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Dienstag, 2. Mai 2017

Albert Drach: Unsentimentale Reise (1966)

Eine jüdische Exilgeschichte als Abenteuer- und Schelmenroman: Ist das moralisch vertretbar, selbst wenn sie vom Betroffenen selbst erzählt wird? Aber weshalb soll man sich noch um narrative Angemessenheit und Gattungsgesetze kümmern, wenn die Welt ohnehin aus den Fugen geraten ist? So heißt es auch ziemlich zu Beginn schon: „Was anders ist, das ist, daß ich das Leben nicht mehr so ernst nehme, seit ich weiß, daß ich das die Gesetze aufgehoben sind, die es schützen.“ Zudem handelt es sich um eine unsentimentale Erzählung, die weder auf Mitleid pocht noch solches vom Leser einfordert. Der Titel ist eine Anspielung auf Laurence Sternes Sentimental Journey (1768), die im Deutschland des 18. Jahrhunderts einen veritablen Gefühlskult hervorgerufen und ein ganzes Genre der launigen Erzählweise begründet hat (tatsächlich wurde das engl. sentimental oft mit launig übersetzt). Von diesem heiter-melancholischen Ton distanziert sich Drach jedoch explizit und wählt stattdessen eine „unsentimentale“ Erzählweise, die von einem sarkastischen bis defätistischen Humor getragen ist, der sich mitunter auch gegen das erzählende Ich selbst richtet. Es weiß, dass er sich auf einer unsentimentalen Reise befindet, die falls sie überhaupt jemals endet, nur letal enden kann: „Sofern sie ein Ziel hat, ist es das, wohin ich nicht will, wohin man einen bringt und wo die Reise nicht mehr weitergeht.“

Geschildert wird aus der Ich-Perspektive die prekären Lebenumstände im französischen Exil des österreichischen Juden Peter Kucku (bzw. Pierre Coucou), der ein leicht dechiffrierbares Alter Ego des Autor ist (er gibt sich an einer Stelle sogar als Verfasser von Albert Drachs Großem Protokoll gegen Zwetschkenbaum zu erkennen). Das Buch ist in drei Teile gegliedert, wobei der letzte fast die Hälfte des gesamten Umfangs einnimmt und eine für den episodischen Schelmenromans typische Fülle an Personal und Handlungssequenzen umfasst, weshalb hier der Inhalt nur sehr raffend wiedergegeben werden kann. Der erste Teil dreht sich um die Deportation und die Internierung im Zwischenlager von Rives Altes, aus dem Coucou zusammen mit anderen Inhaftieren durch eine glückliche Fügung wieder entlassen wird. Ohnehin versucht Coucou mit allen Mitteln, den Nazis zu entkommen, auf die er eine ungeheure Wut hat, die sich einmal in einer fulminanten Hasstirade auf Hitler entlädt, dem „'Mann' genannten Hämling, der selbst nicht genau weiß, aus welchem Schleim seine eigene Rasse kommt“. Aus diesem „Zorn“ erwächst ein fast trotziger „Entschluß zu leben“ und den Faschisten zu entkommen. Zu diesem Zweck lässt sich Coucou durch eine Schummelei von der französischen Regierung einen Attest ausstellen, dass er kein Jude sei, indem er das Kürzel I.K.G. (für Israelische Kultusgemeinde) auf seinem Heimatschein durch eine Notlüge zur Formel „Im Katholischen Glauben“ uminterpretiert.

Der zweite Teil spielt mehrheitlich in Nizza, wo sich Coucuo nach seiner Entlassung aus dem Lager eine gesicherte Existenz verschaffen will und dabei mit verschiedenen Leuten in Kontakt tritt, um an Geld, Unterkunft und Essen zu kommen. Er fühlt sich einigermaßen in Sicherheit, da Nizza von den Italiener besetzt ist, doch dauert es nicht lange und die Gestapo reißt die Stadt an sich, weshalb Coucou wieder fliehen muss. Auf Rat einer irren Baronin fährt er mit dem Autobus in das Gebirgsdorf Caminflour La Commune in den Meeralpen, wo ihm die englische Familie Withorse („Witzpferd“) als Kontakt empfohlen wird (ob da eine Anspielung auf das hobby-horse und den sprunghaften Witz bei Sterne vorliegt, geht nicht eindeutig hervor). Der dritte Teil ist dem Aufenthalt in diesem Ort gewidmet, den Coucou mit merkwürdigen Bekanntschaften wie den Withorse oder dem germanophilen Dichter Lebleu verbringt, aber auch in ständiger Angst, entdeckt zu werden, sowie permanenten Geldsorgen. Erst als am Ende die Alliierten nicht zuletzt dank seiner Intervention einfahren, entschärft sich die Lage, wenngleich sie sich auch nicht normalisiert. Die Gefahr durch die Nazis weicht jetzt dem schlechten Gewissen, das den Entkommenen als raunende innere Stimme von Dr. Honigmann begleitet, der mit Coucou deportiert worden ist, im Unterschied zu ihm aber den Tod in der Gaskammer fand.

Doch Fragen der Moral gelten in diesen Zeit nicht, in der Freund und Feind nicht mehr klar zu trennen sind, in der Juden ihre Mitbrüder verraten, um sich selbst das Leben zu retten oder gar wie im Falle des Separatisten Quierke zur Gestapo überlaufen. Letztlich ist niemandem mehr zu trauen und man ist ganz auf sich alleine gestellt. Mit dieser morale provisoire ausgestattet, kämpft Coucou um sein Dasein, ohne falsche Skrupel und Rücksicht auf Verluste. Aus diesem Grund beschleicht den Protagonisten, so sehr ihn auch der Entschluss zu leben motiviert hatte, allmählich das Gefühl, dass er sich von sich selbst entfremdet und längst schon den Toten angehört (am Schluss nimmt die Verszeile „Die Toten reiten schnell“ aus Gottfried August Bürgers berühmter Ballade Lenore dieses Motiv auf). Tatsächlich fristet Coucou weitgehend ein abgestorbenes, moribundes Dasein, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass er trotz starker erotomaner Neigungen gerade zu jungen Mädchen nicht mehr zum Beischlaf fähig ist, obwohl sich mehrfach die Gelegenheit bieten würde. Ein weiteres auffälliges Defizit ist sein schwaches Erinnerungsvermögen, weshalb er ständig Personen begegnet, die ihn sehr gut kennen, er sich auf Anhieb aber kaum an sie erinnern kann, denn: „Man vergißt viel auf einer unsentimentalen Reise.“

Drachs kompromissloser, tiefschwarzer, aber von einer wiederum fast selbstdestruktiven Frivolität geprägter „Bericht“ (so lautet die offizielle Gattungsbezeichnung) ist ein absolute Ausnahmeerscheinung in der Exil- wie in der Romanprosa überhaupt. Vergleichbar ist die ausufernde erzählerische Wucht eigentlich nur mit zwei anderen Romanen, die mit derselben humoristischen Abgeklärtheit gegen die selbsterfahrene Zwangslage im Exil anschreiben: zum einen Ulrich Bechers Murmeljagd (im Schweizerischen Graubünden) und Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts (auf Mallorca). In allen drei Fällen meldet sich ein autofiktionaler Ich-Erzähler zu Wort, keck und tolldreist, der sich trotz widrigster Lebensumständen nicht kleinkriegen lässt, sondern sich im Gegenteil durch Witz, List und einer gehörigen Portion wildentschlossener Frechheit gegen das tumbe Gewaltregime zur Wehr setzt, ohne dabei in eine Heldenpose zu verfallen. Vielmehr handelt es sich auch bei Pierre Coucou um eine ganz und gar unheroische, bisweilen sogar tragische Figur, die allein ein wacher Sinn fürs Absurde vor der restlosen Verzweiflung bewahrt.