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Montag, 21. April 2025

Richard Brautigan: Träume von Babylon (1977)

Die Meinung ist verbreitet, der Kultautor der amerikanischen Gegenkultur, Richard Brautigan, habe nach seinen ersten drei Büchern, allen voran Forellenfischen in Amerika (1967), den Zenit bereits überschritten. Seine Verballhornung des Hard-Boiled-Krimis bleibt jedoch eine wenngleich leichte, so doch amüsante Lektüre, die Lacher am Laufmeter provoziert. Nach der schrillen, vollkommen abgedrehten Westernparodie Das Hawkline-Monster von 1974 und dem "perversen Kriminalroman" Willard und seine Bowlingtrophäen von 1975 war Träume von Babylon die dritte Genre-Parodie des Autors mit dem Untertitel: "Ein Detektivroman 1942". Die abstruse Geschichte situiert sich also vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, doch das spielt höchstens als Kontrast zur banalen Handlung eine Rolle: "Was konnte ein Mann schon mehr wollen in diesen schweren Zeiten? Ich meine, die Welt war im Krieg, aber für mich lief alles wie geschmiert."

Derjenige, der das sagt, ist der Ich-Erzähler C. Card, ein ausgemusterter Soldat, der beim Scheissen im Schützengraben ausrutschte und sich selbst in den Hintern schoss, und sich fortan als heruntergekommener, total erfolgloser Privatschnüffler durchschlägt. Seine grösste Herausforderungen darin besteht, täglich das Geld für seinen Lebensunterhalt zusammenzuschnorren. Doch einiges Tages winkt plötzlich ein lukrativer, wenngleich dubioser Auftrag: Eine attraktive Blondine, die literweise Bier vertilgt, ohne pinkeln zu müssen ("Wo hat sie denn bloss das ganze Bier hingesteckt?"), und ihr stiernackiger Chauffeur verlangen von Card, dass er die Leiche einer toten Nutte aus dem Leichenschauhaus entfernt und zum Friedhof bringt. Der Auftrag entpuppt sich am Ende jedoch als Falle: Die Blondine war selbst die Mörderin und will Card die Sache anhängen. Dieser sieht sich am Ende des Tages deshalb in derselben desolaten Situation wie immer mit dem "einzigen Unterschied, dass [er] am Morgen noch keine Leiche in meinem Kühlschrank gehabt hatte."

Mit diesem Satz endet der kurze Roman und unterstreicht damit nochmals, dass man es bei C. Card mit einem "richtigen Verlierer" zu tun hat. Psychologisch angedeutet wird diese Entwicklung mit einem Schuldkomplex, da er als Vierjähriger den Tod seines Vaters verursacht hat, als er einem Ball hinterher auf die Strasse rannte, gefolgt von seinem Vater, der dann vom Auto erwischt wurde, was ihm seine Mutter lebenslang zum Vorwurf macht. Card kompensiert sein Verlierertum einerseits durch Wirklichkeitsflucht, andererseits durch Humor. Es fehlt ihm zwar an allem, bloss nicht an faulen Sprüchen. Ausserdem imaginiert er sich regelmässig in eine babylonische Phantasiewelt, in der er anders als in Wirklichkeit ein heldenhaftes Leben führt. Der Aufprall eines Baseballs auf seinen Kopf katapultiert Card einst in dieses Traumreich, das er im Geist fortan immer wieder aufsucht, ihn aber umso lebensuntüchtiger erscheinen lässt. Denn oft in entscheidenden Momenten, wo alle Geistesgegenwart gefragt wäre, gleitet er jeweils in die gedankliche Parallelwelt ab.

Der Roman lebt hauptsächlich von Pointen und Einzelsequenzen. Entsprechend kurz fallen die jeweiligen Kapitel aus, deren Überschriften ausserdem höchst arbiträr anmuten, oft willkürlich einen beiläufigen Begriff oder Sachverhalt aus dem Kapitel aufgreifen und dadurch paratextuell die Absurdität der einzelnen Episoden noch steigern. Gegen Ende kommt tatsächlich auch ein wenig Spannung auf, mit Verfolgungsjagd und einer harmlosen Schiesserei, doch handelt es sich dabei lediglich um Versatzstücke aus klassischen Kriminalromanen, die hier durch den parodistischen Fleischwolf gedreht werden. Brautigan besitzt einen untrügliches Geschick für gute Situationskomik, die durch den knappen, lakonischen Stil sprachlich noch verstärkt wird. Insbesondere die oft schrägen Vergleiche verleihen dem Text eine derb-witzige Note: "Ich trank einen Schluck Kaffee. Er schmeckte, als wäre er einer der Leichen aus dem Arsch geflossen." Oder: "Das einzige, was noch weiter unten war als ich, war eine Leiche." Sicher kein Buch von weltliterarischem Rang, aber ein herrlich absurdes Leservergnügen, ähnlich einem Brenner-Krimi von Wolf Haas.

Samstag, 22. Februar 2025

Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung (2012)

Wolf Haas, bekannt für seine mit Sprachwitz gespickten Brenner-Krimis, legte mit mit die Verteidigung der Missionarsstellung einen Roman ausserhalb seiner Krimi-Serie vor, der alle Register des postmodernen Erzählens zieht, ohne dabei anstrengend zu wirken. Im Grunde ist es schon eher eine Parodie auf postmoderne Erzählverfahren, die hier mit grossem Augenzwinkern zur Schau gestellt werden. Es handelt sich - ganz in der Tradition von Laurence Sterne und seinem Tristram Shandy - um einen Antiroman, der sich dem linearen Fortgang verweigert, den Erzählfluss ständig sabotiert und die Geschichte lediglich entwickelt, um sie wie eine Seifenblase platzen zu lassen. Das beginnt schon damit, dass wir keinen fertigen Roman lesen, sondern gewissermassen einzelne Entwurfsfragmente, deren Lücken erst noch ausgearbeitet werden müssen. Immer mal wieder vermerkt der Autor in Klammern, was bei einer Überarbeitung noch zu ergänzen wäre. Quasi konträr zu dieser Ästhetik des Unfertigen ist der Roman bereits mit diversen typographischen Spielereien ausgestattet, auch da bleibt der Tristram Shandy Vorbild. Mal muss man um die Ecke lesen, dann Querlesen oder ein Textblock bewegt sich wie ein Lift vom oberen Seitenrand nach unten. Auch das besitzt eher ironischen Charakter und fungiert als Parodie auf ähnliche, jedoch symbolisch überladene Verfahren wie etwa in Extrem laut und unglaublich nah (2005) von Jonathan Safran Foer.

Verteidigung der Missionarsstellung ist deshalb nicht nur ein Anti-, sondern auch ein - in der Tradition von Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979) stehender - Metaroman, da er permanent auch über das eigene Verfahren reflektiert und sich auf sich selbst bezieht, bis hin zur Absurdität, wenn dem Autor am Ende des noch unfertigen Romans eine Reiterin begegnet, die das Buch bereits aufmerksam gelesen hat. Auf diese Form der Selbstreferentialität verweist bereits das Cover des Buchs, wo der Autor sein Buch in die Kamera hält. Das Buch erscheint also im Buch und das könnte in einem infiniten Regress so weitergehen. Tatsächlich inszeniert Wolf Haas ungefähr in der Mitte der Geschichte eine solche Mise en abyme, als die lediglich als "die Baum" apostrophierte Figur beginnt, den gesamten Text zu lesen, den wir bereits gelesen haben, wobei der Autor bemerkt: "Ich fragte mich, wie sie es geschafft hatte, aus der Schleife auszusteigen. Sie hätte doch am Ende des Buches wieder an die Stelle kommen müssen, wo ich schlafen gehe und die Baum in meinem Arbeitszimmer sitzt und zu lesen beginnt. Dann hätte die Geschichte ein drittes Mal von vorn beginnen müssen, und wieder wäre sie am Ende zu der Stelle gekommen, wo die Baum in meine Arbeitszimmer geht und zu lesen beginnt, und die Geschichte hätte ein viertes Mal angefangen ..."

Nicht nur praktisch, auch theoretisch ist Wolf Haas mit allen Wassern postmoderner Konzepte gewaschen. Nicht von ungefähr heisst der Protagonist seines Metaromans Benjamin Lee Baumgartner in Anlehnung an den Linguisten Benjamin Lee Whorf, dessen sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese von der sprachlichen Abhängigkeit der Weltsicht die postmoderne Theoriebildung von der Unhintergehbarkeit sprachlicher Strukturen massgeblich mitbestimmte. Haas weiss das alles, drückt es uns aber nicht demonstrativ aufs Auge, sondern spielt mit diesen Theoriemodellen, zu denen auch das Lügnerparadox oder Tarskis Forderung einer strikten Trennung zwischen Objekt- und Metasprache gehören, ein vergnüglich leichtes Spiel. Denn eingebettet sind alle diese Versatzstücke in die amüsante Liebesgeschichte besagten Benjamin Baumgartner, der - obwohl sein Vater entgegen der Behauptung seiner Mutter gar kein Indianer war - dem Chief Bromden aus Einer folg über das Kuckucksnest verblüffend ähnlich sieht - sich immer dann in eine Frau verliebt, als gerade eine Seuche ausbricht (BSE in London, Vogelgrippe in Peking, Schweingrippe in Santa Fee), was ihn zur fixen Idee verleitet, seine Verliebtheit löse jeweils eine solche Epidemie aus. Das ist im Prinzip schon die ganze Geschichte, die vor allem von Wolf Haas' unvergleichlich witzigen Dialogen und Sprachspielen lebt - und hier zusätzlich von einem ausgeklügelten Antinarrativ.

Mittwoch, 17. Juli 2024

Ferienlektüre

Das Lesefrüchtchen macht, was denn sonst, Leseferien. Anstelle von Strandliteratur und aktuellen Bestsellern deckt es sich mit einem Koffer voller Bücher ein, die schon lange herumstehen, Wandschränke und Regale verstopfen, um sie endlich los zu werden. Jetzt oder nie. Die Devise ist, alle Bücher in den Ferien wenigstens an- und wenn sie etwas taugen sogar auszulesen. Auf alle Fälle werden sie am Urlaubsort zurückgelassen für andere Lesefreudige oder die nächste Putzequipe, die sie ins Altpapier befördert. Denn um Altpapier handelt es sich bei den in die Jahre gekommen, stark abgenutzten, zerfledderten, irgendwo auf einem Flohmarkt oder bei einem Billighändler erworbenen Schmöker durchaus. Klassisches Lesefutter also, das rasch konsumiert und noch schneller vergessen und entsorgt werden kann. Ein paar kleine Reminiszenzen seien hier gleichwohl festgehalten:

Jack London, der "amerikanische Balzac", ein Vielschreiber und früher bei vielen Jugendlichen bekannt für seine Abenteuerromane. Er setzte sich ein Pensum von mindestens 1500 Wörtern pro Tag und schuf innerhalb von 16 Jahren mehrere hundert Erzählungen und über 40 Bücher. Bevor Adam kam ist die Geschichte eines Mannes mit gespaltenem Bewusstsein. Am Tag lebt er als moderner Mensch, nachts kehrt er im Traum in das prähistorische Dasein seiner tierischen Urahnen zurück. Diese "Traumpersönlichkeit" entwickelte der Ich-Erzähler schon früh als Kind, als er von wilden Tieren träumte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Erklärt wird diese "Halb-Bewusstseins-Spaltung" durch eine "Anomalie". Der Protagonist präsentiert sich als "Wesen mit abnormen Erbgut", das heisst, seine "rassischen Erinnerungen" an die Urzeit sind bei ihm viel ausgeprägter als bei anderen Menschen. So durchlebt er im Traum nochmals die Abenteuer seines früheren Affen-Ichs namens Langzahn, zusammen mit seinem Freund Schlapport und der Flinken, mit der er später den Nachwuchs zeugen wird. Sie zählen zu einer schon etwas weiterentwickelten Spezies im Unterschied zum furchteinflössenden "Rotauge", ein wilder Uraffe, der als reiner "Atavismus" geschildert wird. Auf der anderen Seite existieren bereits Feuermenschen, die ihnen technisch überlegen sind.

Eine Zeitreise nicht im Traum, sondern mit einer Maschine erzählt H.G. Wells in seinem SF-Klassiker Die Zeitmaschine. Die Reise führt auch nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Ein namenloser Zeitreisender schildert einer Abendgesellschaft, nachdem er ein Modell seiner Zeitmaschine demonstrierte, seine Erlebnisse in der Zukunft. Und die sind alles andere als ermutigend. Er gelangt zwar in ein goldenes Zeitalter, in dem alle sozialen Probleme beseitigt sind und keine Gefahren mehr drohen und alle Menschen in Glückseligkeit leben - die allerdings um den Preis vollkommener Antriebslosigkeit. Die Eloi, das Volk, das er antrifft, befindet sich bereit auf einer degenerierten Stufe der Menschheit. Die ätherischen Wesen, die stets fröhlich, aber unbedarft sind, besitzen keine Kultur und keine Individualität; die herdenartige Schar von Menschen vegetiert mehr oder weniger nur vor sich hin. Daneben gibt es die bedrohlichen Morlocken, glitsche molchartige Wesen mit Glupschaugen, die unter der Erde leben. Zunächst vermutet der Zeitreisende, es handle sich um Untermenschen, die von den Eloi versklavt im Untergrund arbeiten müssen. Doch wie er bald feststellen muss, ist gerade das Gegenteil der Fall: Die Morlocken halten sich die naiven Eloi quasi als menschliches Mastvieh, das sie in regelmässigen Origen genüsslich verspeisen. Keine besonders verlockende Zukunftsvision. Doch es kommt noch schlimmer. Nachdem sich der Zeitreisende aus den Fängen der Morlocken befreien und auch die von ihnen beschlagnahmte Maschine zurückerobern kann, reist er weiter in die Zukunft, wo ein Schreckensszenario, das nächste ablöst: zunächst ist die Welt nur noch mit Monsterkrebsen bevölkert, danach folgt eine Eiszeit und schliesslich herrscht nur noch eine beklemmende Stille, weil alles Leben ausgelöscht ist. 

Und noch eine Zeitreise: Das Fenster zum Sommer von Hannelore Valencak, 1967 ursprünglich unter dem Titel Zuflucht hinter der Zeit erschienen. Der Titel, so dachte das Lesefrüchtchen, sei ideal für die eine Sommerferienlektüre. Doch weit gefehlt, denn es verhält sich gerade anders. Die icherzählende Protagonistin, die eigentlich mit ihrem jungvermählten Mann in die Sommerferien nach Camargue fahren will, wider Erwarten aber nicht an einem Julimorgen in seinen Armen aufwacht, sondern ein knappes halbes Jahr früher, mitten im Winter, in der Wohnung ihrer Tanta Priska, die sie seit dem siebten Lebensjahr grossgezogen hatte, weil die leibliche Mutter nach ihrer Scheidung nach Kanada auszog und ihr Kind zurückliess. Seither befand sich Ursula, so heisst die Protagonistin, in einem Interimszustand, in einer Warteposition, die sie am richtigen Leben hindert: "sehr selten hatte ich den Mut zu fühlen: Ich bin da. Ich bind auf der Welt. Viel öfter sagte ich mir: Das ist jemand anderer, der das erlebt. Meine Stunde ist noch nicht da. Ich muss warten lernen. Und manchmal erschrak ich, wenn etwas in mir sagte: Da kannst du lange warten. Deine Zeit kommt nie." Doch dann geschieht das (Un-)Erwartete und ihr Leben, springt "in ein neues Geleise". Die Metapher ist gut gewählt, denn der Moment ereignet sich in der Strassenbahn, als sie mit einem Mann (Joachim) zusammenstösst. Sie verlieben sich Hals über Kopf, heiraten rasch, kaufen sich gleich darauf ein Haus und sind glücklich. Doch dann wird Ursula nolens volens in die Vergangenheit zurückkatapultiert und auf eine harte Probe gestellt. Vorbei der schöne Traum. Sie ist wieder Single. Natürlich will sie den "Rückweg zu Joachim" finden, der zeitlich besehen eher ein Vorwärtsweg ist, weil die Begegnung mit ihm noch in der Zukunft liegt. Sie begibt sich in seine Nähe und macht sich bemerkbar, um ihn wieder für sich zu gewinnen. Doch sie entdeckt ihn bloss mit seiner bildhübschen Verlobten. Als Zeitreisende in die eigene Vergangenheit lernt Ursula ihr Umfeld mit anderen Augen zu betrachten. Vor allem realisiert sie, dass sie nicht in die Vergangenheit nicht beeinflussen darf, wenn sie die wieder gewünschte (alte) Zukunft münden soll. Sie lässt deshalb von ihren Manipulationsversuchen ab und wartet nur noch auf den Augenblick, in dem sich der zukünftige Zusammenstoss mit Joachim nochmals einstellen wird. Sie durchlebt alles zweimal und sie präkognitiv auch voraus, was jeweils geschehen wird, was sich aber als grosse Schwierigkeit herausstellt. Denn wie Joachim einmal zu ihr sagte: "Wir kennen vielleicht unsere Zukunft nicht, damit wir sie uns nicht selber verderben können." Buchstäblich in einem Wettlauf gegen die Zeit versucht Ursula die ihr bekannte Zukunft doch noch zu erreichen, doch die Strassenbahn, in dem sich der Zusammenstoss mit Joachim ereignen sollte, fährt ihr vor der Nase davon. Sie kann ihrem neuen Leben nur noch hinterhersehen und ihr altes wieder aufnehmen. Einige Zeit später erfährt sie allerdings, dass Joachim in der Nacht, als sie in die Vergangenheit zurückfiel, an einem Herzinfarkt gestorben ist. Ihr Sommer mit ihm, so folgert sie, "war irrtümlich in der Welt. Er war nichts als eine Möglichkeit unter vielen tausend anderen Möglichkeiten gewesen, und Joachim hat nie gewusst, dass er sie versäumt hat." Ursula erscheint nun das Schnippchen, das ihr die Zeit geschlagen hat, als Gnadenakt, da es ihr erlaubte, den Verlust von Joachim im Vorfeld zu verarbeiten, so dass sein Tod schliesslich keine Katastrophe mehr darstellt. Mehr noch lernte sie in dieser Zeit, als ihr die Zukunft quasi vorbestimmt schien, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Die Paradoxie von freiem Willen und Determination speilt der Roman so anschaulich durch. Wie H.G. Wells so versucht auch die Autorin, die eine studierte Physikerin ist, im Nachwort die Zeitreise mit Theorien über die vierte Dimension zu plausibilisieren.

Es ist Sonntag und Zeit für einen Krimi: Wie die Tiere von Wolf Haas, der mit seinem Ermittler Brenner ein Garant für gute und gewitzte Unterhaltung ist. Und interessant: der Roman beginnt just auch mit der Frage nach der Reversibilität der Zeit: "der Mensch kann nichts ungeschehen machen, das ist von seiner ganzen philosophischen dings her nicht möglich". Diesmal ist Brenner einem Hundemörder auf der der Spur, der im Wiener Augarten mit Nadeln versehene Hundekekse ausstreut. Beauftragt hat ihn der Zuhälter Schmalzel vom "White Dog", in dessen Etablissement Brenner auch residieren darf, in einer Wohnung, die er sich mit einer spanischen Prostituierten wie ein altes Ehepärchen teilt. Da Schamlzel beruflich umsatteln und sich ein neues Image zulegen will, engagiert er sich mit der Kampagne "Tierfamilie" fürs Gemeindewohl. Als dann ausgerechnet die attraktive Mitarbeiterin, die beim Unterschriftenfang jedem Mann den Kopf verdreht, von einem Argentino totgebissen wird, nimmt der Fall so richtig Fahrt auf. Brenner fürchtet jedoch, es könne ein "Frauenfall" werden, die "immer wahnsinnig kompliziert" sind im Vergleich zu Männerfällen. Dort gibt es schlicht "einen schönen Mord", jemand "drückt einmal ab und aus, und dann musst als Detektiv den Burschen eben finden". Und tatsächlich muss sich Brenner dann hauptsächlich mit Frauen und einer wildgewordenen Meute von "Kampfmüttern" herumschlagen, weil er sich unvorsichtig über den Wert von Ohrfeigen geäussert hat. Am Ende ist dann aber doch ein Mann der Bösewicht und es kommt zu einem spektakulären Showdown auf dem alten Flakturm im Augarten. Dem Täter wird vom Rotorblatt eines Helikopters der Kopf abgesäbelt und vom Föhn-Wind über die Dächer der Stadt getragen, bis er in einem Kinderbecken landet. Die ganze Groteske wird im typischen Brenner-Stil erzählt, was wesentlich zur Sprachkomik beiträgt, eine zugleich altkluge, wie jargonlastige Diktion im Secondo-Stil. Und musst du wissen: Es gibt den wohl längsten Cliffhänger der Krimigeschichte. Ein Witz relativ zu Beginn wird erst ganz am Ende aufgelöst.

Brenner wohnt im Rotlicht und auch der Roman Im Stein von Clemens Meyer spielt in diesem Milieu. Er bietet ein Panorama (oder vielmehr ein Purgatorium) der Prostitution in Ostdeutschland nach der Wende, multiperspektivisch erzählt aus der Sicht verschiedener Personen: Sexarbeiterinnen, Zuhälter, Polizisten etc. Von der Harz IV-Empfängerin über die junge Studentin bis zu schmierigen Paschas, die Zonen-Gabys ebenso wie die Ruhrpott-Uschis - alle wollen sie mit Sex das grosse Geld verdienen. Es gibt den Alten vom Berg, Arnold Kraushaar (als Jugendlicher mit "Schamhaar" verspottet), der Wohnungen für käuflichen Sex vermietet, und sein Konkurrent, genannt der "Graf" oder der "Bielefelder", obschon er gar nicht aus Bielefeld stammt, der in der "Burg" ein Edelpuff betreibt. Ein beeindruckend opulenter Roman, technisch gekonnt, doch leider mit dem kapitalen Fehler der Handlungsarmut. Der Roman will nicht so richtig in die Gänge kommen. Zwar passiert ein grausiger Mord: jemand wird mit abgesäbeltem Bein im Moor versenkt, doch insgesamt zerläuft sich der Roman in seiner Gedächtnisstrom-Architektur. Was im ersten Kapitel noch ambitioniert wirkt, ist auf die Länge nur noch redundant und ermüdet rasch. Als narratives Experiment ist die Gedankenflut zwar interessant, verspricht sie doch eine Innensicht ins deutsche Bewusstsein mit seiner Doppelmoral und eine zuweilen grelle Ausleuchtung von Tabuzonen. Literarisch bleibt es aber enttäuschend. Eine richtige Sozialreportage wäre wohl ergiebiger gewesen, ein echter Szenekrimi wiederum packender. An einer Stelle denkt sich ein Polizist, der für die Tatort-Serie im Fernsehen als Berater angefragt wurde, um die Filme realistischer zu gestalten: "Dann lieber die Dramen, die dramatischen Seifenopern, Schimmis Faust, Cognac und Zigaretten für Haferkamp." Diese Einsicht lässt sich mühelos auf den Roman selbst anwenden, der zu viel wollte und daran gescheitert ist. Ein Szeneapplaus gebührt dem Autor indes für das Kapitel über den Radiomoderator Ecki Edelkirsch, der von Sex-Kalauern nur so strotzt. Die beiden besten gehen aufs Konto von Goethe: "Wanderers Nach-Glied" und "der ewige alte Reinstecke Fuchs". Auch gut: "it's blowtime!". In eine ähnliche Richtung geht folgender Dialog: "Weisst du eigentlich, woher der Begriff Rotlicht kommt?" "Nein." "Im Mittelalter mussten die Frauen als Zeichen dieser Zunft rote Kappen tragen." "Rotkäppchen war also eine Hure?" - Deshalb wird im Roman symbolischer Weise auch pausenlos Rotkäppchen-Sekt getrunken.

Ein Buch, das das Lesefrüchtchen eher auch enttäuscht hat, obschon es den Autor besonders schätzt, ist Blaubarts letzte Liebe aus dem Nachlass von Hans Natonek. Manchmal erweist man Schriftstellern mit postumen Editionen einen Bärendienst. So auch hier. Der gebürtige Prager Autor flüchtete mit Hilfe von Varian Fry über Portugal ins Exil in den U.S.A. Auch Thomas Mann, den Natonek zusammen mit Walter Mehring und Ernst Weiss von Paris per Telegramm anschrieb, unterstützte die Einreise nach Amerika. Im Gepäck auf dem Flüchtlingsdampfer 'Manhattan' hatte Natonek eine alte Aktentasche dabei mit dem kaum mehr entzifferbaren Manuskript des Romans. Obschon es ein historischer Stoff ist, der die Geschichte der Freiheitskämpferin Jeanne d'Arc und dem als Kindermörder verrufenen Gilles de Rais mit vielen poetischen Lizenzen erzählt, lässt er sich doch als Allegorie auf die Schrecken des Faschismus lesen. Jeanne und Gilles, beide als Ketzer verurteilt, erscheinen als Opfer eines repressiven Regimes. In zentralen Stellen des Romans wird das Wesen des Bösen als Grundlage für Machtausübung reflektiert. Vom Ansatz her interessant, in der Ausführung aber doch zu dünn und für einen historischen Roman zu wenig plastisch.

Im Ferienhäuschen lagen einige Schmöker herum, was das Lesefrüchtchen als willkommene Gelegenheit auffasste, sich wieder einmal einen internationalen Beststeller zu Gemüte zu führen, den alle Welt kennt, bloss das Lesefrüchtchen nicht, und zwar Der Schatten des Windes von Carlos Ruiz Zafón. Die Story beginnt wie eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges: eine labyrinthische Bibliothek, ein vergessenes Buch, ein mysteriöser verschollener Autor, eine blinde Leserin und ein gesichtsloser Mann, der auf Bücherjagd geht. Alle Ingredienzen für eine bibliophile Abenteuergeschichte sind beisammen, nur leider schlittert der Roman immer mehr in ein klebriges Liebesmelodram. Der junge Daniel Sempere macht sich auf die Suche nach den biographischen Spuren des Autors Julián Carax, dessen einzig überliefertes Exemplar von Der Schatten des Windes er in der Bibliothek der vergessenen Bücher aufgestöbert hat, in die ihn sein Vater geführt hat. Mit dem Besitz des Buches beginnen jedoch die Probleme: Ein unheimlicher Mann ohne Gesicht und mit verbrannter Lederhaut will das Buch vernichten. Er scheint direkt aus dem Buch selbst entstiegen zu sein, in dem mit der teuflischen Gestalt von Laín Coubert eine nahezu identische Figur vorkommt. Doch weshalb ist er so erpicht darauf, das Buch zu zerstören? Und weshalb zieht das Buch den jungen Daniel dermassen in den Bann, obschon es sich um einen Schundroman handelt? Es beginnt eine Schnitzeljagd, auf der - Hinweis um Hinweis - das Schicksal von Carax rekonstruiert wird, der aus zunächst unerfindlichen Gründen von Barcelona fort nach Paris ging und dort als Dachstubenpoet in einem Pariser Bordell hauste, wo er sich als Pianospieler über Wasser hielt. Das Buch operiert mit einer simplen Rätseltechnik: Man liest zwei Drittel mit allerlei offenen Fragen und losen Enden, begegnet einer Vielzahl von Figuren aus der Vergangenheit des Dichters, um dann im letzten Drittel auf dem Serviertablett die nicht mehr allzu überraschen Auflösung zu erhalten - die vollständige Lebensgeschichte des ominösen Autors Julian Carax, die natürlich mit einer tragischen Liebesgeschichte verknüpft ist. Nach Jahren im Pariser Exil muss Carax erfahren, dass seine ewige Geliebte, auf die er stets sehnsüchtig gewartet hat, nicht nur tot ist, sondern auch ihr gemeinsames Kind, das bei der Geburt gestorben war und kurz darauf auch sie, weil der Vater, der gegen diese Verbindung war, sie verbluten liess. (Was Julián nie erfährt, nur die Leser: Er ist ein uneheliches Kind, aus einem Seitensprung des Vaters, und seine Geliebte eigentlich seine Stiefschwester.) Nach der schockartigen Erkenntnis vom Doppeltod von Frau und Kind will er nur noch seine Existenz auslöschen - und dazu gehören auch seine Bücher als Kinder des Geistes. Er brennt das Lager seines Verlags nieder, erleidet dabei Verbrennungen, die ihn für immer entstellen und verwandelt sich dabei in die Figur aus seinem Roman Der Schatten des Windes: in den diabolischen Laín Coubert. In dieser Gestalt vernichtet er weiterhin seine Bücher, stöbert sie auch in Privathaushalten und in Buchhandlungen auf und entwendet sie. Das letzte Exemplar bleibt jedoch im Besitz des jungen Daniel. Denn Carax erkennt in ihm sich selber wieder und will, dass Daniel jenes Leben mit einer glücklichen Liebe führen kann, das ihm versagt geblieben ist. Das Buch wartet also mit reichlich Pathos und einem sentimentalistischen Ende auf, das arg auf die Tränendüse drückt. Für reichlich Humor sorgt hingegen die skurrile Figur Fermín, ein Art Ritter von der hageren Gestalt, der Daniel bei seiner Spurensuche unterstützt und ihm zudem mit Liebesratschlägen zur Seite steht. Auch er besitzt eine düstere Vergangenheit als Geheimdienstmitarbeiter, der von den Franco-Schergen während des Spanischen Bürgerkriegs grausam gefoltert wurde. In Gestalt des korrupten Polizeiinspektors Fumero, der nicht nur Fermín, sondern auch Carax jagt und etliche Personen auf dem Gewissen hat, dringt diese Vergangenheit zuweilen mit äusserster Brutalität in das Geschehen der Gegenwart. Die Suche nach Carax bringt auch die Schrecken der Franco-Diktatur zum Vorschein. Dem Roman ist somit neben der Familientragödie und dem Liebesskanal auch eine politische Dimension eingeschrieben, die im Grunde aber etwas aufgesetzt wirkt, da der Roman auch ohne sie verlustfrei als Mystery-Thriller funktionieren würde.