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Montag, 23. Dezember 2024

Gertrude Stein: Drei Leben (1909)

Dieses Jahr wäre Gertrude Stein 150 Jahre alt geworden. Auch wenn ihr Einfluss auf die moderne Literatur als durchaus bedeutend gilt, dürfte ihr Werk nur eine Minderheit wirklich gelesen haben. Weltbekannt ist ihr oft zitiertes und adaptiertes Monostichon "A rose is a rose is a rose is a rose ...". Mit dem Lyrikband Tender Buttons (1914) versuchte sie, inspiriert durch Picasso, kubistische Gedichte zu schreiben und mit The Making of Americans (1925) schuf sie ein ähnlich sperriges Riesenwerk wie Finnegans Wake ihres Zeitgenossen James Joyce (den man, nebenbei bemerkt, in ihrer Gegenwart aber nicht erwähnen durfte). Daran wagt sich das Lesefrüchtchen (noch) nicht. Stattdessen greift es zum Früh- genauer noch zum Erstlingswerk Three Lives.

Die drei - lediglich über den fiktiven Schauplatz Bridgepoint - miteinander verbundenen Erzählungen schildern das Schicksal von drei Frauenfiguren. Als Motto ist ihnen ein Zitat des Symbolisten Jules Laforgue vorangestellt: "Ich bin also unglücklich, und das ist weder meine Schuld noch die des Lebens." Die drei Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die gute Anna ist ein pedantisches Hausmädchen von übertriebenem Pflichtbewusstsein bis hin zur Selbstaufopferung; Melanctha eine zugleich melancholische wie auch leidenschaftliche Frau auf der vergeblichen Suche nach dem richtigen Mann und die sanfte Lena ein bis zur Einfalt gutmütiges Mädchen. Alle drei sterben aus der Welt hinaus, nachdem sich ihr Lebensglück nicht erfüllen konnte. 

Stein verzichtet jedoch auf jegliche Form der Psychologisierung. Die Vorgänge werden mit einem distanzierten, manchmal ironischen Blick von Aussen geschildert, was sie teilweise in seltsamer, weil unkommentierter Schwebe lässt. Dazu trägt auch der für Gertrud Stein später typische, hier schon ansatzweise vorhandene reihende und repetitive Stil bei. Am radikalsten durchgeführt in der mittleren und auch längsten Erzählung über Melanctha, die im Kern ein vertrackter Liebesdialog enthält, der sich hoffnungslos in sich selber verstrickt. Der Wortschatz beschränkt sich auf ein Minimum. Gewisse Sätze wiederholen sich immer wieder oder setzten absatzweise identisch ein. Die Syntax ist stets gleichförmig aufgebaut, was der Prosa etwas Formelhaftes, zuweilen sogar Beschwörendes verleiht.

Eine solche, auf jegliche Eleganz und guten Stil verzichtende Schreibweise, die manisch um sich selber kreist, war 1909 gewiss radikal und auch heute verlangt sie der Leserin einiges ab. Oder aber sie erlaubt eine Art gleitende Lektüre mit schwebender Aufmerksamkeit über dem Text. Aus heutiger Sicht muten die Erzählungen aufgrund der narrativen Regelverstösse mitunter wie der Versuch eines noch nicht ganz ausgereiften Sprachmodells an, einen literarischen Text zu verfassen. Eine andere Assoziation bietet sich, wenn man bedenkt, dass Gertrud Stein bei William James, dem Bruder des Schriftstellers Henry James, Psychologie studiert und im Rahmen dieses Studiums auch mit Schreibautomatismen experimentiert hat. Tatsächlich sollen Steins Texte bis zu ihrer ersten Schreibblockade mit knapp 60 Jahren einfach "geschehen" sein. Verfasst in einem einzigen Flow.


Mittwoch, 27. Dezember 2023

Henry James: The Turn of the Screw (1898)

Henry James 'Geistererzählung' von 1898, The Turn of the Screw, wurde unter verschiedenen Titeln ins Deutsche übersetzt: wörtlich als Die Drehung der Schraube, etwas freier als Der letzte Dreh der Schraube bzw. Schraubendrehungen und komplett anders als Die Tortur, Die Teuflischen oder  Das Geheimnis von Bry - benannt nach dem fingierten Londoner Landsitz, wo sich die unheimlichen Begebenheiten abspielen. Der letzte Titel verpasst dabei die zentrale Metapher, welche den Gang der Ereignisse charakterisiert: Wie eine Schraube windet sich die Erzählung dem unerbittlichen Ende zu, gleich einem Flugzeug, das sich in einer letalen Abwärtsspirale befindet und sich dabei ebenfalls schraublinienförmig bewegt.

Im Zentrum der Geschichte stehen zwei "grässlich artige" Kinder - ein Junge namens Miles und ein Mädchen namens Flora. Die widersprüchliche Formulierung ("grässlich artig") hat Programm: Die Kinder sind von einer fast schon ins Unnatürliche kippenden Anmut. Zumindest werden sie von ihrer Gouvernante so geschildert: Sie erscheinen als unschuldige Engel, geben sich im Umgang zuckersüss und allerliebst, doch mehr und mehr nähert sich ihre Erzieherin der Gewissheit, dass sich hinter ihrer einnehmenden Fassade entsetzliche Abgründe verbergen. Alles nur "Verstellung und Trug". Erste Zweifel beginnen, als die namenlose Gouvernante einen Brief von der Schule bekommt, in dem mitgeteilt wird, dass Miles - ohne nähere Angaben der Gründe - von der Schule geflogen ist.

Zunächst ungläubig, weshalb ein dergleichen artiger Knabe vom Unterricht suspendiert wird, stimmen sie die folgenden Ereignisse zunehmend skeptisch und führen sie zur Überzeugung, dass die beiden Kinder mit den Geistern zweier verstorbener Personen in übersinnlichem Kontakt stehen, die früher auf dem Anwesen in Bry wohnten und damals die Kinder bereits verdorben hätten: ihre vormalige Erzieherin Miss Jessel und Peter Quint, der verrufene Freund des Hausherrn, die zusammen ein lasterhaftes, weil unstandesgemässes Verhältnis pflegten, das von den Kindern gedeckt wurde - und offenbar auch postum weiter gedeckt werden soll. Deshalb versuchen die beiden Toten durch dämonische Mächte die Kinder in ihren Bann zu ziehen.

Das jedenfalls ist die These der namenslosen Gouvernante, aus deren Perspektive die Hergänge geschildert werden und die die Geister selbst zu sehen glaubt. Aufgrund einer raffinierten Erzählführung bleibt es in der Schwebe, ob sich der Spuk tatsächlich wie geschildert abspielt und die engelhaften Kinder wahrhaftig eine dämonische Seite verbergen - oder ob nicht alles Hirngespinste der Erzählerin sind, die sich in eine idée fixe verrannte und davon auch die Haushälterin, die sie ins Vertrauen zog, überzeugen konnte. Immerhin reflektiert sie an einer Stelle kurz die Möglichkeit ihrer eigenen "Besessenheit" in der ganzen Angelegenheit, die in einem übersteigertem Kontroll- und Verfolgungswahn zum Ausdruck kommt. Das Verhältnis zu den Kindern kippt zusehends von anfänglicher Entzückung in unverhohlenes Misstrauen.

Am Ende weiss man daher nicht, ob es sich bei dem Bericht bloss um den Rechtfertigungsversuch einer paranoid gewordenen Erzieherin handelt, die sich in eigene Wahngebilde verstrickte und dadurch den Tod ihres Zöglings verschuldete. Als sie in der finalen Szene Miles zur Rede stellt und endlich erfahren will, weshalb er aus der Schule flog, sieht sie den Geist von Peter Quint erneut, triumphiert aber, weil sie glaubt, den Jungen beschützen zu können. In diesem Moment fällt Miles, der sich zu weit aus dem Fenster lehnte, um sich nach Quint umzusehen, vom Sims und dem realen "Abgrund" zu, von dem ihm die Gouvernante im übertragenen Sinn bewahren wollte. Doch ihr Rettungsgriff erweist sich als Todesgriff. Es wird zwar nicht ausgesprochen, doch ist Miles zweifelsohne dabei erstickt. Nach dieser letzten Drehung der Schraube liegt er tot in ihren Armen.

Die unzuverlässige Erzählsituation gewinnt einen zusätzlichen Dreh dadurch, dass der Bericht, der zwar von der Gouvernante stammt, von einem Mann verlesen wird, der ihr früher als Knabe in kindlicher Liebe verfallen war und dem sie später als einziger Person schliesslich ihr Geheimnis anvertraute: in Form eines handgeschriebenen Berichts, der detailgenau die Gespenstergeschichte wiedergibt. Wie das Kindermädchen vormals der Haushälterin ihr Hirngespinst glaubhaft zu vermitteln vermochte, so will sie offensichtlich auch künftige Leserinnen und Leser von ihrer Version der Geschichte überzeugen und über die Deutung der Geschehnisse die letzte Kontrolle behalten.

Standen die Kinder tatsächlich unter dem Bann des Bösen oder wurde der arme Miles durch den Wahn seiner Gouvernante in den Tod getrieben? Ihr Bericht plädiert innerdiegetisch klar für die erste Variante, die Erzählung von Henry James lässt die Frage insgesamt offen. Das Lesefrüchtchen würde jedenfalls folgende Übersetzung des Titels bevorzugen: Das Durchdrehen der Schraube, weil damit schon angedeutet wäre, dass es die 'Schraube' (ugs. für Frau) ist, die durchdreht (ugs. für wahnsinnig werden). Zumindest hat sie sicher eine Schraube locker. Auf Englisch besitzt das Wort screw umgangssprachlich hingegen eine sexuelle Konnotation und meint den Koitus.

Dieser Subtext dürfte bei James tatsächlich angelegt sein, da es sich im Grunde auch um eine Sublimationsgeschichte handelt, die Wahnvorstellungen also auf unerfülltes sexuelles Verlangen zurückzuführen sind. Das Kindermädchen nimmt die Stelle auf Bly überhaupt deshalb an, weil sie dem Zauber des Hausherrn verfallen war, der sie jedoch nur unter der Bedingung anstellte, dass "sie ihn niemals behelligen dürfe". Ihre unterdrückten Gefühle und Triebe projiziert sie fortan auf das angeblich unmoralische Verhältnis zwischen Quint und Miss Jessel, das jedoch als grosses Tabu behandelt, niemals direkt, sondern stets als "Teufelswerk" und "Verderbnis" angesprochen wird. Wie sehr der Bericht gegen den Willen der Erzählerin subkutan durch sexuelle Motive bestimmt ist, zeigt sich an einer Stelle besonders deutlich, als sie schildert, wie Flora mehrfach versucht, einen Ast in das Loch eines anderen Holzstückes zu stecken, sie daran aber "nichts Doppelsinniges" erkennen kann. - Das Lesefrüchtchen hingegen schon. :)