Wolfgang Koeppen (1906-1996) gilt als wichtiger
Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur. Anstatt aber der zeittypischen Kahlschlagästhetik zu folgen, hat er neue sprachliche Ausdrucksformen erprobt. Auch der spätere, nach
einer längeren Schreibpause vorgelegte Prosatext Jugend (der Text
trägt keine konkrete Gattungszuweisung) folgt einer experimentellen
Erzählweise. Sie zeigt sich allein schon in der – im Impressum eigens erwähnten
und damit besonders markierten – eigenwilligen Interpunktion,
welche die mehrfach gebrochenen Gedankenbilder und Erinnerungsschlieren syntaktisch verfugt. Marcel Reich-Ranicki zieht auf dem Klappentext
Vergleiche zu Joyce, Dos Passos und Döblin. Man könnte zudem auch
Der Tod des Vergils von Hermann Broch nennen – wie Jugend
ebenfalls ein gewaltiger innerer Monolog. Bei Koeppen handelt es sich um eine ältere männliche Erzählstimme im Rückblick auf die während dem Ersten Weltkrieg verlebte
Jugendzeit, die keine sein durfte: „Jugend galt nicht“.
Beim Titel Jugend erwartet man
entweder ein Coming-of-Age-Geschichte oder ein Erinnerungsbuch. Koeppens
Jugend gehört also zur zweiten Kategorie. Erinnert wird wie
bei Marcel Proust - der mit seiner mémoire involonaire offensichtlich Pate gestanden hat - eine verlorene Zeit. Bereits die ersten Seiten beschwören den Lauf der „sichtbar verrieselnden Zeit“. Und auch am
Ende des Buchs wird die verflossene Zeit erwähnt, die sich aber „in
dem Gedächtnis in irgendeiner Zelle“ des Erzählers sedimentiert
habe und dort reaktiviert werden kann. Diese Vorstellung einer
körperlich inkarnierten Zeit entwickelt auch Proust am Ende der Recherche
à la temps perdu. Bei Koeppen handelt es sich jedoch nicht nur
um eine verlorene Zeit, sondern auch um ein verlorenes Paradies, wie
ebenfalls gleich zu Beginn deutlich gemacht wird: „Meine Mutter
fürchtete die Schlangen.“ Mit der Präsenz von Schlangen ist auch
die Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr weit.
Tatsächlich weint die genannte Mutter den
verflossenen Glanzzeiten ihrer Familie nach. Eine Nostalgie, die ihr Sohn (der
Erzähler) nicht teilen kann, und schon damals als Kind nicht teilen
wollte. Im Gegenteil: Vielmehr wünschte er der Stadt seiner Herkunft
– die unschwer als Rostock identifizierbar ist – die Schlangen
nachgerade auf den Hals. Sein Paradies ist denn auch nicht die durch
den ersten Weltkrieg zerrüttete Heimat, sondern das Kino, „das
Jugendlichen verbotene, schwarzweiße
Paradies“. Doch wie schon Adam im biblischen Paradiese, so gehen
dem Erzähler im Kino die Augen auf. Es ist ihm als würde er „die
Frucht vom Baum der Erkenntnis essen“. Er entdeckt im Lichtspiel
den „Schrein der Wahrheit“ und sieht im Dunkeln des Kinosaals
„zum erstenmal die Wirklichkeit“. Was da durch die
„Sternenstaubbahn“ des Projektors auf die Leinwand flimmert,
besitzt einen höheren Wirklichkeitswert als die verlogene Propaganda, welche die Schrecken des Krieges
zugunsten der nationalen Glorie konsequent wegzuleugnen sucht.
Als
Knabe erlebt der Erzähler die blinde Verehrung, die Bismarck entgegenschlägt,
als er die Lange Strasse von Rostock entlang promeniert. Andererseits kennt er
auch die ausgeblendete Wirklichkeit: die Niederlage in Verdun, die
Kriegskrüppel, die vielen Toten. Ein starkes Fieber rettet den
14jährigen in der Militärschule davor, selber mit an die Front ziehen
zu müssen. In einer Art Delirium auf der Krankenstation in der leeren
Kaserne vermischt sich die Kriegsrealität mit dem eigenen inneren
Kampf gegen die nationale militärische Vereinnahmung.
Auch im Fiebertraum sieht er in einer Art visionärem Rausch eine
höhere „Wahrheit“ hinter dem „Trugbild der Welt“.
Vermutlich
gibt es keinen Roman, der nicht mit einem kleinen Wink wenigstens auf die Mutter aller Romane, auf Cervantes Don
Quijote, anspielt. So
bezeichnet sich auch der namenlose Ich-Erzähler bei Koeppen einmal
als „Ritter von der traurigen Gestalt“. Fügt jedoch an: „Das
war lustig.“ Er spielt den Narren bloß. Anders als Don
Quijote lebt er nicht in einer verklärten Phantasiewelt, sondern verlacht im Gegenteil die falschen Illusionen der
Nachkriegsgesellschaft: „Ich fand sie komisch, wie sie die Augen
zusammenkniffen, die Stirn in strenge Falten legten, die eiserne Zeit
des Krieges beschworen und die Toten vergessen hatten.“ Gemeinsam
mit einem Hypnotiseur spielt er auch „Jesus“, doch geht daraus freilich kein Heilsversprechen hervor. Geschildert wird eine ganz und gar heillose Welt und eine von Anbeginn hoffnungslose Existenz: ohne Jugend und ohne Zukunft. Zum Schluss heuert der Erzähler auf einem Schiff an und verschwindet. Was
aus ihm wurde, bleibt ungewiss.