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Donnerstag, 16. November 2023

John Berger: G. (1972)

G. - so lautet das Initial des Protagonisten, der - wenn es nach seinem Vater gegangen wäre - Giovanni heissen würde. Den wirklichen Namen erfahren wir nie, dafür wissen wir, dass der Junge in der Schule den Übernamen Garibaldi (nach dem italienischen Freiheitskämpfer) erhielt, weil sein (unehelicher) Vater Italiener war. Im Deutschen besitzt G. - ausgesprochen als 'G-Punkt' - freilich noch eine weitere, sexuelle Bedeutung: Gemeint ist damit landläufig die sogenannte Gräfenberg-Zone, die erogene Zone der weiblichen Vagina. Ob diese Allusion auch im Englischen, der Original-Sprache des Romans, mitschwingt, weiss das Lesefrüchtchen nicht. Ganz unpassend wäre es jedenfalls nicht, zumal dieser G., dieser ungenannte Giovanni, seinem Namen mehr als nur gerecht wird: Handelt es sich doch um "Don Juan" höchstpersönlich.

Wer nun einen erotischen Roman erwartet, liegt falsch, obschon es explizite Szenen gibt, ja sogar pennälerhafte Strichzeichnungen von Geschlechtsteilen, was aber niemals pornographisch wirkt, da die Prosa durchwegs durch- und metareflektiert ist, was den Roman zu einem (frühen) Vertreter der literarischen Postmoderne macht. Wie schon in den klassischen Bearbeitungen des Don Giovanni-Stoffes ist auch hier die Verführer-Geschichte eingebettet in einen zeithistorischen Kontext. Der Roman bietet ein episches Panorama vom Burenkrieg in Südafrika bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im mittleren und zentralen Teil wohnen wir der ersten Überquerung der Alpen in einem Flugzeug bei. Ein historisch verbürgtes Spektakel, das anno 1910 der Luftfahrtpionier Jorge Chavez unternahm, der im Roman unter der Schweizer Variante seines Klarnamens auftaucht: Geo Chavez. Auch er ein G.

Nicht von ungefähr: Das Schicksal dieses Flugpioniers ist in mehrerer Hinsicht mit demjenigen des Protagonisten G. verknüpft. Nicht allein, dass G. beim Start des Flugzeugs in Brig ein Zimmermädchen kurz vor ihrer Heirat vernascht, und nach der Bruchlandung in Domodossola einem wohlsituierten Herrn die Ehefrau ausspannt (der ihn sodann mit der Pistole verfolgt), nein, worin sich Geo und G. vor allem gleichen, ist die Sorglosigkeit ihres Tuns: "Wie der Flieger mochte auch er sorglos gewesen sein." Beide riskieren alles, um auf den G-Punkt zu gelangen - wahlweise die sexuelle Erfüllung oder die maximale Flughöhe - und beide gehen schliesslich an ihrem Wagemut zu Grunde. Geo Chavez erliegt nach dem Absturz im Spital den Verletzungen, G. wird Jahre später in Triest zum Opfer eines Überfalls kurz vor dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, weil er fälschlicherweise als österreichischer Agent und Aufwiegler verdächtig wird.

Wie Zeno Cosini bei Italo Svevo findet sich auch G. ähnlich unbeteiligt von den politischen Geschehnissen bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Triest. So geht er auch seltsam gleichgültig in den Tod: Weder setzt er sich gegen seine Angreifer zur Wehr, noch legt beweist er eine heroische Todesbereitschaft. Er lässt es mit sich geschehen. Entsprechend lapidar wird der Tathergang erzählt. G. spürt noch den "Geschmack der Milch" als "Wolke des Unwissens" in seinem Mund. Dann wird er ins Meer geworfen. In einem filmreifen Schwenk führt der Blick hinaus ins offene Meer, wo sich die untergehende Sonne in den glitzernden Wellen spiegelt. Der letzte Satz lautet: "Der Horizont ist nur wie die gerade Bodenkante eines Vorhanges, der willkürlich plötzlich am Ende einer Vorstellung herabgelassen wird." Aufführung vorbei. Schluss.

Ein rätselhafter Tod, der sich vielleicht narratologisch dadurch erklärt, dass G. als Don Juan längst zur "Legende" geworden ist, was aber sich so anfühlt, wie es gegen Ende des Romans heisst, als sei man "lebendig begraben". G. erkennt intuitiv, dass seine "Zeit" vorbei ist, dass er sein sozialrevolutionäres Potential als ewiger Verführer eingebüsst hat. "Es war nicht mehr die Zeit an sich, die ihn weiterbringen konnte, denn die Zeit war bedeutungslos geworden." Deshalb entscheidet er sich, gleichsam in einem acte gratuit, sein Image abzulegen, indem er die Frau eines österreichischen Bankiers entgegen der ursprünglichen Absicht gerade nicht verführt (wohl auch weil es für ihn uninteressant wurde, da sie sich als Nymphomanin geradezu aufdrängt und ihr Mann, der in Anlehnung an Tolstois Ehebruch-Roman Anna Karenina, kein "Karenin" sein will, es sogar gönnerhaft zulässt). Stattdessen hilft er einer jungen Slowenien - und besiegelt damit sein Schicksal.

Neben seiner thematisch komplexen Verknüpfung von Sexualität, sozialen Fragen und zeitgeschichtlichen Hintergründen besticht der Roman durch seine chronologisch lose Erzählweise, die durch die vielen mit Leerzeilen getrennten Abschnitte auch visuell erkennbar ist. Es sind Bausteine, die eher mosaikartig als kontinuierlich, die Ereignisse umkreisen, mit Wiederholungen, Disruptionen, Pro- oder Metalepsen und ständig durchsetzt mit Reflexionen des Erzählers, der Probleme der Darstellbarkeit diskutiert oder die Geschicke seines Helden kommentiert. Jedoch nicht als souveräne auktoriale Stimme, der über alles beredt Auskunft gibt, sondern quasi aus der Position eines aussenstehenden Beobachters, dem vieles, was sich ereignet, genauso erklärungsbedürftig scheint wie den Lesenden.