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Sonntag, 17. März 2024

Ror Wolf: Fortsetzung des Berichts (1964)

Weshalb heisst das Buch «Fortsetzung des Berichts»? Weil es dort beginnt, wo es aufhört, und dort endet, wo es wieder anfängt, sich also beliebig fortsetzt. Wie eine Gödel’sche Schlaufe sind zwei Erzählstränge zu einem infiniten Regress ineinander verzahnt. Wobei ‘verzahnt’ genau das richtige Wort ist, weil es den Bildbereich des Beissens und Essens aufruft, der ein zentrales Motiv der Geschichte ist. Der eine Erzählstrang schildert eine üppige Tafelrunde, zu der der namenlose Ich-Erzähler nach einem langen Spaziergang stösst. Der erste Abschnitt schildert, wie er am Tisch Platz nimmt. Der andere Erzählstrang, der stets alternierend folgt, berichtet vom Aufbruch des Erzählers, wie er seine Wohnung mit der Frau und ihren kranken Verwandten verlässt und sich auf den Fussmarsch begibt, der schliesslich bei der Tafelrunde endet, mit der die Geschichte beginnt. So beisst sich die Erzählung quasi selbst in den Schwanz, wie die "Werre" an einer Stelle des Buchs, die so zum allegorischen Tier des narrativen Verfahrens wird: "wie der Vorderleib schon nach einer kleinen Weile damit beschäftigt ist unter Ausscheidung schleimiger Bestandteile heißhungrig den weichen Hinterleib zu verzehren". Nimmt man diese Allegorie ernst, in der unverkennbar das Ouroboros-Motiv anklingt, dann hat Ror Wolf einen sich selbst verschlingenden Text geschrieben.

Die Geschichte verschlingt sich auch deshalb, weil die hyperpräzise, jede Einzelheit erfassende Erzählweise weniger zur Genauigkeit beiträgt, als dass sie alles zum Flimmern bringt. Der Fokus ist zu nah dran, als dass sich klare Konturen erkennen liessen. Was sich zwischen Aufbruch und Ankunft des Erzählers alles ereignet, ist deshalb nicht so leicht nachzuerzählen. Zu den äusseren Ereignissen auf dem Spaziergang treten Erinnerungen, Rückblenden und Vorstellungen des Erzählers sowie etliche Geschichten einer Figur namens Wobser, die sich dem Erzähler gleich zu Beginn an die Fersen heftet: hinter ihm hergeht, ihn einzuholen versucht, ihn anruft, an sein Gedächtnis appelliert: "Mein Guter, höre ich, erinnern Sie sich, höre ich, Sie haben es nicht vergessen, höre ich, hören Sie doch, höre ich, dieser Abend, die Ereignisse dieses Abends, höre ich". Lange Zeit kann oder will sich der Erzähler nicht erinnern, bis die rückläufige Erzählung schliesslich auf das Ereignis zusteuert, von dem der Bericht seinen Ausgang nahm: Wobsers Vater stürzte sich in dem Moment vom Dach, als der Ich-Erzähler aus seinem Haus tritt bzw. in das Haus der Tischgesellschaft eintritt. So klar wird das nicht, weil sich auch hier wieder zwei Enden der Erzählung verschlingen.

Die Rückblenden und Imaginationen nennt das erzählende Ich Bilder. Es sind häufig Bilder von Zerfall, Verwesung, Kadavern, Tod, Mord, Verstümmelung, was die Thematik des Essens einerseits auf eine ganz existentielle Ebene führt, andererseits auch mit der zergliedernden und zerteilenden Erzählweise korrespondiert, in der oft - wie in der Geschichte von der abhackten Hand des Sohnes - einzelne Gliedmassen von den Körpern abgetrennt erscheinen und sich Einzelheiten vom Gesamtbild lösen. Ror Wolf, der später nicht von ungefähr das Pseudonym Raoul Tranchierer wählt, verfolgt eine sezierende Schreibweise, die der minutiösen Beschreibungstechnik im "Mikro-Roman" Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) von Peter Weiss  einiges verdankt. Höhepunkt des gesamten Buchs ist zweifellos der in seinem Detailgrad bis ins Absurde beschriebene Befreiungsversuch von einem Fliegenfänger, der am Schuh des Erzählers kleben geblieben ist und den er vergeblich wieder abzuschütteln versucht, weil er stets wieder an dem Fuss oder der Hand haften bleibt, mit dem respektive der er sich davon zu befreien suchte. Ein zum Schreien verzweifelt komische Szene, die über zwei Seiten ausgedehnt wird, während alle am Tisch schon auf den Erzähler warten und sich fragen, wo er bloss steckengeblieben ist.

Zuweilen erinnert dieses Debüt auch an die repetitive monologische Prosa Thomas Bernhards, der ein Jahr zuvor mit Frost seinen ersten Roman vorlegte. Die Stilverwandtschaft ist stellenweise verblüffend, wobei Ror Wolf bereits jene Inklination ins Bizarre und Irrationale erkennen lässt, die seine späteren Texte auszeichnen.