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Sonntag, 23. Februar 2025

William Gibson / Bruce Sterling: Die Differenz Maschine (1990)

Nachdem das Lesefrüchtchen von Frankissstein eher enttäuscht war, griff es zu einem vermeintlich sicheren Wert aus der Cyberpunk-Schule, der eine ähnliche Thematik behandelt, wie der Titel Die Differenz Maschine suggeriert. Er spielt auf Charles Babbages Erfindung an, die als theoretische Vorwegnahme des Computers gilt. Doch trotz des instruktiven Nachworts von Michael Nagula über diese Maschine im Anhang spielte sie, wie sich bei der Lektüre herausstellen soll, praktisch keine Rolle. Stattdessen geht es vordergründig um den durch die Erfindung ausgelösten Gesellschaftskampf zwischen Vertretern der Radikalen Partei, bestehend aus Regierungsmitgliedern, Industriellen, Wissenschaftlern und dem Geheimdienst, und den historischen verbürgten Ludditen, der nach ihrem Anführer Ned Ludd benannten maschinenstürmenden Arbeiterschicht.

Der Roman spielt zu Zeiten der industriellen Revolution, nur dass neben den Jaccard-Webstühlen auch Babbages Differenzmaschine tatsächlich in Betrieb und dadurch das elektronische Zeitalter bereits angebrochen ist. Es gibt Automobile und Kinotrope, Telefax und Maschinengewehre und es werden auf Lochkarten Informationen gespeichert und ausgetauscht. Im Zentrum der Handlung steht ein ominöses Kästchen mit solchen Lochkarten, dem alle hinterherjagen. Es enthält den sogenannten "Modus", ein von Ada Lovelace entwickeltes Programm, angeblich zur Vorhersage von Wett-Ergebnissen. Doch wie sich am Ende herausstellt, legt dieser Modus quasi die erste Grundlage für künstliche Intelligenz. Ganz am Schluss erwacht das Computerbewusstsein und entpuppt sich als "alles sehende Auge" der Geschichte. Eine von vielen abrupten Wendungen, welche die Lektüre zuweilen mühsam machen.

"Das lang erwartete Gemeinschaftswerk der beiden Spitzenautoren des Cyberpunk." So wird das Buch auf dem Umschlag angepriesen. Doch wie bei Neal Stephensons Cryptonomicon handelt es sich eher um eine zähe Lektüre. Richtig rasant und packend wie in Gibsons Klassiker Necromancer wird es selten. Stattdessen verliert sich der Roman in epischer Breite. Das Prinzip einer alternativen (bzw. futuristischen) Vergangenheit funktioniert für das Cyberpunkt-Genre nur bedingt, die Geschichte wird dadurch nicht zwingend spannender, sondern bleibt ähnlich anstrengend wie bei den meisten Historienromanen. Zudem besitzt das Buch zwei Probleme, die den Lesegenuss mindern: Zum einen weckt der Titel eine falsche Erwartungshaltung, die sich nicht erfüllt, so dass sich zunehmende Enttäuschung einstellt. Zum anderen ist die Handlung teilweise so diffus und bleibt bis zum Ende rätselhaft, dass man rasch den Faden und das Interesse verliert.

Seinen Reiz gewinnt der - angeblich aus zahlreichen literarischen Versatzstücken des 19. Jahrhunderts zusammenmontierte - Roman vornehmlich durch die Verfremdung der Vergangenheit, es treten etliche realhistorische Figuren und Ereignisse in allerdings veränderten Konstellation auf, sowie durch das retro-futuristische Kolorit. Wie hier das viktorianische London als gigantischer Moloch aus Regen, Nebel, Smog und üblen Dämpfen geschildert wird (die Geschichte spielt mehrheitlich in der Epoche des "grossen Gestanks"), erinnert atmosphärisch an den Film Blade Runner. Bevorzugt werden auch zwielichtige Orte wie Bordelle, Wettbüros, Hafendocks und schäbige Hotelzimmer zum Schauplatz gewählt und verleihen dem Buch damit jenen Charakter, den es zum Prototypen des Steampunk macht. Im Grund genommen beschreibt der Roman somit eine rückwärtsgewandte Dystopie, die selbstredend als Kritik an der (damaligen) Gegenwart zu lesen ist.

So könnte man dem Roman zugute halten, dass er eine grosse Allegorie der technischen Evolution darstellt. Nicht zufällig ist einer der Hauptprotagonisten, Dr. Edward Mallory, ein Paläontologe, der das erste Dinosaurier-Skelett, den sogenannten "Land-Leviathan", entdeckt hat. So zieht sich eine evolutionäre Linie von der Frühzeit der Welt bis in die technische Zukunft durch den Roman und nimmt damit eine These von der kybernetischen Koevolution von Mensch und Maschine des amerikanischen Historikers Bruce Mazlish literarisch vorweg, die dieser nur wenige Jahre später in seiner Studie The Fourth Discontinuity (1993) vorbringen wird. An einer Stelle ereilt Mallory schlagartig die Erkenntnis, dass der Mensch weder die Krone der Schöpfung noch die einzige Spezies im Weltall ist. Im Bericht einer paläontologischen Expedition entdeckt er Bilder von monströsen, ausserirdischen Wesen, wie sie einer Horrorgeschichte von Lovecraft entsprungen sein könnten und keiner bekannten Kreatur der Erdgeschichte gleichen. Hier gelangt nicht nur die Erzählung an eine unerwartete Wende, es bricht auch das Irreale förmlich in den Text ein. 

Sonntag, 9. Juni 2024

William Gibson: Neuromancer (1984)

Das Thema der künstlichen Intelligenz bewegt heutzutage wieder einmal die Gemüter; neben allen ersichtlichen Vorteilen besteht die Befürchtung, dass die Maschinen eines Tages ein eigenes Bewusstsein entwickeln und dann nicht mehr menschlichen Befehlen gehorchen, sondern autonome Entscheidungen treffen. Genau dieses Szenario spielt sich in William Gibsons Cyberpunk-Klassiker ab, der schon vor vierzig Jahren ein dystopisches Zukunftsbild zeichnete, an dem wir jedoch (noch) nicht ganz angelangt sind. Wie visionär der Autor dennoch die technische Entwicklung vorwegnahm, zeigt sich u.a. darin, dass heute selbstverständliche Begriffe wie "Cyberspace" und "Matrix" von ihm geprägt wurden. Wie so oft in der Science Fiction geht die Fiktion der Wirklichkeit voraus, ja mehr noch, bereitet ihr den Weg. Man attestiert Gibsons Roman deshalb auch, er hätte die Entwicklung des Internet wesentlich beeinflusst.

Im Zentrum der Geschichte steht Case, ein abgewrackter, ehemaliger Konsolen-Cowboy (vulgo: "Hacker"), der sich in den Slums von Chiba als Kleinkrimineller und Junkie durchschlägt. Im Cyberspace führte er früher sogenannte "Runs" aus, er hackte mit anderen Worten auftragsmässig Computersysteme. Da er einen Teil des Gewinns für sich abzweigte, liess sein Auftraggeber das Nervensystem von Case schädigen, so dass es ihm fortan unmöglich war, in den Cyberspace einzusteigen, was jeweils so geschah, dass er seinen Körper mit sogenannten "Troden" verkabelte und sein "entkörpertes Bewusstsein in die Konsens-Halluzinationen der Matrix proijzierte". Doch mit diesen "körperlosen Freuden des Cyberspace" war es nunmehr vorbei, es blieb ihm nur noch sein Körper und der "Körper war nur Fleisch": Case ist fortan "ein Gefangener des Fleisches".

Case steht kurz davor, sich mit sogenannten "Derms" - das sind: auf die Haut aufgelegte Drogenpflaster - selbst zu ruinieren, als Hilfe von unerwarteter Seite kommt. Molly, eine gefährliche Schönheit mit Skalpellfingern, stöbert ihn in der Gosse auf und schleppt ihn zu einer dubiosen Figur namens Armitage, der von sich behauptet ein Cyberkriegsveteran der gescheiterten Operation "Screaming Fist" zu sein. Er bietet Case eine teure Regenerierung seines Nervensystems an, unter der Bedingung, künftig für ihn zu arbeiten. Obwohl ihm das Angebot suspekt erscheint, schlägt Case ein. Er wird operiert und kann wieder in den Cyperspace eintauchen. Rekrutiert werden ausserdem der "Finne" und ein Psychopath namens Riviera. Ausserdem klaut Case eine Flatline, die mit dem Bewusstsein des legendären Computer-Hackers McCoy Pauley ausgestattet ist, der nun Case auf seinen "Runs" unterstützt und mit seinem schepperndem Maschinenlachen eine markante Nebenfigur darstellt.

Molly und Case beginnen Informationen über Armitage zu sammeln und finden heraus, dass er eigentlich Colonel Willis Corto heisst und alles darauf hindeutet, dass er von einer K.I. mit dem Codenamen "Wintermute" ferngesteuert wird, die plötzlich auch zu Case Kontakt aufnimmt. Sie gehört dem Familienunternehmen Tessier-Ashpool, eine uralte Orbitfamilie, deren Mitglieder sich wechselweise klonen, auf Eis legen und wieder auftauen, wenn es an der Zeit ist. In Gestalt verschiedener vertrauter Personen, u.a. auch als "Finne", begegnet Case der K.I. im Cyberspace, die ihn um Hilfe bittet, sich  mit seinem komplementärem Gegenstück, der K.I. "Neuromancer", die in Gestalt eines Jungen auftritt, zu einem autonomen Super-System zu verbinden. was die Turing-Polizei wiederum verhindern will, da es nicht vorgesehen ist, dass künstliche Intelligenzen sich der menschlichen Kontrolle entziehen. 

Der Showdown spielt sich in der Villa Straylight der Familie Tessier-Ashpool ab, die direkt aus einer Horrorstory von H.P. Lovecraft stammen könnte. Sie ist ein tief und endlos verschlungener, labyrinthischer Bau, ein "parasitäres Gebilde", wie es heisst, das an ein Wespennest erinnert. Auf gespenstische Weise schlummern hier die Familienmitglieder tiefgefroren in ihren Eissärgen. Straylight "ist verrückt, ein Wahnsinn", und zwar wie so oft auch bei Lovecraft, ein Wahnsinn, der die menschliche Auffassungsgabe übersteigt, ein Wahnsinn, der letztlich "unverständlich" bleibt. Gemeinsam mit Molly und Riviera, der sich immer mehr als grössenwahnsinniger Psychopath herausstellt, dringt Case in den Siliziumkern der Villa vor, wo in Gestalt eines riesigen Kopfes ein Computerterminal steht, das er schliesslich mit dem "wahren Namen" (es handelt sich um eine Tonfolge) knacken und so die Vereinigung von Wintermute und Neuromancer herbeiführen kann: "Ich bin die Matrix [...]. Ich bin die Gesamtheit des Systems, die ganze Show."

Der Roman hat - ganz im Gegensatz zum Film Johnny Mnemonic von 1995, der auf der gleichnamigen Erzählung Gibsons beruht, die wiederum als Vorlage für Neuromancer diente - nichts an Frische eingebüsst. Die ohne grossen Erklärungsaufwand hingestellte Zukunftswelt, in der Elektroschrott und Hightech, menschliches Prekariat und künstliche Intelligenzen koexistieren, wirkt eindrücklich und überzeugend. Die Handlung ist rasant und dicht mit immer neuen Einfällen und futuristischen Details gespickt. Sogar ohne Sex kommt die actiongeladene Story nicht aus, erstaunlicherweise aber kein Cybersex: Es wird noch ganz bodenständig ins ansonsten von den Cyberpunks verpönte "Fleisch" vor- resp. eingedrungen. Besonders bizarr mutet dabei der Einfall der "Fleischpuppen" an: Es handelt sich um eine futuristische Form der Prostitution, bei der den Frauen ein Serum verabreicht wird, damit sie nicht mitbekommen, was die Freier alles mit ihnen anstellen.