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Mittwoch, 29. März 2017

Wolfgang Koeppen: Jugend (1976)

Wolfgang Koeppen (1906-1996) gilt als wichtiger Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur. Anstatt aber der zeittypischen Kahlschlagästhetik zu folgen, hat er neue sprachliche Ausdrucksformen erprobt. Auch der spätere, nach einer längeren Schreibpause vorgelegte Prosatext Jugend (der Text trägt keine konkrete Gattungszuweisung) folgt einer experimentellen Erzählweise. Sie zeigt sich allein schon in der – im Impressum eigens erwähnten und damit besonders markierten – eigenwilligen Interpunktion, welche die mehrfach gebrochenen Gedankenbilder und Erinnerungsschlieren syntaktisch verfugt. Marcel Reich-Ranicki zieht auf dem Klappentext Vergleiche zu Joyce, Dos Passos und Döblin. Man könnte zudem auch Der Tod des Vergils von Hermann Broch nennen – wie Jugend ebenfalls ein gewaltiger innerer Monolog. Bei Koeppen handelt es sich um eine ältere männliche Erzählstimme im Rückblick auf die während dem Ersten Weltkrieg verlebte Jugendzeit, die keine sein durfte: „Jugend galt nicht“.

Beim Titel Jugend erwartet man entweder ein Coming-of-Age-Geschichte oder ein Erinnerungsbuch. Koeppens Jugend gehört also zur zweiten Kategorie. Erinnert wird wie bei Marcel Proust - der mit seiner mémoire involonaire offensichtlich Pate gestanden hat - eine verlorene Zeit. Bereits die ersten Seiten beschwören den Lauf der „sichtbar verrieselnden Zeit“. Und auch am Ende des Buchs wird die verflossene Zeit erwähnt, die sich aber „in dem Gedächtnis in irgendeiner Zelle“ des Erzählers sedimentiert habe und dort reaktiviert werden kann. Diese Vorstellung einer körperlich inkarnierten Zeit entwickelt auch Proust am Ende der Recherche à la temps perdu. Bei Koeppen handelt es sich jedoch nicht nur um eine verlorene Zeit, sondern auch um ein verlorenes Paradies, wie ebenfalls gleich zu Beginn deutlich gemacht wird: „Meine Mutter fürchtete die Schlangen.“ Mit der Präsenz von Schlangen ist auch die Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr weit.

Tatsächlich weint die genannte Mutter den verflossenen Glanzzeiten ihrer Familie nach. Eine Nostalgie, die ihr Sohn (der Erzähler) nicht teilen kann, und schon damals als Kind nicht teilen wollte. Im Gegenteil: Vielmehr wünschte er der Stadt seiner Herkunft – die unschwer als Rostock identifizierbar ist – die Schlangen nachgerade auf den Hals. Sein Paradies ist denn auch nicht die durch den ersten Weltkrieg zerrüttete Heimat, sondern das Kino, „das Jugendlichen verbotene, schwarzweiße Paradies“. Doch wie schon Adam im biblischen Paradiese, so gehen dem Erzähler im Kino die Augen auf. Es ist ihm als würde er „die Frucht vom Baum der Erkenntnis essen“. Er entdeckt im Lichtspiel den „Schrein der Wahrheit“ und sieht im Dunkeln des Kinosaals „zum erstenmal die Wirklichkeit“. Was da durch die „Sternenstaubbahn“ des Projektors auf die Leinwand flimmert, besitzt einen höheren Wirklichkeitswert als die verlogene Propaganda, welche die Schrecken des Krieges zugunsten der nationalen Glorie konsequent wegzuleugnen sucht.

Als Knabe erlebt der Erzähler die blinde Verehrung, die Bismarck entgegenschlägt, als er die Lange Strasse von Rostock entlang promeniert. Andererseits kennt er auch die ausgeblendete Wirklichkeit: die Niederlage in Verdun, die Kriegskrüppel, die vielen Toten. Ein starkes Fieber rettet den 14jährigen in der Militärschule davor, selber mit an die Front ziehen zu müssen. In einer Art Delirium auf der Krankenstation in der leeren Kaserne vermischt sich die Kriegsrealität mit dem eigenen inneren Kampf gegen die nationale militärische Vereinnahmung. Auch im Fiebertraum sieht er in einer Art visionärem Rausch eine höhere „Wahrheit“ hinter dem „Trugbild der Welt“.

Vermutlich gibt es keinen Roman, der nicht mit einem kleinen Wink wenigstens auf die Mutter aller Romane, auf Cervantes Don Quijote, anspielt. So bezeichnet sich auch der namenlose Ich-Erzähler bei Koeppen einmal als „Ritter von der traurigen Gestalt“. Fügt jedoch an: „Das war lustig.“ Er spielt den Narren bloß. Anders als Don Quijote lebt er nicht in einer verklärten Phantasiewelt, sondern verlacht im Gegenteil die falschen Illusionen der Nachkriegsgesellschaft: „Ich fand sie komisch, wie sie die Augen zusammenkniffen, die Stirn in strenge Falten legten, die eiserne Zeit des Krieges beschworen und die Toten vergessen hatten.“ Gemeinsam mit einem Hypnotiseur spielt er auch „Jesus“, doch geht daraus freilich kein Heilsversprechen hervor. Geschildert wird eine ganz und gar heillose Welt und eine von Anbeginn hoffnungslose Existenz: ohne Jugend und ohne Zukunft. Zum Schluss heuert der Erzähler auf einem Schiff  an und verschwindet. Was aus ihm wurde, bleibt ungewiss.