Kafka: Blumfeld ein älterer Junggeselle... (1915)


Wie in Die Verwandlung so tritt auch in dieser fragmentarisch gebliebenen Erzählung Franz Kafkas ein ungewöhnliches, surreales Ereignis in den Alltag ein, das der Protagonist aber mühelos zu akzeptieren scheint. Und dies, obwohl es einmal in der Erzählung heißt, dass Blumfeld «kein Phantast» sei. Blumfeld, so der Name des pedantischen, sauberkeitsliebenden und vereinsamten Beamten in einer Wäschefabrik, entdeckt eines Abends beim Nachhausekommen zwei «komische Bälle» in seiner Wohnung, die alternierend permanent auf und ab hüpfen und nicht von Blumfeld weichen. Stets halten sie sich im Rücken des Junggesellen auf, wie er sich auch dreht und wendet, er kann ihnen nicht entkommen, als handle es sich etwa um seine «Lebensbegleiter».

Ähnlich wie die Verwandlung Gregor Samsas in einen Käfer so sind auch diese Bälle als psychisch ausgelagerten Seins- resp. Bewusstseinszustand aufzufassen. Die Bälle treten just in dem Moment in Blumfelds Leben, als er sich zu wiederholten Malen seiner Einsamkeit bewusst wird und sich überlegt einen Hund anzuschaffen. Tatsächlich fühlt es sich für Blumfeld an, «als hätte er einen kleinen Hund», als die Bälle beim Schlafengehen auf den Teppich unter seinem Bett rollen. Andererseits erinnern sie ihn auch an «Kinder» und stehen damit in Bezug, zu den beiden unnützen Praktikanten, die Blumfeld bei der Arbeit zur Seite gestellt werden und sich wie «Kinder» verhalten.

In den Bällen als treue Begleiter manifestiert sich sowohl der Wunsch nach Gesellschaft wie sie auch ein Stresssymptom darstellen, ausgelöst durch den unmäßigen Betreuungsaufwand, den Blumfeld seine beiden Praktikanten bereiten. Jedenfalls ist es ihm unangenehm, mit den Bällen gesehen zu werden, er schämt sich für ihre Anhänglichkeit und versucht sie loszuwerden, indem er sie in einen Schrank sperrt und dem zurückgebliebenen Nachbarjungen die Schlüssel übergibt, um die Bälle zu holen, während er zur Arbeit geht. Ob dieses Manöver gelingt, bleibt ebenso so offen, wie was es genau mit den Bällen auf sich hat.

Indem Blumfeld die Existenz der Bälle schlichtweg akzeptiert anstatt sie zu hinterfragen, gelangt er nicht zu einer tieferen Selbsterkenntnis. Die Bälle bleiben Symptom, ohne Diagnose. Nur einmal kurz fühlt sich Blumfeld durch den «leeren Blick» des Nachbarjungen dazu verleitet, sich preiszugeben: «Ein solcher leerer Blick macht einen wehrlos. Er könnte einen dazu verführen, mehr zu sagen, als man will, nur damit man diese Leere mit Verstand fülle.» In gewisser Hinsicht steht diese Leere auch für die Leere in Blumfelds Leben, das allerdings weniger mit Verstand, sondern mit Unverstand in Gestalt sinnloser Bälle gefüllt wird, die ihm zuerst «Spass» bereiten, ihn aber zusehends auch ärgern und lästig werden.

Sonntag, 16. April 2017

Fritz Michaelis: Des Kammerdieners Erasmus nachgelassenes Tagebuch (1913)

Diese im Verlag von Erich Reiss erschienene Sammlung von zwanglosen Betrachtungen und Essays, teilweise in Tagebuch- oder auch in Briefform, ist eine leicht durchschaubare Herausgeberfiktion. Interesse verdient vor allem die pseudoeditorische Notiz des Herausgebers: Sie nimmt gewissermaßen Max Brods Umgang mit Kafkas ambivalenter Nachlassverfügung vorweg. Kafka bat seinen Freund zwar darum, sämtliche in seinem Nachlass befindliche Schriften zu vernichten, hinderte ihn aber nicht an der Lektüre. So sieht sich auch Fritz Michaelis in der selbst verliehenen Rolle als Herausgeber vor die Frage gestellt, wie ernst er den letzten Willen des Kammerdieners Erasmus nehmen soll: „Nach seinem ausdrücklichen Geheiss sollte ich sowohl sein Tagebuch wie auch alle noch vorhandenen Betrachtungen vernichten. Da aber bei meinem Freunde Erasmus die Worte nie restlos Ausdruck seiner Wünsche waren, glaube ich sein Vertrauen nicht zu missbrauchen, wenn ich hiermit der Öffentlichkeit vorlege, was ich an beschriebenen Papieren in seinem Schreibpult gefunden habe.“

Ganz ähnlich argumentierte damals auch Max Brod. Im Unterschied zu Kafkas nachgelassenem Werk aber sind die Erasmischen Aufzeichnungen nicht in den Olymp der Weltliteratur aufgestiegen, sondern müssen als Gelegenheitsdichtung verbucht werden, die heute gänzlich unbekannt sind und vermutlich schon bei Erscheinen keine allzu hohen Wellen schlugen. Dazu sind die Prosaminiaturen zu sehr der Buntschriftstellerei verpflichtet. Auffälligerweise wird in einem Stück des Büchleins aber gerade ein gegenteiliges Werkideal vertreten. Es wird dort der Wunsch geäußert, ein Buch zu schreiben, das „nie Manuskript“ war. Das heißt: ein Buch, dem man die Anstrengung seiner Entstehung nicht anmerkt, weil es wie ein organisch gewachsenes Gebilde anmutet. Mit einer Herausgeberfiktion ist ein solcher Eindruck natürlich schwer zu erreichen: Hier wird ja vielmehr das lose papierne Potpourri deutlich vor Augen gestellt. Allerdings ist das Büchlein wiederum auch sehr schön, fast edel gestaltet mit einer Einbandzeichnung von Szafran und einem luftigen Satzspiegel, so dass auch die einzelnen Texte dadurch an erlesenem Glanz gewinnen, als hätte man eine Sammlung von Kleinoden vor sich.

Was die einzelnen Betrachtungen und kleineren Essays neben der rahmenden Schatulle der buchdruckerischen Gestaltung miteinander verbindet, ist die Erzählerfigur des Erasmus, der natürlich nicht zufällig so heißt wie der große Humanist aus Rotterdam. Der Erzähler beruft sich dabei auf die Worte, wie der Rotterdamer in den Dunkelmännerbriefen vorgestellt wird: Erasmus est homo pro se – Erasmus ist ein Mensch für sich. Mit diesem intertextuellen Hinweis ist die freigeistige Stoßrichtung des Büchleins angezeigt, die sich allerdings nur sehr milde artikuliert. Und zwar durch die erzählende bzw. schreibende Dienerfigur, welche die Welt aus einer subalternen und damit immer schon 'schrägen' Sichtweise betrachtet und dadurch dem menschlichen Alltag eigenwillige Seitenblicke abgewinnt. So gefällt sich Erasmus auch als Dialektiker vom Dienst, der die bestehenden Werte dezent umwertet, wenn er etwa seinen Beruf zu einer höheren Kunst zu stilisieren versucht: „Wer nicht zum Kammerdiener geboren ist, kann allenfalls das ABC unserer Kunst ausüben; im Interesse der Vollkommenheit sei ihm aber zu einem weniger aristokratischen Berufe geraten.“ Dieser eigentlich unstandesgemäße Standesstolz, der mit einer Nobilitierung des Lakais einhergeht, erinnert entfernt an Jakob von Gunten, ebenso Erasmus' Plan, eine Dienerschule zu eröffnen. Gut möglich, dass Michaelis den Roman von Walser kannte und sich durch ihn zur Figur des tagebuchschreibenden Dieners hat inspirieren lassen.

Die Stücke geben sich wechselnden Ansichten und Lebensweisheiten hin, mal eher humoristisch, dann wieder mit etwas mehr Tiefgang, und vermitteln en passant auch ein paar biographische Angaben zur Dienerfigur Erasmus und seinen Anstellungsverhältnissen. Meistens kreisen die Briefe und Tagebuchauszüge aber um sich selbst. Enthalten sind auch zwei Hommagen an Johannes Burckard (1450-1506) und Fürst Pückler-Muskau (1785-1871), die beide bedeutende Tagebuch- bzw. Briefschreiber waren. Der vatikanische Zeremonienmeister Burckard hielt in seinem Liber notarum mit dokumentarischer Unvoreingenommenheit das Leben am Hof der Päpste fest, darunter die dekadenten Ausschweifungen eines Cesare Borgia, weshalb sie auch als chronique scandaleuse der römischen Kurie gelten. Erasmus lobt die Nüchternheit des Protokollstils: „Denn er hat hier nur ein Amt und keine Meinung.“ Pückler-Muskau wiederum hat mit den Briefen eines Verstorbenen seinen literarischen Ruhm begründet – zumindest zu Lebzeiten, als zunächst noch Goethe als Verfasser der Briefe vermutet wurde. Während der Fürst für seine 'Parkomanie', seine fanatische Gartenbaukunst, noch landläufig bekannt ist, ist es als Schriftsteller ruhig um ihn geworden. Doch Erasmus hält die Erinnerung an den Vergessenen in stiller Verehrung hoch, denn er blickt zweifelsohne ein Vorbild im Fürsten, bedenkt er ihn doch mit dem gleichen Zitat wie auch sich selbst: homo pro se.