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Sonntag, 6. Oktober 2024

Vladimir Nabokov: Verzweiflung (1934)

Normalerweise würde das Leserfrüchtchen nicht unbedingt zu einem Buch mit dem Titel "Verzweiflung" greifen, es sei denn, es stammt wie in diesem Fall vom Meister Nabokov. In der russischen Originalsprache besitzt der Titel, wie der Autor selbst betont, auch ein "weit klangvolleres Heulen": Ottschajanije. Es handelt sich um ein - noch relativ verspieltes - Frühwerk, das 1934 zuerst als Fortsetzungsroman in der russischen Zeitschrift Sovremennye zapiski erschienen ist und vom Autor drei Jahre später auch auf Englisch übersetzt wurde. Der Roman selbst aber ist weder in Russland noch England angesiedelt, sondern in Berlin, wo sich Nabokov zur Zeit der Niederschrift auch aufhielt. Im Kern greift der Roman das insbesondere auch in der russischen Literatur verbreitete Doppelgänger-Motiv auf (man denke nur an Gogol oder Dostojewski) und strikt daraus eine listige metafiktionale Geschichte, die im Kern offenbar auf einer wahren Begebenheit beruht: ein versuchter Versicherungsbetrug, der damals in Berlin gerade für Schlagzeilen sorgte.

Am 2. Mai 1931 wird ein gewisser Kurt Erich Tetzner zur Todesstrafe verurteilt und mit der Guillotine hingerichtet, weil er zuvor mit äusserstes Brutalität einen Wanderburschen umbrachte, die Leiche zerstückelte und in seinem Auto verbrannte, um seinen eigenen Tod vorzutäuschen, den seine Komplizin und Frau unter (allerdings geheuchelten) Tränen auch bestätigte, als sie den falschen Leichnam identifizierte in der Hoffnung, eine tüchtige Witwenrente einzustreichen. Doch der Plan ging nicht auf. Nur wenige Tage nach dem Mord beginnt die Polizei zu ermitteln und verhaftet, nach der Obduktion der Leiche, Tetzner und seine Frau. Dass Nabokov der Fall bekannt war, geht aus dem Roman deutlich hervor, als er seinen Protagonisten sagen lässt: "Da war zum Beispiel ein Kerl, der seinen Wagen mit der Leiche seines Opfers darin verbrannte, nachdem er ihm vorsorglich ein Stück von den Füssen abgesägt hatte, da der Leichnam offenbar eine grössere Schuhnummer aufwies als der Autobesitzer."

Der das sagt, heisst Hermann Karlowitsch und hat ein ganz ähnliches Verbrechen begangen: Als er auf den Vagabunden Felix trifft, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten erscheint, plant auch er an seinem Doppelgänger einen vorgetäuschten Selbstmord, um die Versicherung zu betrügen. Nach erfolgter Tat, zieht er sich nach Pignan in ein Hotel zurück, um dort die Ankunft seiner Frau abzuwarten und seinen Triumph auszukosten, ein perfektes Verbrechen ausgeführt zu haben. Täglich wartet er darauf den Nachricht seiner Ermordung in der Zeitung zu lesen. Doch bald muss er erfahren, dass er als Täter entlarvt ist, nur die Identität der Leiche sei noch ungeklärt, was Karlowitsch in eine grosse Wut und Raserei bringt, weil mit keinem Wort die verblüffende Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Toten erwähnt wird. Ausgerechnet jener Aspekt, auf den er sich am meisten einbildet, bleibt vollkommen unerkannt, weshalb er beschliesst, ein Buch zu schreiben, das sein Genie und sein "Meisterstück" vor Augen führen soll.

Es handelt sich um das Buch, das wir lesen, und das alle Ereignisse aus der unzuverlässigen Sicht - denn sein Gedächtnis folgt "eigenen Launen und Regeln" - von Karlowitsch schildert, bis zum Entschluss, dieses Buch zu verfassen. Lange bleibt für den Leser nämlich unklar, dass er das Geständnis eines Mörders liest und den Vorbereitungen zu einem perfiden Verbrechen beiwohnt. Karlowitsch redet zu Beginn um den heissen Brei herum, schweift ständig ab, verwirrt sich in Nebensachen, schreibt unkonzentriert, unterbricht seine Rede mehrmals und ist noch ganz aufgebracht über den Umstand, dass sein "Meisterstück" nicht als solches erkannt wurde: "Meine Hände zittern, ich möchte kreischen oder irgend etwas mit einem Knall zerschmettern ..." So steht es auf den ersten paar Seiten, ohne dass man dort schon um die Gründe weiss. Die Interjektion erfolgt vollkommen unvermittelt. Und erst allmählich, im Verlauf der Erzählung zeichnen sich die Beweggründe des Protagonisten ab, bis er schliesslich zur Tat schreitet.

Das Buch endet mit dem Moment als die Niederschrift mit dem zehnten Kapitel eigentlich beendet ist und Karlowitsch nach einem geeigneten Titel für sein Werk sucht, das er gewissermassen als Ersatzhandlung für sein nicht gewürdigtes Verbrechen verfasste, um wenigstens in der Literatur sein kriminelles Genie zu beweisen und zum verdienten Ruhm zu gelangen. Hier spielt sich nochmals seine Hybris auf, wenn er - mit Seitenhieb auf "den alten Dosto" (gemeint ist Dostojewski und sein Roman Schuld und Sühne) - schreibt: "Ein Künstler empfindet keine Gewissenbisse, selbst wenn sein Werk nicht verstanden, nicht anerkannt wird." Doch ein zweites Mal werden seine Illusionen herb enttäuscht, als er bei der Durchsicht seines Manuskripts bemerkt, dass ihm ein kapitaler Fehler unterlaufen ist, der sein "gesamtes Meisterwerk" zunichte macht: Er hat Felix' Stock mit seinem eingravierten Namen im Auto vergessen, so dass auch die Identität des Opfers keineswegs verborgen bleibt. Erschüttert über die eigene Stümperei schreibt Karlowitsch "mit einem stumpfen, vor Schmerz aufschreienden Bleistift" den Titel "Verzweiflung" auf sein Manuskript.

Der Roman beschreibt somit eine sukzessive Ent-Täuschung, die Karlowitsch durchläuft, nachdem er  lange Zeit in reiner Selbsttäuschung lebte: Weder ist er der geniale Mörder noch der grosse Literat, vielmehr entpuppt er sich als narzisstische Figur mit einem pathologischen Geltungsdrang, der ihn nicht nur über die eigene Unfähigkeit hinwegtäuscht, sondern offenbar auch eine gestörte Wirklichkeitswahrnehmung verursacht. (Angedeutet wird durch Karlowitsch' Vermögen zur "Spaltung" und "Dissoziation" sogar eine Form von Schizophrenie.) Zumindest geht aus dem Brief eines befreundeten Künstlers hervor, dass die physiognomische Ähnlichkeit mit Felix keine allzu auffällige oder am Ende überhaupt keine war. Selbst dieses entscheidende Detail im vermeintlich genialen Plan beruhte, so drängt der Text zur Annahme, auf purer Einbildung. 

Ganz zum Schluss wird die Pension, in der sich Karlowitsch verschanzte, von der Polizei umstellt. In einem letzten Anflug von Megalomanie imaginiert er sich, wie er als grosser Schauspieler vor die Türe tritt, der gerade eine Flucht inszeniere, und deshalb alle Schaulustigen überzeugen kann, die Polizei in Schach zu halten. - Man darf darauf wetten, dass auch dieses Szenario wie eine Seifenblase zerplatzen wird.

Montag, 9. Oktober 2023

Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters (1978)

Wenn Du einen Brief aus der Klinik bekommst, der möglicherweise ein letale Diagnose enthält, würdest Du ihn öffnen, um Gewissheit zu haben? Ein interessantes Gedankenexperiment. Der Protagonist aus Gustafssons Buch entscheidet sich dagegen.

Dieser fünfte und letzte Teil aus Lars Gustafssons Roman-Pentalogie Risse in der Mauer geht von einer ähnlichen Ausgangslage aus wie die ein Jahr später erschienene Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän von Max Frisch. In beiden Fällen handelt es sich um Aufzeichnungen sozial entfremdeter, sterbender Männer, um Endzeit-Monologe. Während sich bei Frisch ein Rentner namens Geiser in den hintersten Winkel eines Tessiner Bergdorfs zurückzieht, ist es bei Gustafsson der frühpensionierter Lehrer Lars Lennart Westin, von allen nur 'Wiesel' genannt, der im schwedischen Hinterland von Vertrana ein einsiedlerisches Leben führt und sich der Bienenzucht widmet. Beide leben sie alleine und getrennt von der menschlichen Gesellschaft und sehen sich in ihrer Einsamkeit nochmals mit den zentralen Fragen des Lebens und des Menschseins konfrontiert.

Geiser leidet unter fortschreitender Demenz und versucht sein Wissen, das erodiert wie draussen der Erdboden aufgrund heftiger Unwetter, auf unzähligen Zetteln festzuhalten. Westin hingegen laboriert, wie man gleich Zu Beginn erfährt, an einem tödlichen Krebsgeschwür, das ihm zuweilen heftige Schmerzen verursacht, einen tiefen, "weissglühenden" Schmerz. Er selber kennt die Ursache seiner Schmerzen nicht, da er sich weigerte, den Brief vom Krankenhaus mit der Diagnose zu öffnen. Stattdessen bleibt er lieber im Ungewissen und benutzt den Brief als Fidibus für seine Pfeife. Eine letztlich zwar letale, dennoch aber glückliche Entscheidung. Denn Westin hat die "Pause", die ihm vor seinem Tod noch vergönnt war, wie er selber meint, "gut genutzt". Er findet im Kampf mit dem Schmerz immer mehr zu sich selbst, während sich Geiser in seinem Bergdorf immer stärker abhanden kommt. Nicht allein darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen den von der Ausgangsidee ähnlichen Texten.

Einen Roman in konventionellen Sinne kann man Der Tod es Bienenzüchters nicht nennen. Er präsentiert sich vielmehr als Nachlass-Konvolut verschiedener Hefte mit verstreuten Einträgen: Es gibt ein gelbes, ein blaues und ein beschädigtes Notizbuch, aus denen der als Herausgeber fungierende Lars Gustafsson in loser Reihenfolge Auszüge unter sprechenden Kapitelüberschriften zusammenstellt. Die Farbterminologie der Notizbücher erinnert an die Diarien eines anderen grossen Schweden: August Strindberg nannte seine (erst postum publizierte) Notizensammlung das 'Blaubuch' und bezeichnete es als die "Synthese seines Lebens". Das gilt nun auch für Westins Aufzeichnungen in besonderem Maße: Angesichts des nahen Todes zieht er nochmals Bilanz über seine Existenz im Persönlichen wie im Allgemeinen. Er übt sich in der ars moriendi, wobei er eine gänzlich neue Praxis für sich reklamiert: "Oder vielleicht ist es eine neue Art des Sterbens, die ich gerade erfinde?" Genau genommen ist es keine Sterbekunst, sondern vielmehr die "Kunst, Schmerzen zu ertragen" - eine Kunstart mithin, "deren Schwierigkeitsgrad so hoch ist, daß es niemanden gibt, der sie ausübt." Außer Westin.

Westin, der zeitlebens zu wenig gewollt hatte, sich zu wenig 'wirklich' fühlte, findet nun im Schmerz zu einer Art ekstatischer Erfahrung, die er einem paradiesischen Zustand gleichsetzt, in dem Lust- und Schmerzempfinden in einander übergehen. Der Schmerz "ist ein Reich, in dem endgültige Wahrheit herrscht." Weil der Schmerz nichts anderes als real ist. In einer an die Akademie von Lagado (aus Gullivers Reisen von Jonathan Swift) angelegten Parabel entwirft Westin die Utopie einer "Welt, in der die Wahrheit herrscht". Die Bewohner dieser Welt kommunizieren nicht mit Sprache oder Symbolen, sondern mit den Gegenständen respektive Handlungen selbst. Sie sagen es nicht, sondern tun es direkt, was sie mitteilen wollen. Zwei Konsequenzen resultieren daraus: Zum einen, sind Lügen nicht möglich, zum anderen bleibt der Horizont dessen, was überhaupt ausgedrückt werden kann, beschränkt. Einen Begriff von 'Welt' kann es in dieser Utopie nicht geben, weil die Welt als solche müsste aufgeboten werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Schmerz: Auch er ist absolut real, echt und ohne Falschheit und entzieht sich letztlich jedem sprachlichen Zugriff.

Hier macht sich der Sprachphilosoph Gustafsson bemerkbar, der - im selben Jahr wie Tod eines Bienenzüchters - über das Thema "Sprache und Lüge" habilitierte und dabei neben Fritz Mauthner und Alexander Bryan Johnson auch Friedrich Nietzsche behandelte. Dessen Einfluss zeigt in einer anderen, weitaus kühneren Utopie in Westins Notizheften. Anders als Nietzsche, dessen Zarathustra den Tod Gottes verkündete, entwirft Westin eine Parabel vom erwachenden Gott. Gott ist nicht tot, er schläft nur 20 Millionen Jahre lang tief und fest in einem fernen Winkel des Universums und kümmert sich nicht um seine Schöpfung, bis eines Tages seltsame Klänge an sein Ohr dringen. Gott wacht auf und bemerkt, dass es sich um Gebete der Menschen handelt. Sofort eilt Gott herbei, hilft den Bedürftigen, sorgt für ewigen Frieden und soziale Gerechtigkeit und liest den Menschen alle heimlichen Wünsche von den Lippen. Mit dem Effekt, dass die ganze Welt in Saus und Braus aufgeht. Es wird fröhlich pokuliert und kopuliert, es herrschen Zustände wie in Sodom und Gomorrha. Der Beweis für die Güte und Allmacht Gottes ist erbracht, jedoch ganz zum Ärger des Klerus und der Kirche, die sich die göttliche Obhut gänzlich anders ausgemalt haben. Weshalb sie das Volk dringend dazu aufrufen, weniger zu beten, damit die katholische Welt nicht noch mehr aus den Fugen gerät.

Wie in der Geschichte des Großinquisitors bei Dostojewski sieht die Kirche ihre Vormachtstellung auch hier durch die Realpräsenz des Göttlichen bedroht - und will es lieber wieder aus dem Weg schaffen. Gustafssons Parabel endet jedoch nicht mit dem Sieg der Kirche, sondern sie mündet wiederum in die Sprachlosigkeit. Die Erfüllung aller Wünsche durch Gott führt zu einem Dasein, "für das keine Worte gab" und es "begann das Sterben der Sprache". Das utopische Ideal einer Welt ohne Lüge und grenzenlosem Glück ist für Gustafsson nur als Bereich jenseits der Sprache denkbar. Das gilt für das Paradies ebenso wie für die göttliche Offenbarung. Wo sich die Sprache dazwischen mischt, da entstehen Missverständnisse und es kommt zu Konflikten. Obwohl Westin seinen Schmerz als einen  Zustand kat exochen erlebt, will er sich ihm doch nicht ergeben, sondern er kämpft täglich dagegen an. Sein Credo lautet: "Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf." Er erweist sich dadurch als ein spezieller Typus eines Atheisten: Er negiert nicht Gott, sondern stellt sich ihm als Antithese entgegen: "Wenn es einen Gott gibt, ist es unsere Aufgabe, nein zu sagen." Und Westins nachgelassene Aufzeichnungen stehen unter dem dezidierten Vorsatz, "ein großes, deutliches Nein zu sein".