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Sonntag, 20. Juli 2025

Friederike Mayröcker: ich bin in der Anstalt (2010)

In Österreich gilt die 1924 in Wien geborene Friederike Mayröcker als "Jahrhundertdichterin", was angesichts ihrer Lebensspanne, sie starb mit 96 Jahren, rein temporal sicher zutreffend ist. Ansonsten zählt Mayröcker wohl eher zu den Autorinnen, deren Ruf grösser ist als ihre faktische Lesegemeinde, zumal ihr sperriges und eigensinniges Werk sich einer breiten Rezeption von Anfang an verweigert. Erzählungen im konventionellen Sinn sucht man Mayröcker jedenfalls vergeblich. Es handelt sich quasi um einen ununterbrochenen, assoziationsreichen Schreibstrom, in den alles einmündet, was die Autorin liest, hört, wahrnimmt und worüber sie sich Gedanken macht. Ein Leben, das ganz und gar in die Schrift ein- und aufgeht, was sofort augenscheinlich wird, wenn man die Bilder von Mayröckers mit Zetteln und Manuskripten von oben bis unten vollgestopften Wohnung sieht. Frieda Paris hat es treffend einen "lebenslangen Satz" genannt, woran Mayröcker arbeite. 

2010 erschien mit ich bin der Anstalt ein selbst für Mayröckers Verhältnisse spezielles Buch, da es bloss - wie es im Untertitel heisst - "Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk" enthält. (Weil Mayröckers Hermes Baby keine Taste für das scharfe Eszett kennt, transkribierte sie es mit "sz", eine Kaprize, die auch im Druck beibehalten wird, anfänglich sehr zum Unverständnis des damaligen Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld.) Insgesamt sind es 243 solcher Fussnoten (oder Abschnitte) von unterschiedlicher Länge. Manche sind nur eine Zeile lang, andere wachsen über eine Seite an. Dieses fragmentierte Kompositionsprinzip kommt der ohnehin schon diskontinuierlichen Prosa, jener der Autorin höchsteigenen "pneumatischen Fetzensprache" entgegen, wie es im zwei Jahre zuvor erschienen Band Paloma heisst. Dort ist der Text nicht in Fussnoten, sondern 99 Briefe gegliedert.

Worum geht es? Das ist bei Mayröcker wie immer die falsch gestellte Frage. Bildet ihr Werk doch eine einzige existenzielle Versprachlichungsarbeit. Hier nun aber scheint gerade die Sprache zu versagen - es ist die Rede von "Demenz" (23), Aphasie, "Wortversagen" (84) - und damit dem schreibenden Ich den Boden unter den "Füszen" zu entziehen. Allein die Fussnoten geben noch Halt. Sie versuchen den Zustand einer Sprachkrise sprachlich zu fassen, wobei sich der Sprachzerfall in unvollständigen, elliptischen Sätzen, abgebrochenen Gedanken, fehlenden Worten oder Abbreviaturen bereits manifestiert. Am Ende, in der letzten Fussnote, stehen gar nur noch Punkte, um das Ausbleiben eines Textes zu markieren. Die fragmentarische Form steht somit in Korrelation zum zerrütteten Gedächtnis, aus dem eben kein integrales "Werk" mehr hervorgeht, lediglich "Relikte" und einzelne Bruchstücke, die unverbunden nebeneinanderstehen und ins Offene, Ungeschriebene verweisen. 

Die Motive des Todes und der Vergänglichkeit, des (körperlichen) Zerfalls und "Ruins" (21) stehen, wie überall in Mayröckers Alterswerk, im Vordergrund. Der Tod ist der grosse Angstpartner, gegen den die Autorin anschreibt, da mit dem Tod nicht nur ihr Leben, sondern das damit unauflösbar verwachsene Schreiben zu Ende ginge. Ein für eine Graphomanin geradezu beunruhigender Gedanke: "ich begriff dasz ich nur noch 1 kurze Spanne (KNOSPE) haben würde zu leben und zu schreiben und ich geriet in 1 panische Angst" (173). Nahezu protokollartig, tlw. mit präzisen Datumsangaben, halten die einzelnen Einträge alltägliche Beobachtungen, Lektüren und Erinnerungen fest, klammern sich schriftlich geradezu an alle Details, um sie ja nicht zu vergessen. Häufig kreisen die Gedanken um den verstorbenen Lebenspartner Ernst Jandl, der - anders als bei etlichen anderen Personen, die mit Klarnamen genannt werden - lediglich als ER (in Versalien) apostrophiert wird oder als fingierte Figur Ely auftritt. 

Die Lektüre gestaltet trotz der Widerständigkeit des Textes einen eigentümlichen Sog und lässt zwei Erfahrungen zu: Zum einen, wie die additive Auflistung von zunächst unspektakulär heterogenen Wahrnehmungs-, Gedanken- und Erinnerungssplittern plötzlich in poetische Verdichtungen umschlagen kann, ohne dass sich dieser Übergang genau bezeichnen oder das eine vom anderen trennen liesse; zum anderen, wie in einer experimentellen Prosa ein hohes Mass an Sentiment mitschwingt, was für solche Textsorten eher unüblich ist. Doch da bei Mayröcker Leben und Werk in eins verschmelzen, verhält es sich so, wie die Autorin selber schreibt, "dasz ich schamlos und mich entblösze in meinen Schriften" (109) Hierbei zitiert sie auch Jean Genet, der sagt, wenn er ein Buch verlasse, sind "die Füsze nackt" (157). So verweisen die Fussnoten zugleich auf den entblössten, den 'barfüssigen' Text, wie überhaupt das Wort 'Füsse' oder die Wendung 'zu meinen Füssen' in hoher Okkurrenz auftritt und damit Form und Inhalt verschränkt. An solchen Stellen zeigt sich, wie genau und zwingend der Text trotz seiner scheinbaren Disparatheit gearbeitet ist.

Mayröcker begreift sich als "Bettlerin des Wortes" (190). Sie zitiert häufig und legt die Intertexte offen aus. In diesem Fall sind es vor allem drei Werke von Jacques Derrida, auf deren Folie Mayröcker schreibt: Glas (Totenglocke), das in zwei Kolumnen Hegel und Jean Genet einander gegenüberstellt, die Mémoires d'aveugle, aus dem die Motive der Trauer und Tränen abgleitet sind sowie Jeoffrey Benningtons Derrida-Biographie, die Derridas Circumfession in Form von Fussnoten enthält. An dieses Strukturprinzip knüpft Mayröcker auch inhaltlich an: Ihre Fussnoten präsentieren sich ebenfalls als Bekenntnisse mit Verweis auf Augustinus, allerdings auch mit dem initialen Hinweis, dass Bekenntnisse "nichts mit der Wahrheit zu tun haben, nämlich die hingeweinten" (9). Auch da beruft sie sich auf ihren Gewährsmann Derrida, der offenbar weinend feststellte, "dasz 1 Bekenntnis nicht mit der Wahrheit zu tun hat" (66).

So bleibt auch der Realitätsgrad von Mayröckers Konfessionen trotz aller Wirklichkeitsindikatoren offen, nicht zuletzt deshalb, weil sich Gegenwärtiges oft nahtlos mit Reminiszenzen zu einem atemporalen Kontinuum verschmelzen. Alles spielt letztlich alles unterschiedslos im Kopf des schreibenden Ich ab, in einem mentalen Innenraum, als den man im übertragenen Sinn die titelgebende "Anstalt" verstehen könnte: als Ort der Introspektion: "ich lausche auf dei Vorgänge in meinem Gehirn" (85). Ob das ebenfalls im Titel angeführte "ich", sich in einer realen Anstalt befindet oder diesen Zustand nur mantrahaft heraufbeschwört (die Titelphrase "ich bin in der Anstalt" wird im Buch zigfach wiederholt), bleibt ungewiss. In einem Interview sagte die Autorin: "Anstalt ist für mich überhaupt etwas Anziehendes. Und man weiss ja auch nicht, ist es eine Anstalt, ist es ein Spital, handelt es sich um eine Irrenanstalt? Handelt es sich um ein Gefängnis? Es bleibt ja alles offen."

Die Anstalt, das Gefängnis, die Zelle als idealer, weil isolierter Ort des Schreibens ist ein in der abendländischen Literaturgeschichte weit verbreiteter Topos. In gewisser Hinsicht war auch Mayröckers legendär gewordene, bis an die Decke mit Papieren vollgestopfte Wohnung eine solche Schreib-Anstalt, ein von der Aussenwelt abgeschirmter Raum, der allein ihr den kreativen Freiraum verschaffte. Im Buch vergleicht sie ihr "Gehäuse" einmal treffend mit "1 Merzbau" (98).

Friederike Mayröcker: ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk. Berlin: Suhrkamp 2010.

Am Rande bemerkenswert: a) wie sich die Autorin gegen eine geschlechterspezifische Vereinnahmung positioniert: "gender Begriff, es gibt keine Frauenliteratur" (29), "es gibt keine spezifisch weibliche Kunst, usw." (89); wie sie die zeitgenössische Philologie beurteilt: "Feuer und das ist das richtige Wort in unserem Gespräch über den Stil der Literaturwissenschaftler nämlich dasz es ihnen manchmal fehle" (86)

Sonntag, 6. April 2025

Kurt Schwitters: Franz Müllers Drahtfrühling (1919/20)

Bleiben wir beim Nonsens: Franz Müllers Drahtfrühling ist neben Anna Blume der wohl bekannteste Dada-Text von Kurt Schwitters, halb Manifest halb skurrile Geschichte, in der übrigens besagte Anna Blume auch einen Auftritt hat. Ursprünglich kündigte Schwitters das Vorhaben als der grosse Liebesroman der Anna Blume an. Daraus ist jedoch nichts geworden, falls die Ansage jemals ernst gemeint und nicht lediglich eine dadaistische Blague war. Was heute vorliegt sind verschiedene Fragmente aus dem Werkkomplex um den Drahtfrühling, wobei wiederum offen bleibt, wie intendiert dieser Fragmentcharakter ist. Bei einem Text, der- sich fortlaufend selbst dementiert, in sich schon Elemente des Zerfalls und der Uneinheitlichkeit enthält, etwa durch diverse Einschübe und Neueinsätze, gehört das Fragmentarische wesentlich zur Ästhetik dazu. So lässt der Autor zum Beispiel mitten in der Erzählung zusammenhanglos "ein selbstverfasstes Gedicht" folgen, nur um danach "wieder" mit dem "Anfang dieser Geschichte" zu beginnen.

Das ist nur ein markantes Beispiel für viele weitere Formen der erzähllogischen Verweigerung, die typisch für den Dadaismus und seine Antitexte ist. So heisst es programmatisch in der eingeschobenen Rede von Alve Bäsenstiel: "Durch den Dadaismus gelangen wir zum Stil, weil uns dada die ganze erhabene Stillosigkeit unserer Zeit so recht 'lieb' und eindringlich zeigt." Ein weiteres Merkmal sind scheinbar parenthetisch eingestreute, absurde Werbeslogans (die Bezeichnung "Dada" selbst leitet sich von einer damals geläufigen Seifenmarke ab): "Revon in Familienflaschen à 2,50 M.", "Bei rheumatischen Zahnschmerzen und Kopfweh genügen meist 2-3 Revontabletten, und zwar auf den Bauch." Revon? Das ist der halbe Städtename von Hannover rückwärts gelesen und zugleich auch der Schauplatz der Geschichte. Schwitters liebt es, Namen rückwärts zu lesen, etwa A-N-N-A, die von hinten wie von vorn gleich klingt, oder P-R-A, Hans Arp, mit dem zusammen Schwitters Ideen für den Text entwarf. Arp wird einmal sogar als "Chronist" erwähnt.

Hannover also. Dort fanden 1919 wie überall in Deutschland nach der Novemberrevolution Streiks und Aufstände statt, auf den er Untertitel der Erzählung offenbar anspielt: "Ursachen und Beginn der grossen glorreichen Revolution in Revon". Ausgelöst wird diese durch einen stumm und unbeweglich dastehenden Mann, der - das ist ein zeitgeschichtlicher Wink - einmal als "Bolschewik" verdächtigt wird. Doch der Mann löst nicht als politischer Akteur ein öffentliches Ärgernis aus, sondern einzig und allein deshalb, weil er bloss dasteht, gerade nichts unternimmt, sich weder rührt und auch keine Fragen beantwortet. Das provoziert einem Menschenauflauf, der sich schliesslich zu einem Tumult ausweitet, bei dem Kinder zerquetscht und Leute totgetreten werden, nachdem Alves Bäsenstiel, auch das eine bekannte Figur Schwitters, in einer Brandrede die Meute gegen den stehenden Mann aufgebracht hat. Wie sich später herausstellt, handelt es sich bei dem Mann um Franz Müller, die Personifikation von Schwitters Merzkunst, da Müller wie eine "wandelnde Merz-Plastik" aussieht, gestopft und geflickt und mit Draht umspannt. Sein Name ist Programm: Müller besteht aus Müll und er ernährt sich von Müll auf Basis einer bestimmten "Müller- oder Mülldiät".

Die Geschichte lässt sich somit auch als Allegorie auf das Unverständnis lesen, das die Hannoveraner seiner Merzkunst entgegenbrachten. Und nicht Wenige haben damals wohl auch die Geschichte selbst als Müll bezeichnet, weil sie aus inkohärenten Ein- oder vielmehr Abfällen zusammengeflickt ist, aus erzählökonomisch unnötigen Wiederholungen, unsinnigen Sätzen, die sich zuweilen grammatisch zersetzen und zu echtem Sprachmüll mutieren: "Schreck wühlte Augenlichter zischen Eingeweide. Der Polizist lächelte einen lakierten Apfel." Das ist Nonsenspoesie vom Feinsten und vor allem ein hochkomischer Text, der an etlichen Stellen vorwegnimmt, was Helge Schneiders schrägen Humor ausmacht: ein Spiel mit sprachlichen Unzulänglichkeiten, kalkulierten Missverständnissen, Aneinandervorbei-Reden und hanebüchenen Dialogen. Meisterhaft vorgeführt im zweiten Kapitel, das die Debatte im Revoner Parlament parodiert, wie mit Kurt Müller umzugehen sei. Hier führt Schwitters die oftmals politischen Leerformalen ad absurdum und macht somit deutlich, dass literarischer Nonsens oftmals eine, wenn nicht die adäquate Reaktion auf eine sinnlos gewordene Welt darstellt.