Zu Halloween gönnt sich das Lesefrüchtchen ein paar Schauergeschichten aus der Feder von Hanns Heinz Ewers, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein vielgelesener und äusserst produktiver Schriftsteller und Drehbuchautor - z.B. für den Gruselfilm Der Student von Prag (1919) - des damals hoch im Schwange gewesenen Genres der Phantastik war, bevor er in den Nationalsozialismus abglitt. Er gilt als Meister des Makaberen, immer hart an der Grenze zur Geschmacklosigkeit. Mit der kurzen Erzählung Die Tomatensauce verfasste er einen der ersten bekannten Splatter-Texte. Insbesondere seine Romane rund um die Figur von Frank Braun - Zauberlehrling (1909) und Alraune (1911) - erfreuten sich in ihrer Mischung aus Okkultismus, Horrorelementen und lüsterner Erotik grosser Beliebtheit. Das sind auch die Elemente, die weitgehend seine Schauergeschichten auszeichnen, u.a. publiziert in den Bänden mit den sprechenden Titeln Das Grauen. Seltsame Geschichten (1907), Die Besessenen. Seltsame Geschichten (1908) oder Mein Begräbnis und andere seltsamen Geschichten (1917), von denen vier 1972 neu aufgelegt wurden.
Gleich die erste Erzählung vollzieht einen für Ewers typischen Tabubruch, auch für heutige Verhältnisse, erst recht zur damaligen Zeit. Es geht nämlich um Nekrophile, die überdies recht freizügig geschildert wird. Wie ebenfalls typisch für Ewers wird die eigentliche Geschichte erst durch eine längere Rahmenhandlung eingeleitet, in der die historische Situation - die Handlung spielt in einer amerikanischen Ausländer-Siedlung während des Ersten Weltkriegs - und die beteiligten Personen überdetailiert eingeführt werden. Das Hauptpersonal besteht aus Stephe, dem einfältigen Totengräber, und dem niederländischen Hochstapler Jan Olieslager, die zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenwachsen. Olieslager verhilft Stephe dazu, dass er aus der Armee ausgemustert wird, während Stephe dem Hochstapler im Gebeinhaus auf dem Friedhof, wo er wohnt, Obdach bietet, nachdem dieser aufgeflogen ist. Olieslager hat längst bemerkt, dass sein verschlossener Kumpan ein Geheimnis mit sich herumträgt, und will es auf Teufel komm raus ergründen. Es stellt sich heraus, dass der ansonsten beziehungsunfähige Stephe sich nächtens mit frischen Frauenleichen vergnügt, im Irrglauben, dass sie mit ihm sprechen, ihn liebkosen und beschenken. Nachdem Olieslager seinen Freund zur Beichte gezwungen hat, scheint die Obsession aufzuhören, da verliebt sich Stephe aber in die bildhübsche Gladys Paschiitsch und erwartet seitdem nichts sehnsüchtiger als ihr Tod, der dank einer Seuche, oh Wunder, auch tatsächlich eintritt. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit Stephe, denn die heimlich geliebte Gladys soll nicht auf dem Friedhof beerdigt, sondern kremiert werden. Tief in der Seele erschüttert durch diesen 'Liebesverrat' kündigt er seinen Job und ward nicht mehr gesehen.
Die zweite Erzählung ist die schwächste, eher eine tragische Liebesgeschichte als wirklich eine Geschichte des Grauens. Sie steht zu Unrecht in diesem Band. Geschildert wird, wie so oft bei Ewers in der Nacherzählung eines direkt Beteiligten, um die Intensität zu steigern, wie eine junge Frau ihren frisch Verlobten in einer stürmischen Nacht draussen im Wald beim Sterben an einem Schlangenbiss beiwohnt, während er unendliche Qualen leidet. Es heisst, sie hätte in dieser Nacht "in die offene Hölle gesehen", weil ihr Geliebter nicht ganz ohne ihr Verschulden so qualvoll verenden musste. Zuvor hatte sie, um ihn vom Trinken abzuhalten, die Weinflaschen mit Wasser umgefüllt. Gerade die Stärke des Weines hätte ihn, so mutmasst der Erzähler, möglicherweise bei Kräften gehalten, bis der Arzt zu Hilfe kam. Doch er kam zu spät.
Die dritte Erzählung Der Spielkasten ist in Französisch-Indochina angesiedelt. Ewers, der vor dem ersten Weltkrieg Spanien, Mittel- und Südamerika sowie Indien, Südostasien, China und Australien bereiste - liess seine aussereuropäischen Erfahrungen häufig literarisch einfliessen, was ihm erlaubte, die Schrecken in exotische Gefilde und fremde Kulturen zu verlegen. So schildert er in der Erzählung Die Mamaloi in drastischer Genauigkeit das grausame Ritual eines Voodookultes in Haiti, bei dem in kollektiver Ekstase nicht nur Tiere, sondern auch ein Kleinkind geopfert werden. In Der Spielkasten ist es die asiatische Kultur, welche die europäische Leserschaft in Schrecken versetzen soll, wenn bspw. die bestialischen Mordmethoden der "gelben Schweinhunde" geschildert werden, die ihren Opfern mit glühenden Nadeln die Augen ausstechen oder lebende Ratten in die Eingeweide nähen. Doch darum geht es in einer längeren Rahmengeschichte nur am Rande: Im Kern geht es um die Rache des vietnamesischen Herrschers und Philosophen Hong-Dok an einem deutschen Legionär, weil dieser ihm eine seiner neuen Frauen ausgespannt hat. Er rächt sich jedoch nicht aus Eifersucht, sondern aus verletztem Stolz, weil er sich zunächst von den Schmeicheleien des Legionärs täuschen liess, ehe er entdeckte, dass sie bloss Mittel zum Zweck und keineswegs ernst gemeint waren. Dass ihn seine Frau betrügt, mag der dulden; dass er jedoch an der Nase herumgeführt und für dumm verkauft wird, reizt seinen Zorn bis aufs Blut. Er lässt den Legionär mitsamt der Frau kreuzigen, näht ihnen den Mund zu damit sie nicht schreien können und setzt die Gekreuzigten auf einem Floss im krokodilreichen Roten Fluss aus - und lässt das ganze "Drama von Fort Valmy" überdies in einem Spielkasten für die Ewigkeit nachbilden.
Die vierte Geschichte handelt vom Grafen Vincenz d'Ault-Onival und seiner unverständlich tragischen Liebe zu Stanislawa d'Asp, einer heruntergekommen, total verruchten Hure, die ihn keines Blickes würdigt, ja ihn vielmehr verspottet und beleidigt und jede seiner hehren Liebesbezeugungen auf entehrende Weise in den Schmutz zieht. Erst als die Dirne aufgrund ihres lasterhaften Lebenswandels an Schwindsucht zu sterben droht, willigt sie in die Beziehung zum Grafen ein, der sie auf diverse Kuraufenthalte mitnimmt und somit nicht nur für ihre Genesung, sondern auch für ein besseres Leben sorgt. Während der Graf in der Beziehung seine Erfüllung findet, stellt sie für Stanislawa nurmehr eine willkommene, eigennützige Gelegenheit dar: "Und als sie dann anfing zu lieben - und als sie liebt - - liebte sie doch nicht ihn, sondern nur seine grosse Liebe." Mit anderen Worten: Sie nutzt des Grafen Gefühle nach Strich und Faden aus, quält ihn weiterhin seelisch und hintergeht in sogar mit einem seiner Freunde. Doch nichts vermag die grosse Liebe des Grafen zu erschüttern, weshalb Stanislawa eine letzte Perfidie ersinnt. Kurz vor ihrem Tod lässt sich zur Katholiken taufen, um dem streng gläubigen Grafen das Gelübde abzunehmen, ihr letzter Wille wortgetreu zu erfüllen, der darin besteht, dass ihre Gebeine drei Jahre nach dem Tod in einer Urne der Familienkapelle beigesetzt werden. Da dieser Wunsch nicht aussergewöhnlich ist, weil er der Tradition entspricht, wundert sich der Graf, weshalb sie ihn darauf beim Glauben schwören liess. Erst als er nach drei Jahren das Grab ausheben lässt, erkennt er schlagartig den Grund: Stanislawa hat ihren toten Körper konservieren lassen, so dass er auch nach drei Jahren keineswegs verweste, sondern in strahlender Schönheit vor ihm liegt. Um ihren letzten Willen zu erfüllen, sieht sich der Graf also gezwungen, den bezaubernden Leichnam eigenhändig zu zerstückeln, damit er in die Urne passt. Mit wahnsinnigem, übergeschnapptem Gelächter macht er sich ans grausame Werk, an die letzte Demütigung, die ihm Stanislawa post mortem zugedacht hat. Und auch sie lacht ihn noch vom Grab heraus aus.
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