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Freitag, 16. Februar 2024

Aleš Šteger: Archiv der toten Seelen (2016)

Man kennt es aus dem von J.J. Abrams produzierten Film 10 Cloverfield Lane oder aus der zweiten Staffel der Fernsehserie Fargo, wo völlig unerwartet UFOs auftauchen und für eine überraschende Wende sorgen. Mit einem ähnlichen Überraschungseffekt wartet auch - Achtung Spoiler - der Schluss von Štegers Roman auf, als sich das Theater von Maribor unvermittelt in ein gigantisches Raumschiff verwandelt, sich vom Erdboden erhebt und ein klaffendes Loch - "ein riesiger Schlund" - auf dem Theaterplatz hinterlässt. Dass diese Entfernung des bedeutendsten slowenischen Theaters ausgerechnet ins Jahr 2012 verlegt wird, als Maribor zur Europäischen Kulturstadt ernannt wurde, ist nur eine von vielen bösen Pointen in diesem Roman, der mit der Stadt und ihren Einwohnern nicht gerade zimperlich umgeht. Geschildert wird in einer Mischung aus Fantasy und Sozialkritik ein eher dystopisches Gesellschaftsbild von Korruption und Verschwörung. Sinnbildhaft steht dafür der Bau einer neuen Kanalisation, bei dem eine Röhre platzt und der gesamte Unrat an die Oberfläche gespült wird.

Der Titel in der deutschen Übersetzung - im Original lautet er schlicht Odpusti (verzeihen, vergeben) - spielt auf Gogols Sozialsatire Die toten Seelen an. Vermutlich liegt im Anspruch, das Sittenbild einer 'seelenlosen' Gesellschaft zu bieten, die Gemeinsamkeit zu Gogols Roman, mit dem Štegers Geschichte ansonsten wenig gemeinsam hat, einmal abgesehen davon, dass da auch einer von Haus zu Haus zieht, allerdings nicht um tote Seelen zu kaufen, sondern um sie zu befreien. Alex Bely, ehemaliger Dramaturg am Mariborer Theater, kehrt nach sechzehn Jahren in seine Heimatstadt zurück, gemeinsam mit Rosa Portero, einer Frau mit Armprothese, die sich als österreichische Journalistin ausgibt. Angeblich wollen sie eine Reportage über die Kulturhauptstadt schreiben, weshalb sie wichtige Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft um eine Interview bitten.

Doch heimlich verfolgen sie einen ganz anderen Plan. Sie wollen der Verschwörung des "Grossen Ork" auf die Spur kommen. Zu diesem Zweck hypnotisieren sie ihre Interviewpartner, schliessen sie an ein E-Meter an, um sicher zu gehen, dass sie nicht lügen, und verabreichen ihnen am Ende eine Art Pille, die sie zum Geständnis bringt, bevor sie wahnsinnig werden, in animalische Verhaltensweisen kippen oder direkt sterben. Der Roman steht somit in der Tradition des Topos vom Heimkehrer, der - hier aus noch unbekannten Motiven - mit seiner früheren Vergangenheit abrechnen will. Die Thematik der Reinigung, der Säuberung, des Auslöschens ist zentral. Lange bleibt unklar, was genau vor sich geht, und auch der Protagonist Bely entpuppt sich zunehmend als dubiose Figur mit einer Vorgeschichte als führendes Sektenmitglied bei Scientology und sodann bei einem obskuren Orden, der sich die Ausrottung der Zwillinge zum Ziel setzte. Beim Initiationsritus sollte Bely einen Zwilling töten, rettete die Person aber und flüchtet mit ihr: Es ist Rosa Portero, mit der er fortan die Mariborer High Society in Aufruhr versetzt.

Astro-Mythen, Esoterik, okkulte Seelenlehren und christliche Religion sowie wilde geschichtsphilosophische und evolutionsbiologische Theorien von der Regression der Menschheit verschmelzen zu einer diffusen neuen Kryptologie, in deren Zentrum das Symbol des Tintenfisches steht. Auf dem Körper des dubiosen 'Helden' der Geschichte zeichnen sich allmählich Tentakel ab, bis er schliesslich als Messias einer neuen Rasse mit dem UFO davonfliegt. Das Motiv des Tintenfisches wird äusserst geschickt gleich am Beginn des Romans eingeführt, ohne dass man als Leserin bereits eine Ahnung von der ganzen Tragweite hätte. Ein Restaurantbesitzer vertilgt genüsslich gegrillte Tintenfischtentakel und philosophiert über die organische Überlegenheit dieser Tiere, weil sei drei Herzen haben und einen intelligenten Körper, weshalb sie auch "Kopffüsser" genannt werden. In einem beiläufigen Smalltalk wird hier bereits angedeutet, was schliesslich den gesamten Plot dominieren wird.

Das Archiv der toten Seelen ist ein oftmals verblüffender, spannender, weil raffiniert aufgebauter Roman, der die Lesenden zunächst lange im Dunkeln tappen und nur allmählich gewisse Zusammenhänge erahnen lässt bis zum phantastischen Finale. Das alles eingebettet in eine zuweilen groteske Gesellschaftssatire, die mit einigen Anspielungen aufwartet, die der lokal nicht vertrauten Leserschaft wohl oder übel entgehen. Dass der zuerst als Lyriker hervorgetretene Autor - Archiv der toten Seelen war sein erster Roman - auch über eine gute Portion an Selbstironie verfügt, zeigt sich an dem Cameo-Auftritt als Programleiter der Europäischen Kulturhauptstadt, den er in seinem eigenen Roman für sich vorsieht, und zwar als äusserst cholerisches Naturell. Zweimal begegnet man ihm, wie er sich lauthals empört: "'Verkackte Hurensöhne, sag ihnen, sie können mich am Arsch lecken, die mit ihrer blöden Oper, der Hund soll ihre Mutter ficken!', schreit der Impressario."

Dienstag, 13. Februar 2024

Nikolaj Gogol: Die toten Seelen (1842/1852)

Es ist ein merkwürdiger Handlungsreisender, dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow: In seiner Troika (seinem Dreigespann) zieht er von Landgut zu Landgut durch die russische Provinz und versucht die Gutsbesitzer davon zu überzeugen, ihm 'tote Seelen' zu einem geringen Preis zu verkaufen oder gar zu schenken. Gemeint sind sogenannte "Revisionsseelen", das heisst alle steuerrelevanten und daher auf der Revisionsliste geführten leibeigenen Bauern der Gutsbesitzer. Da diese Listen bis zur nächsten Revision unverändert gültig bleiben, müssen die Gutsherren auch für inzwischen bereits verstorbene Bauern Kopfsteuern bezahlen. Der listige Tschitschikow will sie deshalb von dieser Steuerlast befreien, indem er ihre toten Seelen vertraglich übernimmt, jedoch nicht aus purem Altruismus, sondern um sich selbst den Anschein eines vermögenden Herren, der über hunderte von Leibeigenen gebietet, zu geben und sich damit die nötige Kreditwürdigkeit zu verschaffen. Denn seit seiner Jugend träumt der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Tschitschikow davon, ein eigenes Landgut zu besitzen.

Ein Grossteil der Romanhandlung besteht darin, Tschitschikow auf seinem Weg von Gutshof zu Gutshof zu folgen, was mit der Zeit repetitiv und daher auch ermüdend wirkt. Das einzige Spannungsmoment liegt in der lange unbeantworteten Frage nach der Motivation Tschitschikows, tote Seelen zu kaufen. Das erfährt der Leser erst zum Schluss des ersten (und einzig vollendeten) Teils, wo der Autor in einer riesigen (und in dieser Dimension wohl einmaligen) Analepse den gesamten Werdegang des Helden nacherzählt, nachdem man ihm bereits quer durch halb Russland gefolgt ist.

Diese Ausgangslage bietet dem Erzähler jedoch die Gelegenheit, der Reihe nach verschiedene Sozialcharaktere vorzuführen und sich in mitunter weit ausholende Exkurse teilweise auch satirischer Art über Land und Leute zu ergehen. Einer dieser Exkurse nutzt der Erzähler auch für eine poetologische Rechtfertigung des gesamten Romanunternehmens, das keine positiven Helden aufweisen kann. Im Gegenteil, Tschitschikow begegnet Antitypen jeglichen Couleurs: Lügnern, Betrügern, Neppern, Prahlköpfen, Geizigen wie Verschwendern - und auch er selbst ist als Hochstaplerfigur keineswegs ein Vorzeigeheld im klassischen Sinn. Auch von den gesellschaftlichen Zuständen schildert der Roman alles andere als ein harmonisches Bild: Nepotismus und Korruption sind an der Tagesordnung, wie auch das Paradestück einer Amtssatire zeigt, wie man sie erst wieder bei Franz Kafka lesen wird, wo die Absurdität, der Leerlauf und nicht zuletzt auch der Filz eines gigantischen Verwaltungsapparats auf die Schippe genommen.

Der Erzähler schätzt jene Schriftsteller glücklich, welche "an allen langweiligen oder gar abstoßenden und in ihrer Erbärmlichkeit kränkenden Charakteren vorübergehen" und sich jene Personen aussuchen könne, "welche die wahre menschliche Würde zur Geltung bringen", um der Leserschaft "das Idealbild des Menschen" vor Augen zu führen. Die anderen Schriftsteller hingegen, die das Wagnis auf sich nehmen, das zu zeigen, was man lieber geflissentlich übersieht, nämlich den "ganzen Leerlauf der kalten, innerliche zerrissenen, alltäglichen Charaktere, die uns auf unserer bitteren und oft öden irdischen Bahn bedrängen", diese Schriftsteller haben einen viel schwierigeren Stand, weil Kritiker nur allzu rasch vom Inhalt auf den Verfasser schliessen. Zweifelsohne zählt sich auch der Gogolsche Erzähler zu dieser unrühmlichen zweiten Sorte, weshalb ihm besonders daran gelegen ist, die Leserschaft in einem längeren Exkurs vom Wert seines Unternehmens zu überzeugen. Dazu wählt er ein optisches Gleichnis: Es sei ebenso ehrenwert, (mit dem Teleskop) die entfernten Gestirne am Himmel vor das Auge zu zaubern, wie (mit dem Mikroskop) die Regungen der unscheinbarsten Wesen sichtbar zu machen.

Die romantische Prägung des Fragment gebliebenen Romans ist noch deutlich in solchen Exkursen des Erzählers erkennbar, mit denen er sich direkt an die Leserschaft wendet oder sein Vorgehen legitimieren will. Nicht wenige Exkurse nutzt er auch, um eben erzählte Episoden ins Allgemeine zu wenden, so dass sie leicht als Allegorie auf russische Zustände zu verstehen sind. Denn das Einsammeln von toten Seelen ist gleichsam nur ein narrativer Vorwand, um ein satirisches Sittengemälde der vielbeschworenen russischen Seele auszubreiten, die sich durch den mikroskopisch-sezierenden Blick des auktorialen Erzählers als nahezu ebenso leer und tot erweist. Besonders deutlich zeigt sich dieser allegorisch Zug in der Schlussapotheose des ersten Teils, wo die Troika Tschitschikows sinnbildlich mit Russland gleichgesetzt wird.

Tatsächlich ist hinter dem vordergründigen Spott und der Satire ein patriotischer, zuweilen sogar reaktionärer Zug vernehmbar, der im zweiten, unvollendeten Teil noch deutlicher zum Ausdruck kommt, wo das Lob von Tradition und Landwirtschaft beschworen und positiv in Stellung gebracht wird gegen den Sittenzerfall in den Städten, die bereits unrettbar von der westlichen Dekadenz eingenommen sind.