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Sonntag, 16. April 2017

Fritz Michaelis: Des Kammerdieners Erasmus nachgelassenes Tagebuch (1913)

Diese im Verlag von Erich Reiss erschienene Sammlung von zwanglosen Betrachtungen und Essays, teilweise in Tagebuch- oder auch in Briefform, ist eine leicht durchschaubare Herausgeberfiktion. Interesse verdient vor allem die pseudoeditorische Notiz des Herausgebers: Sie nimmt gewissermaßen Max Brods Umgang mit Kafkas ambivalenter Nachlassverfügung vorweg. Kafka bat seinen Freund zwar darum, sämtliche in seinem Nachlass befindliche Schriften zu vernichten, hinderte ihn aber nicht an der Lektüre. So sieht sich auch Fritz Michaelis in der selbst verliehenen Rolle als Herausgeber vor die Frage gestellt, wie ernst er den letzten Willen des Kammerdieners Erasmus nehmen soll: „Nach seinem ausdrücklichen Geheiss sollte ich sowohl sein Tagebuch wie auch alle noch vorhandenen Betrachtungen vernichten. Da aber bei meinem Freunde Erasmus die Worte nie restlos Ausdruck seiner Wünsche waren, glaube ich sein Vertrauen nicht zu missbrauchen, wenn ich hiermit der Öffentlichkeit vorlege, was ich an beschriebenen Papieren in seinem Schreibpult gefunden habe.“

Ganz ähnlich argumentierte damals auch Max Brod. Im Unterschied zu Kafkas nachgelassenem Werk aber sind die Erasmischen Aufzeichnungen nicht in den Olymp der Weltliteratur aufgestiegen, sondern müssen als Gelegenheitsdichtung verbucht werden, die heute gänzlich unbekannt sind und vermutlich schon bei Erscheinen keine allzu hohen Wellen schlugen. Dazu sind die Prosaminiaturen zu sehr der Buntschriftstellerei verpflichtet. Auffälligerweise wird in einem Stück des Büchleins aber gerade ein gegenteiliges Werkideal vertreten. Es wird dort der Wunsch geäußert, ein Buch zu schreiben, das „nie Manuskript“ war. Das heißt: ein Buch, dem man die Anstrengung seiner Entstehung nicht anmerkt, weil es wie ein organisch gewachsenes Gebilde anmutet. Mit einer Herausgeberfiktion ist ein solcher Eindruck natürlich schwer zu erreichen: Hier wird ja vielmehr das lose papierne Potpourri deutlich vor Augen gestellt. Allerdings ist das Büchlein wiederum auch sehr schön, fast edel gestaltet mit einer Einbandzeichnung von Szafran und einem luftigen Satzspiegel, so dass auch die einzelnen Texte dadurch an erlesenem Glanz gewinnen, als hätte man eine Sammlung von Kleinoden vor sich.

Was die einzelnen Betrachtungen und kleineren Essays neben der rahmenden Schatulle der buchdruckerischen Gestaltung miteinander verbindet, ist die Erzählerfigur des Erasmus, der natürlich nicht zufällig so heißt wie der große Humanist aus Rotterdam. Der Erzähler beruft sich dabei auf die Worte, wie der Rotterdamer in den Dunkelmännerbriefen vorgestellt wird: Erasmus est homo pro se – Erasmus ist ein Mensch für sich. Mit diesem intertextuellen Hinweis ist die freigeistige Stoßrichtung des Büchleins angezeigt, die sich allerdings nur sehr milde artikuliert. Und zwar durch die erzählende bzw. schreibende Dienerfigur, welche die Welt aus einer subalternen und damit immer schon 'schrägen' Sichtweise betrachtet und dadurch dem menschlichen Alltag eigenwillige Seitenblicke abgewinnt. So gefällt sich Erasmus auch als Dialektiker vom Dienst, der die bestehenden Werte dezent umwertet, wenn er etwa seinen Beruf zu einer höheren Kunst zu stilisieren versucht: „Wer nicht zum Kammerdiener geboren ist, kann allenfalls das ABC unserer Kunst ausüben; im Interesse der Vollkommenheit sei ihm aber zu einem weniger aristokratischen Berufe geraten.“ Dieser eigentlich unstandesgemäße Standesstolz, der mit einer Nobilitierung des Lakais einhergeht, erinnert entfernt an Jakob von Gunten, ebenso Erasmus' Plan, eine Dienerschule zu eröffnen. Gut möglich, dass Michaelis den Roman von Walser kannte und sich durch ihn zur Figur des tagebuchschreibenden Dieners hat inspirieren lassen.

Die Stücke geben sich wechselnden Ansichten und Lebensweisheiten hin, mal eher humoristisch, dann wieder mit etwas mehr Tiefgang, und vermitteln en passant auch ein paar biographische Angaben zur Dienerfigur Erasmus und seinen Anstellungsverhältnissen. Meistens kreisen die Briefe und Tagebuchauszüge aber um sich selbst. Enthalten sind auch zwei Hommagen an Johannes Burckard (1450-1506) und Fürst Pückler-Muskau (1785-1871), die beide bedeutende Tagebuch- bzw. Briefschreiber waren. Der vatikanische Zeremonienmeister Burckard hielt in seinem Liber notarum mit dokumentarischer Unvoreingenommenheit das Leben am Hof der Päpste fest, darunter die dekadenten Ausschweifungen eines Cesare Borgia, weshalb sie auch als chronique scandaleuse der römischen Kurie gelten. Erasmus lobt die Nüchternheit des Protokollstils: „Denn er hat hier nur ein Amt und keine Meinung.“ Pückler-Muskau wiederum hat mit den Briefen eines Verstorbenen seinen literarischen Ruhm begründet – zumindest zu Lebzeiten, als zunächst noch Goethe als Verfasser der Briefe vermutet wurde. Während der Fürst für seine 'Parkomanie', seine fanatische Gartenbaukunst, noch landläufig bekannt ist, ist es als Schriftsteller ruhig um ihn geworden. Doch Erasmus hält die Erinnerung an den Vergessenen in stiller Verehrung hoch, denn er blickt zweifelsohne ein Vorbild im Fürsten, bedenkt er ihn doch mit dem gleichen Zitat wie auch sich selbst: homo pro se.