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Mittwoch, 6. Dezember 2023

Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen (1814)

Heinrich Zschokke, ein äusserst produktiver Vielschreiber und engagierter Politiker um 1800, ist heute kaum noch dem Namen nach bekannt. Vielleicht weiss man noch, dass sich Zschokke als Grossrat des Kantons Aargau stark für eine moderne Verfassung der Schweiz einsetzte und dass er in jüngeren Jahren zusammen mit Heinrich von Kleist und Christoph Martin Wielands Sohn Ludwig einen Schreibwettbewerb durchführte. Als er 1802 noch in Bern wohnte, hing in seinem Zimmer ein Kupferstich mit dem Titel La cruche cassé, zu dem jeder der drei Freunde eine Geschichte erfinden sollte. Kleist schrieb sein noch heute berühmtes Lustspiel Der zerbrochene Krug, Zschokke eine gleichnamige Erzählung, die wie sein gesamtes Oeuvre mittlerweile als vergessen gelten muss.

Literarisch überlebte von Zschokke lediglich die sprichwörtlich gewordene Gestalt des Hans Dampf in allen Gassen. Sie entstammt einer Erzählung gleichen Titels, die lose an die frühneuzeitlichen Schwankgeschichten der Schildbürger aus dem Lalebuch von 1597 anknüpfen, die später wiederum als Vorbild für Gottfried Kellers Seldwyler-Geschichten dienten. Aus dem Dorf Schilda im Lalebuch wird bei Zschokke die Stadt Lalenburg und bei Keller schliesslich das Zürcherische Seldwyla. Möglicherweise kannte Keller sogar Zschokkes Adaption, jedenfalls klingt seine ebenfalls sprichwörtlich gewordene Seldwyler-Erzählung Kleider machen Leute bei Zschokke bereits an: "Das Kleid macht den Mann!"

Multum non multa lautet eine lateinische Spruchweisheit, die besagt, man soll sich auf eine Gesamtheit konzentrieren, anstatt sich in Vielerlei zu verzetteln. Genau letzteres macht aber Hans Dampf aufgrund der ihm angeborenen "Schmetterlingshaftigkeit seines Gemüts". Er ist ein unruhiger Geist: "Zu sogenannter Gründlichkeit des Wissens fehlten ihm ohnehin Laune und Beruf. Er war rastlos tätig, man möchte sagen, ein quecksilberner Mensch, mischte sich in alles, wollte alles wissen, alles sagen, alles tun -". Bei den einfältigen Lalenburger gelten diese Eigenschaften gerade umgekehrt für "Universalgenialität" und Hans Dampf, der Sohn des Bürgermeisters gar als "Alkibiades", dem die Frauenherzen nur so zufliegen.

Doch im Unterschied zum historischen Alkibiades erweist sich Hans Dampf, wenn wundert's, alles andere als ein grossartiger Staatsmann von Format. Vielmehr vergnügt er sich als Schürzenjäger, da er es partout vermeiden will, mit der ihm zugedachten Rosina liiert zu werden, die zwar aus reichem Elternhaus stammt, leider aber bucklig ist. Als er bei einem seiner nächtlichen Abenteuer direkt aus dem Fenster auf das kostbare Geschirrladung des unten in der Gasse durchfahrenden Töpfers kracht, bringt er die Bevölkerung gegen ihn auf und landet als "Stifter alles Übels" im Kerker, aus dem er aber mit einer List wieder entfliehen kann. Die Stimmung im Dorf ändert sich schlagartig wieder, als Hans Dampf vom Fürst Nikodemus an den Hof gerufen wird, weil er angeblich Tieren das Sprechen beibringen kann.

Mit dieser Kunst ist es genauso wenig weit her wie mit allen anderen Fähigkeiten Hans Dampfs. Er ist nicht einmal in der Lage die soignierten französischen Einsprengsel in der Rede des Fürsten richtig zu verstehen. Als er mit "mon cher" angesprochen wird, meint er, es gehe um seine 'Scher' (Schere). Mehr als ein kläffendes "Ma Ma" vermag er dem Hund auch nicht antrainieren, trotzdem zeigt sich der mindestens ebenso naive Fürst beeindruckt, als der Hund coram publico vollkommen korrekt die Frage beantwortet, wen ein Kind zuerst im Leben erblickt (eben seine 'Mama'). Immerhin erweist hier Hans Dampf einen Restwert an Bauernschläue, getreu nach dem Motto: Im Reich der Idioten gilt selbst ein schwaches Licht als helle Birne.

Nach diesem Muster reihen sich Episoden an Episoden, die allesamt dem Grundsatz sancta simplicitas verpflichtet sind. Als Ouvertüre beginnt die Erzählung mit eine satirischen Absage an die Aufklärung: Eine lalenburgische Maxime besteht darin, "dass Aufklärung und Kenntnisse die tödlichsten Gifte sind, welche man einem Volke beibringen kann. Europa hat den grössten Teil seiner Übel nur der Selbstdenkerei zu verdanken." Zschokkes Geschichte entpuppt sich damit als eine weitere Variante von Erasmus' Lob der Torheit, das unter ironischem Deckmantel die Vorzüge der Dummheit preist und damit eigentlich eine Gesellschaftskritik qua Affirmation vornimmt. Die Geschichte endet denn auch mit einer längeren Rede von Hans Dampf, der kurz vor seiner Ernennung zum Konsul seine 'Klugheitslehre' zum Besten gibt, die nichts anderes als ein Lob der Einfalt ist: "Selig sind die Armen im Geiste. Die sehen in ihrer Einfalt mehr als die von Weisheit Verblendeten."

Sonntag, 16. April 2017

Fritz Michaelis: Des Kammerdieners Erasmus nachgelassenes Tagebuch (1913)

Diese im Verlag von Erich Reiss erschienene Sammlung von zwanglosen Betrachtungen und Essays, teilweise in Tagebuch- oder auch in Briefform, ist eine leicht durchschaubare Herausgeberfiktion. Interesse verdient vor allem die pseudoeditorische Notiz des Herausgebers: Sie nimmt gewissermaßen Max Brods Umgang mit Kafkas ambivalenter Nachlassverfügung vorweg. Kafka bat seinen Freund zwar darum, sämtliche in seinem Nachlass befindliche Schriften zu vernichten, hinderte ihn aber nicht an der Lektüre. So sieht sich auch Fritz Michaelis in der selbst verliehenen Rolle als Herausgeber vor die Frage gestellt, wie ernst er den letzten Willen des Kammerdieners Erasmus nehmen soll: „Nach seinem ausdrücklichen Geheiss sollte ich sowohl sein Tagebuch wie auch alle noch vorhandenen Betrachtungen vernichten. Da aber bei meinem Freunde Erasmus die Worte nie restlos Ausdruck seiner Wünsche waren, glaube ich sein Vertrauen nicht zu missbrauchen, wenn ich hiermit der Öffentlichkeit vorlege, was ich an beschriebenen Papieren in seinem Schreibpult gefunden habe.“

Ganz ähnlich argumentierte damals auch Max Brod. Im Unterschied zu Kafkas nachgelassenem Werk aber sind die Erasmischen Aufzeichnungen nicht in den Olymp der Weltliteratur aufgestiegen, sondern müssen als Gelegenheitsdichtung verbucht werden, die heute gänzlich unbekannt sind und vermutlich schon bei Erscheinen keine allzu hohen Wellen schlugen. Dazu sind die Prosaminiaturen zu sehr der Buntschriftstellerei verpflichtet. Auffälligerweise wird in einem Stück des Büchleins aber gerade ein gegenteiliges Werkideal vertreten. Es wird dort der Wunsch geäußert, ein Buch zu schreiben, das „nie Manuskript“ war. Das heißt: ein Buch, dem man die Anstrengung seiner Entstehung nicht anmerkt, weil es wie ein organisch gewachsenes Gebilde anmutet. Mit einer Herausgeberfiktion ist ein solcher Eindruck natürlich schwer zu erreichen: Hier wird ja vielmehr das lose papierne Potpourri deutlich vor Augen gestellt. Allerdings ist das Büchlein wiederum auch sehr schön, fast edel gestaltet mit einer Einbandzeichnung von Szafran und einem luftigen Satzspiegel, so dass auch die einzelnen Texte dadurch an erlesenem Glanz gewinnen, als hätte man eine Sammlung von Kleinoden vor sich.

Was die einzelnen Betrachtungen und kleineren Essays neben der rahmenden Schatulle der buchdruckerischen Gestaltung miteinander verbindet, ist die Erzählerfigur des Erasmus, der natürlich nicht zufällig so heißt wie der große Humanist aus Rotterdam. Der Erzähler beruft sich dabei auf die Worte, wie der Rotterdamer in den Dunkelmännerbriefen vorgestellt wird: Erasmus est homo pro se – Erasmus ist ein Mensch für sich. Mit diesem intertextuellen Hinweis ist die freigeistige Stoßrichtung des Büchleins angezeigt, die sich allerdings nur sehr milde artikuliert. Und zwar durch die erzählende bzw. schreibende Dienerfigur, welche die Welt aus einer subalternen und damit immer schon 'schrägen' Sichtweise betrachtet und dadurch dem menschlichen Alltag eigenwillige Seitenblicke abgewinnt. So gefällt sich Erasmus auch als Dialektiker vom Dienst, der die bestehenden Werte dezent umwertet, wenn er etwa seinen Beruf zu einer höheren Kunst zu stilisieren versucht: „Wer nicht zum Kammerdiener geboren ist, kann allenfalls das ABC unserer Kunst ausüben; im Interesse der Vollkommenheit sei ihm aber zu einem weniger aristokratischen Berufe geraten.“ Dieser eigentlich unstandesgemäße Standesstolz, der mit einer Nobilitierung des Lakais einhergeht, erinnert entfernt an Jakob von Gunten, ebenso Erasmus' Plan, eine Dienerschule zu eröffnen. Gut möglich, dass Michaelis den Roman von Walser kannte und sich durch ihn zur Figur des tagebuchschreibenden Dieners hat inspirieren lassen.

Die Stücke geben sich wechselnden Ansichten und Lebensweisheiten hin, mal eher humoristisch, dann wieder mit etwas mehr Tiefgang, und vermitteln en passant auch ein paar biographische Angaben zur Dienerfigur Erasmus und seinen Anstellungsverhältnissen. Meistens kreisen die Briefe und Tagebuchauszüge aber um sich selbst. Enthalten sind auch zwei Hommagen an Johannes Burckard (1450-1506) und Fürst Pückler-Muskau (1785-1871), die beide bedeutende Tagebuch- bzw. Briefschreiber waren. Der vatikanische Zeremonienmeister Burckard hielt in seinem Liber notarum mit dokumentarischer Unvoreingenommenheit das Leben am Hof der Päpste fest, darunter die dekadenten Ausschweifungen eines Cesare Borgia, weshalb sie auch als chronique scandaleuse der römischen Kurie gelten. Erasmus lobt die Nüchternheit des Protokollstils: „Denn er hat hier nur ein Amt und keine Meinung.“ Pückler-Muskau wiederum hat mit den Briefen eines Verstorbenen seinen literarischen Ruhm begründet – zumindest zu Lebzeiten, als zunächst noch Goethe als Verfasser der Briefe vermutet wurde. Während der Fürst für seine 'Parkomanie', seine fanatische Gartenbaukunst, noch landläufig bekannt ist, ist es als Schriftsteller ruhig um ihn geworden. Doch Erasmus hält die Erinnerung an den Vergessenen in stiller Verehrung hoch, denn er blickt zweifelsohne ein Vorbild im Fürsten, bedenkt er ihn doch mit dem gleichen Zitat wie auch sich selbst: homo pro se.