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Montag, 14. April 2025

Ror Wolf: Pilzer und Pelzer (1967)

Drei Jahre nach Ror Wolfs Debut mit Fortsetzung des Berichts setzt Pilzer und Pelzer das narrative Verfahren konsequent fort, ja greift das serielle Prinzip der Fortsetzung bereits im Untertitel auf, der "Eine Abenteuerserie" verspricht. Das klingt nach Kioskroman, nach einem Trivialgenre, das Ror Wolf zwar lustvoll bedient, aber keineswegs erfüllt. Wer eine Geschichte mit einem simpel gestrickten, nachvollziehbaren Spannungsbogen erwartet, der liegt hier sicherlich falsch, denn der Autor setzt alles daran, Erzählkonventionen auf Schritt und Tritt zu sabotieren, etwa durch mutwillig eingestreute Satzanweisungen: "Punkt neuer Abschnitt". Dabei geschieht eigentlich ungeheuer viel in dem Roman, nur verbleibt das Meiste in Ansätzen stecken, findet nur andeutungsweise oder gar keine Erwähnung, weil es der Erzähler als bekannt voraussetzt oder nicht der Rede wert hält. Eine Poetik des Vagen und Ungefähren durchzieht diese Prosa, die dadurch ihren eigenen Reiz entfaltet und eine Spannung erzeugt, die nicht in der Handlung, sondern im obskuren Erzählverfahren selbst begründet liegt, das Erwartungen weckt, die ständig unerfüllt unterlaufen werden. 

Es beginnt schon mit dem Titel: Pilzer und Pelzer. Am Ende des Romans weiss man weder, wer die beiden sind, noch ob es sie überhaupt gibt - oder doch nur eingebildete Geschöpfe sind. Für den Erzähler sind sie kaum voneinander zu unterscheiden und er zweifelt mitunter an ihrer Existenz. Am Schluss verlieren sie sich - nach einem epischen Boxkampf im hohen Norden - "in die weisse knisternde Landschaft" aus ewigem Schnee. Neben dem Duo Pilzer und Pelzer sind da noch die Witwe, der Kapitän und der Matrose sowie weitere Figuren, die wie in einem Namedropping genannt werden. Sie alle tauchen eher wie Schemen auf denn als wirkliche Figuren. Es sind narrative Pappkameraden, mit denen der Erzähler so willkürlich verfahren kann, wie mit allem, was ihm unter die schreibenden Finger gerät. Es hat somit wenig Sinn, mehr noch ist es unmöglich, die Handlung des Romans, soweit überhaupt davon die Rede zu sein kann, wiederzugeben. Stattdessen soll versucht werden, auf ein paar Besonderheiten dieser Prosa hinzuweisen, welche die Lektüre zum Ereignis machen, das sich nicht inhaltlich begründen lässt.

Es handelt sich um ein grossartiges Antinarrativ, das irgendwo in der Tradition von Laurence Sterne und seinem Tristam Shandy zu verorten ist. Während dort allerdings Tristram nie richtig dazu kommt, seine Lebensgeschichte zu schildern, weil er ständig auf alles abschweift, was ihm in den Sinn kommt, und sich daher die Erzählung von selbst aufzuheben beginnt, resultiert derselbe Effekt bei Ror Wolf aus einer Technik der narrativen Diffusion, der den "Gang der Ereignisse" oder den jeweiligen "Fall" ins Unbestimmte auflöst, so dass er vor den Augen des Lesers verschwimmt. Stets wird zwar mit den Stilmitteln des Abenteuerromans operiert und spielt ironisch mit Floskeln der Spannungserzeugung, die meistens jedoch im luftleeren Raum hängen bleiben. Auf die Spitze getrieben an Stellen wie dieser: "Ich sah auf die Uhr, elf Uhr, es ist etwas passiert, sagte ich, ich nahm mein Notizbuch und schrieb: elf Uhr, es ist etwas passiert. Klar und deutlich." Was aber passiert ist, erfahren die Leser nie. Der Abschnitt endet auch mit dem relativierenden Kommentar: "doch ich glaube, das war nicht einmal das Problem des Tages."

Stets ist "es", "etwas" oder "vielleicht etwas Derartiges" im Gange, ohne dass es näher erläutert oder ausgeführt würde. Entweder weil es wie hier gänzlich ausgeklammert wird oder weil der Erzähler nur vage Andeutungen gibt. Ein Kapitel beginnt zum Beispiel: "Ich habe von einem Wachsen gesprochen, es ist also so, dass etwas wächst, während ich schreibe und weiterschreibe, aus den Ritzen und Fugen heraus [...]" Und fährt dann fort dieses "etwas" näher zu umschreiben, das durch den Beschreibungsexzess keineswegs fassbarer, nur umso undeutlicher wird: "[...] aufgeblasen jawohl spaltig aufklaffend fleischig mit Ritzen und Zipfeln aufspringend spitz an salzigen Orten buschigen Hängen Gruben und Pfützen Geröll wüsten Plätzen zum Küchengebrauch vielleicht Juli August graugrün mit klebrigen Haaren [...]" usw. Über eine Seite lang reihen sich scheinbar zusammenhangslose Worte aneinander, so dass dieses "etwas" zum reinen Sprachereignis wird. Es stellt sich ein Wahrnehmungseffekt wie bei einem Wimmelbild ein: Vor lauter Details bleibt alles diffus.

Diese Poetik des unbestimmten "Etwas" ist charakteristisch für den gesamten Text. Insofern kommt dem Kapitel, das schlicht mit "Etwas" überschrieben ist, einen besonderen poetologischen Stellenwert zu. Dort wird ebenfalls ein Wuchern beschrieben, das die Witwe wie eine Art Ektoplasma befällt: "Plötzlich aus dem geöffneten Mund etwas pflanzartig etwas keimweiss herauskriechend und weiterwachsen mit unerhörter Geschwindigkeit." Dieses "etwas" mutiert zu "filzigen Pilzfadengestrüppen" und es droht ferner, das "pelzig entgegenwüchse". Dass hier die Namen der beiden vermeintlichen Protagonisten Pilzer und Pelzer anklingen, lässt aufhorchen. Sind Pilzer und Pelzer nichts anderes als die Allegorie der sich zersetzenden Textstruktur, parasitäre Elemente sprachlicher Wucherung und Metastasen? Immerhin lassen sich ihre Namen auch als die personifizierten postmodernen Konzepte des Rhizoms (Deleuze/Guattari), der Wurzelflechten von Pilzen, und der Greffologie (Derrida), zu Deutsch auch Pfropfen oder Pelzen, verstehen.

Der Text Pilzer und Pelzer pfropft bzw. pelzt sich wie ein parasitärer Pilz auf das Trivialgenre des Abenteuerromans, um es rhizomatisch auszuhöhlen. Damit gleicht das narrative Verfahren den beigefügten Collagen, die aus alten Kupferstichen ebensolcher Unterhaltungsliteratur zu surrealen Kombinationen montiert sind. Diese stehen dabei nur in losem Bezug zum Text; gewisse motivische Übereinstimmungen bleiben erkennbar, ohne aber direkt miteinander zu korrespondieren. Die Collagen fungieren nicht als Illustrationen des Text. Vielmehr scheint es sich eher umgekehrt zu verhalten, als hätte sich der Autor von diesem Bildern in freier Assoziation anregen lassen und gewisse Elemente übernommen, um wenigstens ansatzweise über ein Handlungsgerüst zu verfügen, natürlich nur um es sofort wieder zu unterlaufen: "und mit einem Mal Ruhe sonst nichts zu berichten im Grunde wollte ich etwas anderes erzählen".

Sonntag, 17. März 2024

Ror Wolf: Fortsetzung des Berichts (1964)

Weshalb heisst das Buch «Fortsetzung des Berichts»? Weil es dort beginnt, wo es aufhört, und dort endet, wo es wieder anfängt, sich also beliebig fortsetzt. Wie eine Gödel’sche Schlaufe sind zwei Erzählstränge zu einem infiniten Regress ineinander verzahnt. Wobei ‘verzahnt’ genau das richtige Wort ist, weil es den Bildbereich des Beissens und Essens aufruft, der ein zentrales Motiv der Geschichte ist. Der eine Erzählstrang schildert eine üppige Tafelrunde, zu der der namenlose Ich-Erzähler nach einem langen Spaziergang stösst. Der erste Abschnitt schildert, wie er am Tisch Platz nimmt. Der andere Erzählstrang, der stets alternierend folgt, berichtet vom Aufbruch des Erzählers, wie er seine Wohnung mit der Frau und ihren kranken Verwandten verlässt und sich auf den Fussmarsch begibt, der schliesslich bei der Tafelrunde endet, mit der die Geschichte beginnt. So beisst sich die Erzählung quasi selbst in den Schwanz, wie die "Werre" an einer Stelle des Buchs, die so zum allegorischen Tier des narrativen Verfahrens wird: "wie der Vorderleib schon nach einer kleinen Weile damit beschäftigt ist unter Ausscheidung schleimiger Bestandteile heißhungrig den weichen Hinterleib zu verzehren". Nimmt man diese Allegorie ernst, in der unverkennbar das Ouroboros-Motiv anklingt, dann hat Ror Wolf einen sich selbst verschlingenden Text geschrieben.

Die Geschichte verschlingt sich auch deshalb, weil die hyperpräzise, jede Einzelheit erfassende Erzählweise weniger zur Genauigkeit beiträgt, als dass sie alles zum Flimmern bringt. Der Fokus ist zu nah dran, als dass sich klare Konturen erkennen liessen. Was sich zwischen Aufbruch und Ankunft des Erzählers alles ereignet, ist deshalb nicht so leicht nachzuerzählen. Zu den äusseren Ereignissen auf dem Spaziergang treten Erinnerungen, Rückblenden und Vorstellungen des Erzählers sowie etliche Geschichten einer Figur namens Wobser, die sich dem Erzähler gleich zu Beginn an die Fersen heftet: hinter ihm hergeht, ihn einzuholen versucht, ihn anruft, an sein Gedächtnis appelliert: "Mein Guter, höre ich, erinnern Sie sich, höre ich, Sie haben es nicht vergessen, höre ich, hören Sie doch, höre ich, dieser Abend, die Ereignisse dieses Abends, höre ich". Lange Zeit kann oder will sich der Erzähler nicht erinnern, bis die rückläufige Erzählung schliesslich auf das Ereignis zusteuert, von dem der Bericht seinen Ausgang nahm: Wobsers Vater stürzte sich in dem Moment vom Dach, als der Ich-Erzähler aus seinem Haus tritt bzw. in das Haus der Tischgesellschaft eintritt. So klar wird das nicht, weil sich auch hier wieder zwei Enden der Erzählung verschlingen.

Die Rückblenden und Imaginationen nennt das erzählende Ich Bilder. Es sind häufig Bilder von Zerfall, Verwesung, Kadavern, Tod, Mord, Verstümmelung, was die Thematik des Essens einerseits auf eine ganz existentielle Ebene führt, andererseits auch mit der zergliedernden und zerteilenden Erzählweise korrespondiert, in der oft - wie in der Geschichte von der abhackten Hand des Sohnes - einzelne Gliedmassen von den Körpern abgetrennt erscheinen und sich Einzelheiten vom Gesamtbild lösen. Ror Wolf, der später nicht von ungefähr das Pseudonym Raoul Tranchierer wählt, verfolgt eine sezierende Schreibweise, die der minutiösen Beschreibungstechnik im "Mikro-Roman" Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) von Peter Weiss  einiges verdankt. Höhepunkt des gesamten Buchs ist zweifellos der in seinem Detailgrad bis ins Absurde beschriebene Befreiungsversuch von einem Fliegenfänger, der am Schuh des Erzählers kleben geblieben ist und den er vergeblich wieder abzuschütteln versucht, weil er stets wieder an dem Fuss oder der Hand haften bleibt, mit dem respektive der er sich davon zu befreien suchte. Ein zum Schreien verzweifelt komische Szene, die über zwei Seiten ausgedehnt wird, während alle am Tisch schon auf den Erzähler warten und sich fragen, wo er bloss steckengeblieben ist.

Zuweilen erinnert dieses Debüt auch an die repetitive monologische Prosa Thomas Bernhards, der ein Jahr zuvor mit Frost seinen ersten Roman vorlegte. Die Stilverwandtschaft ist stellenweise verblüffend, wobei Ror Wolf bereits jene Inklination ins Bizarre und Irrationale erkennen lässt, die seine späteren Texte auszeichnen.