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Sonntag, 17. November 2024

Dino Buzzati: Die Mauern der Stadt Anagoor. Erzählungen (1987)

Das Grauen nimmt kein Ende. Nachdem das Lesefrüchtchen zu Hanns Heinz Ewers und H.P. Lovecraft griff, zieht es nun Dino Buzzati aus dem Regal, der freilich eine ganz andere Art von Schauergeschichten verfasste, die weniger dem blanken Horror, sondern - wenn man so will - eher einem metaphysischen Gruseln verpflichtet sind. Meistens fungieren die Erzählung zwar ebenfalls nach dem Prinzip, dass etwas Unerklärliches oder Übersinnliches in den Alltag tritt und die Geschehnisse fortan schicksalhaft bestimmt, Buzzati im Unterschied zu Ewers und Lovecraft jedoch mehr an der psychologischen Seite solcher Phänomene interessiert ist, weshalb seine Erzählungen oft ins Allegorische und Parabelhafte driften. Die mitunter phantastischen Geschehnisse wollen sich als Gleichnisse verstanden wissen. Nicht völlig zu Unrecht ist der 1906 in Belluno bei St. Pellegrino geborene Autor und Journalist daher schon zum 'italienischen Kafka' erklärt worden.

Die Titelgeschichte des vorliegenden Bandes Die Mauern der Stadt Anagoor mit Erzählungen aus den 1940er und 1950er Jahren liesse etwa sich leicht als Variante von Kafkas Türhüter-Parabel begreifen. Ein namenloser Ich-Erzähler wird in der Sahara an einen Ort geführt, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist: eine mit hohen Mauern umgebene Stadt mitten in der Wüste. Dort lagern unzählige Menschen und warten bereits seit Jahren darauf, dass sich das Tor öffnet, um eingelassen zu werden. Dabei steht nicht einmal fest, ob die Stadt auch wirklich bewohnt ist. Es kursiert lediglich die Legende, dass einst ein "einziger Mensch", ein Pilger der sich zufällig vor den Toren aufhielt und nicht einmal wusste, dass es sich um die begehrte Stadt Anagoor handelt, Einlass erhielt. Das allein verschafft den Wartenden ein den Glauben einer "nahen Glückseligkeit". Dem Erzähler jedoch reisst nach 25 Jahren der Geduldsfaden und er bricht sein Lager ab, was von den anderen mit der Bemerkung quittiert wird: "Du verlangst zuviel vom Leben".

Die Anspielung auf Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" ist zu offensichtlich, auf deren Folie sich auch die Schlusspointe der Erzählung erschliesst: Der Mann vom Lande bei Kafka wurde erst bei seinem Tod eingelassen. Das Warten vor dem Tor ist ein existentielles Gleichnis. Auch sonst scheint Buzzati intertextuell eng mit einigen Klassikern der phantastischen Moderne verknüpft. Ein übermütiger Mensch präsentiert eine Art Bartleby-Figur, in Der Hund, der Gott gesehen hatte stirbt ein Eremit ausgestreckt wie Robert Walser im Schnee (der Text erschien allerdings zwei Jahre vor Walser Tod) und eine Erzählung trägt mit Der Mantel denselben Titel wie Gogols berühmte Novelle. Auch Jorge Luis Borges liesse sich als literarischer Anverwandter nennen, weisen seine dichten, paradoxen Kurzgeschichten doch etliche Parallelen mit Buzzatis Prosa auf. Ohne dass damit eine bewusste Bezugnahme auf die genannten Autoren behauptet werden soll, lässt sich Buzzatis Prosa motivgeschichtlich in diesem Kontext verorten, auch wenn sein Name im Vergleich weniger bekannt sein dürfte. Als Entdeckung lohnt sich Buzzati aber allemal.

Wie Borges geht auch Buzzati meist von einer abstraktem, metaphysischem Problem aus, das er zu einer parabolischen, gleichnishaften Erzählung ausgestaltet. So etwa in der Eingangserzählung Wenn es dunkelt. Ein erfolgreicher Mann in seinen besten Jahren wird auf dem Dachboden mit seinem kindlichen Alter Ego konfrontiert. Während er von seinem früheren Ich Bewunderung und Achtung vor seiner Lebensleistung erwartet, zeigt sich das Kind eher enttäuscht von seinem späteren Selbst. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, das Streben nach einem erfüllten Dasein, aber auch die sich wandelnde Selbstwahrnehmung im Laufe der Zeit wird hier in eine spannungsreiche Konstellation gebracht. Ebenfalls auf einem Dachboden spielt die mitunter längste Erzählung Die Bodenkammer. Hier taucht plötzlich eine Kiste mit Äpfeln auf, so verlockend, dass ein Maler nicht widerstehend kann und durch den Biss in den Apfel in ekstatische Rauschzustände gerät, die er fortan stets wieder aufsuchen will. Was folgt ist - unter dem Motiv des biblischen Sündenfalls - das drastische Gleichnis einer Sucht, die den Betroffenen selbstquälerisch zwischen auferlegten Verboten und permanenter Selbstüberlistung oszillieren lässt.

Das Einbrechen des Irrationalen oder Übersinnlichen in das Leben eines Menschen bildet ein wiederkehrendes Motiv bei Buzzati. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt er in einer präzisen, schnörkellosen Sprache die Psychogramme seiner Figuren. Das kann eine Kiste Äpfel sein, aber auch der Tod, eine unheilbare Krankheit wie Aussatz oder ein Tier wie ein gigantischer Igel oder - wie in der zweiten längeren Erzählung - ein herumstreunender Hund, von dem die gesamte Bevölkerung annimmt, es handle sich um den Vierbeiner des kürzlich verstorbenen Heiligen auf dem Hügel. Sie verfallen deshalb auf die fixe Idee, dass Gott höchstpersönlich sie durch dieses Tier observiere, weshalb sie in seiner Gegenwart ein gänzlich anderes Verhalten an den Tag legen und auf ihre heimlichen Sünden verzichten. Sie steigern sich sogar richtiggehend in einen Kult des Hundes hinein und verehren ihn wie ein Totemtier, bis sie auf das Grab des Heiligen pilgern und dort ein Hundeskelett erblicken, das ihnen schlagartig vor Augen führt, dass sie einem falschen Glauben aufgesessen sind: Das angebetete Tier war irgendein Strassenköter, der Hund des Heiligen ist längst mit seinem Herrn verschieden.

Der Band erschien in der "Reihe religiöser Erzählungen", weshalb die Herausgeberin Elisabeth Antkowak ihre Auswahl auf Texte stützte, in denen Fragen nach Gott und Tod, Gut und Böse, Gnade und Schicksal im Zentrum stehen. Im eigentlichen Sinne religiös können die Erzählungen dennoch nicht genannt werden, da sie einerseits keine spezifischen Glaubensinhalte transportieren, zum anderen auch in keinster Weise erbaulich sind, wie das die Herausgeberin gern suggerieren möchte, wenn sie insbesondere auf den Aspekt der Hoffnung abhebt. Doch sind die allermeisten Erzählungen alles andere als hoffnungsvoll, im Gegenteil enden sie oft auf die fatalste Weise, ohne Aussicht auf Trost, Rettung oder Umkehr. Der Verlauf jeder Erzählung steuert unerbittlich immer in Richtung Verdammnis zu. Wo die Herausgeberin da noch Hoffnungsschimmer aufblitzen sieht, bleibt ein Rätsel, heisst es an einer Stelle doch vielmehr unmissverständlich explizit: "Keine Hoffnung!" und "kein Heilmittel".

Der Mensch, so sehr er sich nach Transzendenz sehnt und sein Wunsch nach göttlicher Gnade zum Ausdruck kommt - bei Buzzati wird sie ihm fast durchwegs verwehrt. Sie sind von Anbeginn Verdammte, die sich ihrem Schicksal schliesslich widerstandslos ergeben. Alles andere wäre literarisch auch wenig erspriesslich. 

Freitag, 16. Februar 2024

Aleš Šteger: Archiv der toten Seelen (2016)

Man kennt es aus dem von J.J. Abrams produzierten Film 10 Cloverfield Lane oder aus der zweiten Staffel der Fernsehserie Fargo, wo völlig unerwartet UFOs auftauchen und für eine überraschende Wende sorgen. Mit einem ähnlichen Überraschungseffekt wartet auch - Achtung Spoiler - der Schluss von Štegers Roman auf, als sich das Theater von Maribor unvermittelt in ein gigantisches Raumschiff verwandelt, sich vom Erdboden erhebt und ein klaffendes Loch - "ein riesiger Schlund" - auf dem Theaterplatz hinterlässt. Dass diese Entfernung des bedeutendsten slowenischen Theaters ausgerechnet ins Jahr 2012 verlegt wird, als Maribor zur Europäischen Kulturstadt ernannt wurde, ist nur eine von vielen bösen Pointen in diesem Roman, der mit der Stadt und ihren Einwohnern nicht gerade zimperlich umgeht. Geschildert wird in einer Mischung aus Fantasy und Sozialkritik ein eher dystopisches Gesellschaftsbild von Korruption und Verschwörung. Sinnbildhaft steht dafür der Bau einer neuen Kanalisation, bei dem eine Röhre platzt und der gesamte Unrat an die Oberfläche gespült wird.

Der Titel in der deutschen Übersetzung - im Original lautet er schlicht Odpusti (verzeihen, vergeben) - spielt auf Gogols Sozialsatire Die toten Seelen an. Vermutlich liegt im Anspruch, das Sittenbild einer 'seelenlosen' Gesellschaft zu bieten, die Gemeinsamkeit zu Gogols Roman, mit dem Štegers Geschichte ansonsten wenig gemeinsam hat, einmal abgesehen davon, dass da auch einer von Haus zu Haus zieht, allerdings nicht um tote Seelen zu kaufen, sondern um sie zu befreien. Alex Bely, ehemaliger Dramaturg am Mariborer Theater, kehrt nach sechzehn Jahren in seine Heimatstadt zurück, gemeinsam mit Rosa Portero, einer Frau mit Armprothese, die sich als österreichische Journalistin ausgibt. Angeblich wollen sie eine Reportage über die Kulturhauptstadt schreiben, weshalb sie wichtige Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft um eine Interview bitten.

Doch heimlich verfolgen sie einen ganz anderen Plan. Sie wollen der Verschwörung des "Grossen Ork" auf die Spur kommen. Zu diesem Zweck hypnotisieren sie ihre Interviewpartner, schliessen sie an ein E-Meter an, um sicher zu gehen, dass sie nicht lügen, und verabreichen ihnen am Ende eine Art Pille, die sie zum Geständnis bringt, bevor sie wahnsinnig werden, in animalische Verhaltensweisen kippen oder direkt sterben. Der Roman steht somit in der Tradition des Topos vom Heimkehrer, der - hier aus noch unbekannten Motiven - mit seiner früheren Vergangenheit abrechnen will. Die Thematik der Reinigung, der Säuberung, des Auslöschens ist zentral. Lange bleibt unklar, was genau vor sich geht, und auch der Protagonist Bely entpuppt sich zunehmend als dubiose Figur mit einer Vorgeschichte als führendes Sektenmitglied bei Scientology und sodann bei einem obskuren Orden, der sich die Ausrottung der Zwillinge zum Ziel setzte. Beim Initiationsritus sollte Bely einen Zwilling töten, rettete die Person aber und flüchtet mit ihr: Es ist Rosa Portero, mit der er fortan die Mariborer High Society in Aufruhr versetzt.

Astro-Mythen, Esoterik, okkulte Seelenlehren und christliche Religion sowie wilde geschichtsphilosophische und evolutionsbiologische Theorien von der Regression der Menschheit verschmelzen zu einer diffusen neuen Kryptologie, in deren Zentrum das Symbol des Tintenfisches steht. Auf dem Körper des dubiosen 'Helden' der Geschichte zeichnen sich allmählich Tentakel ab, bis er schliesslich als Messias einer neuen Rasse mit dem UFO davonfliegt. Das Motiv des Tintenfisches wird äusserst geschickt gleich am Beginn des Romans eingeführt, ohne dass man als Leserin bereits eine Ahnung von der ganzen Tragweite hätte. Ein Restaurantbesitzer vertilgt genüsslich gegrillte Tintenfischtentakel und philosophiert über die organische Überlegenheit dieser Tiere, weil sei drei Herzen haben und einen intelligenten Körper, weshalb sie auch "Kopffüsser" genannt werden. In einem beiläufigen Smalltalk wird hier bereits angedeutet, was schliesslich den gesamten Plot dominieren wird.

Das Archiv der toten Seelen ist ein oftmals verblüffender, spannender, weil raffiniert aufgebauter Roman, der die Lesenden zunächst lange im Dunkeln tappen und nur allmählich gewisse Zusammenhänge erahnen lässt bis zum phantastischen Finale. Das alles eingebettet in eine zuweilen groteske Gesellschaftssatire, die mit einigen Anspielungen aufwartet, die der lokal nicht vertrauten Leserschaft wohl oder übel entgehen. Dass der zuerst als Lyriker hervorgetretene Autor - Archiv der toten Seelen war sein erster Roman - auch über eine gute Portion an Selbstironie verfügt, zeigt sich an dem Cameo-Auftritt als Programleiter der Europäischen Kulturhauptstadt, den er in seinem eigenen Roman für sich vorsieht, und zwar als äusserst cholerisches Naturell. Zweimal begegnet man ihm, wie er sich lauthals empört: "'Verkackte Hurensöhne, sag ihnen, sie können mich am Arsch lecken, die mit ihrer blöden Oper, der Hund soll ihre Mutter ficken!', schreit der Impressario."

Dienstag, 13. Februar 2024

Nikolaj Gogol: Die toten Seelen (1842/1852)

Es ist ein merkwürdiger Handlungsreisender, dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow: In seiner Troika (seinem Dreigespann) zieht er von Landgut zu Landgut durch die russische Provinz und versucht die Gutsbesitzer davon zu überzeugen, ihm 'tote Seelen' zu einem geringen Preis zu verkaufen oder gar zu schenken. Gemeint sind sogenannte "Revisionsseelen", das heisst alle steuerrelevanten und daher auf der Revisionsliste geführten leibeigenen Bauern der Gutsbesitzer. Da diese Listen bis zur nächsten Revision unverändert gültig bleiben, müssen die Gutsherren auch für inzwischen bereits verstorbene Bauern Kopfsteuern bezahlen. Der listige Tschitschikow will sie deshalb von dieser Steuerlast befreien, indem er ihre toten Seelen vertraglich übernimmt, jedoch nicht aus purem Altruismus, sondern um sich selbst den Anschein eines vermögenden Herren, der über hunderte von Leibeigenen gebietet, zu geben und sich damit die nötige Kreditwürdigkeit zu verschaffen. Denn seit seiner Jugend träumt der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Tschitschikow davon, ein eigenes Landgut zu besitzen.

Ein Grossteil der Romanhandlung besteht darin, Tschitschikow auf seinem Weg von Gutshof zu Gutshof zu folgen, was mit der Zeit repetitiv und daher auch ermüdend wirkt. Das einzige Spannungsmoment liegt in der lange unbeantworteten Frage nach der Motivation Tschitschikows, tote Seelen zu kaufen. Das erfährt der Leser erst zum Schluss des ersten (und einzig vollendeten) Teils, wo der Autor in einer riesigen (und in dieser Dimension wohl einmaligen) Analepse den gesamten Werdegang des Helden nacherzählt, nachdem man ihm bereits quer durch halb Russland gefolgt ist.

Diese Ausgangslage bietet dem Erzähler jedoch die Gelegenheit, der Reihe nach verschiedene Sozialcharaktere vorzuführen und sich in mitunter weit ausholende Exkurse teilweise auch satirischer Art über Land und Leute zu ergehen. Einer dieser Exkurse nutzt der Erzähler auch für eine poetologische Rechtfertigung des gesamten Romanunternehmens, das keine positiven Helden aufweisen kann. Im Gegenteil, Tschitschikow begegnet Antitypen jeglichen Couleurs: Lügnern, Betrügern, Neppern, Prahlköpfen, Geizigen wie Verschwendern - und auch er selbst ist als Hochstaplerfigur keineswegs ein Vorzeigeheld im klassischen Sinn. Auch von den gesellschaftlichen Zuständen schildert der Roman alles andere als ein harmonisches Bild: Nepotismus und Korruption sind an der Tagesordnung, wie auch das Paradestück einer Amtssatire zeigt, wie man sie erst wieder bei Franz Kafka lesen wird, wo die Absurdität, der Leerlauf und nicht zuletzt auch der Filz eines gigantischen Verwaltungsapparats auf die Schippe genommen.

Der Erzähler schätzt jene Schriftsteller glücklich, welche "an allen langweiligen oder gar abstoßenden und in ihrer Erbärmlichkeit kränkenden Charakteren vorübergehen" und sich jene Personen aussuchen könne, "welche die wahre menschliche Würde zur Geltung bringen", um der Leserschaft "das Idealbild des Menschen" vor Augen zu führen. Die anderen Schriftsteller hingegen, die das Wagnis auf sich nehmen, das zu zeigen, was man lieber geflissentlich übersieht, nämlich den "ganzen Leerlauf der kalten, innerliche zerrissenen, alltäglichen Charaktere, die uns auf unserer bitteren und oft öden irdischen Bahn bedrängen", diese Schriftsteller haben einen viel schwierigeren Stand, weil Kritiker nur allzu rasch vom Inhalt auf den Verfasser schliessen. Zweifelsohne zählt sich auch der Gogolsche Erzähler zu dieser unrühmlichen zweiten Sorte, weshalb ihm besonders daran gelegen ist, die Leserschaft in einem längeren Exkurs vom Wert seines Unternehmens zu überzeugen. Dazu wählt er ein optisches Gleichnis: Es sei ebenso ehrenwert, (mit dem Teleskop) die entfernten Gestirne am Himmel vor das Auge zu zaubern, wie (mit dem Mikroskop) die Regungen der unscheinbarsten Wesen sichtbar zu machen.

Die romantische Prägung des Fragment gebliebenen Romans ist noch deutlich in solchen Exkursen des Erzählers erkennbar, mit denen er sich direkt an die Leserschaft wendet oder sein Vorgehen legitimieren will. Nicht wenige Exkurse nutzt er auch, um eben erzählte Episoden ins Allgemeine zu wenden, so dass sie leicht als Allegorie auf russische Zustände zu verstehen sind. Denn das Einsammeln von toten Seelen ist gleichsam nur ein narrativer Vorwand, um ein satirisches Sittengemälde der vielbeschworenen russischen Seele auszubreiten, die sich durch den mikroskopisch-sezierenden Blick des auktorialen Erzählers als nahezu ebenso leer und tot erweist. Besonders deutlich zeigt sich dieser allegorisch Zug in der Schlussapotheose des ersten Teils, wo die Troika Tschitschikows sinnbildlich mit Russland gleichgesetzt wird.

Tatsächlich ist hinter dem vordergründigen Spott und der Satire ein patriotischer, zuweilen sogar reaktionärer Zug vernehmbar, der im zweiten, unvollendeten Teil noch deutlicher zum Ausdruck kommt, wo das Lob von Tradition und Landwirtschaft beschworen und positiv in Stellung gebracht wird gegen den Sittenzerfall in den Städten, die bereits unrettbar von der westlichen Dekadenz eingenommen sind.