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Montag, 16. Oktober 2023

Antonio Tabucchi: Erklärt Pereira (1994)

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen." So lautet eine berühmte Sentenz aus Adornos Minima Moralia, von Robert Gernhardt auch parodiert als: "Es gibt kein richtiges Leben im valschen." Diese Maxime trifft auf den Antihelden aus Tabucchis Roman zu, den portugiesischen Feuilletonredaktor Pereira der neu gegründeten Tageszeitung Lisboa. Er lebt scheinbar unbeteiligt und konform unter der Salazar-Diktatur, doch verspürt er - isoliert in seiner Redaktionskammer - innerlich ein Unbehagen, das immer deutlicher zutage tritt, als er zufällig mit einer Gruppe von Widerstandskämpfern in Kontakt gerät.

Pereira ist Witwer, kinderlos, ernährt sich bevorzugt von Kräuteromeletten und gezuckerter Limonade und ist entsprechend "fett und herzkrank" - letzteres in doppeltem Sinne: Tatsächlich leidet er an Herzproblemen, doch diese sind quasi nur die kardiologische Realmetapher für seine seelischen Nöte, seinen Herzensleiden rein psychologischer Natur. Er lebt nicht das Leben, das er eigentlich möchte. Nicht zufällig wird ihn während eines Kuraufenthalts ein Kardiologe, der gleichzeitig auch als Psychiater ausgebildet ist, auf den leib-seelischen Zusammenhang aufmerksam machen und ihm die Augen öffnen.

Pereiras Problem besteht darin, dass seit dem Tod seiner Frau nurmehr in der Vergangenheit lebt: Die Weltgeschichte zieht unbemerkt an ihm vorbei. Obwohl er seit dreissig Jahren für die Zeitung schreibt, ist er über das Zeitgeschehen gänzlich uniformiert und verlässt sich lediglich darauf, was ihm der Kellner seines Stammlokals berichtet. Das einzige, was ihn beschäftigt ist die Literatur; er flüchtet sich nachgerade aus der Realität in die Welt der französischen Romanciers, bevorzugt Schriftsteller der Renouveau catholique, wie François Mauriac oder Georges Bernanos. Daneben beschäftigt sich Pereira vorwiegend mit dem Tod, so dass er irgendwann selbst auf den "groteske[n] Gedanken" kommt, dass "er vielleicht gar nicht lebte, sondern schon so gut wie tot war."

So treffen wir den Protagonisten zu Beginn des Romans an, wie er über den Tod sinniert, genauer über die Frage der Auferstehung. Pereira glaubt an die Auferstehung der Seele, ist hingegen überzeugt, "das ganze Fleisch, das Fett, das seine Seele umschloss, das würde nicht auferstehen". Pereira hat sich einen Fettmantel, einen Körperpanzer angefressen, hinter dem sein Ich genauso wie sein krankes Herz verborgen liegt. Das Fett umhüllt und schützt ihn vor der Gegenwart, es hindert aber auch sein Herz daran, sich frei zu bekennen. Erst durch eine schicksalshafte Begegnung beginnt sich die unter der Korpulenz erstickte Herzensstimme allmählich wieder zu regen.

In einer katholischen Avantgardezeitschrift wird der Redakteur auf die neue Dissertation eines gewissen Monteiro Rossi aufmerksam, die den Tod behandelt, was natürlich Pereira Interesse weckt, weshalb er umgehend beschliesst, den Verfasser zu kontaktieren. Obwohl dieser umstandslos eingesteht, dass ihn das Leben viel mehr als der Tod interessiere und er bei der Dissertation auch grösstenteils bei anderen Philosophen abgeschrieben habe, will Pereira dem jungen Menschen eine Chance geben und ihn als Praktikant im Feuilleton engagieren. Als promovierter Todesexperte bekommt er die Aufgabe, im Voraus Nachrufe auf berühmte Schriftsteller zu verfassen.

Doch das Resultat fällt zunächst nicht nach Pereiras Vorstellungen aus. Anstelle seiner katholischen Favoriten, wählt Rossi stets dezidiert politisch engagierte Schriftsteller wie García Lorca oder Filippo Marinetti, so dass seine Nekrologe weniger eine Würdigung des Lebenswerks als richtiggehende Pamphlete sind, die - wie sich später herausstellt - auf das Konto von Rossis rothaariger Freundin Marta gehen. Sowohl ihre Haarfarbe wie auch sein Name deuten überdeutlich an, dass es sich um Revolutionäre handelt, die von Portugal aus die Freiheitskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg unterstützen. Entsprechend wird Lorca als "Umstürzler" gelobt, während Marinetti als Gewalttäter Kriegstreiber verurteilt wird.

Pereira versucht Rossi klarzumachen, dass er solche Artikel mit politischer Schlagseite in einer 'unabhängigen' Tageszeitung keinesfalls veröffentlichen könne, macht ihm zugleich aber auch Mut, auf die "Stimme des Herzens" zu hören, obwohl er ihm lieber den gegenteiligen Rat erteilen möchte, da er weiss: wenn man "mit dem Herzen schreiben" will, wird man "grosse Schwierigkeiten" bekommen. Doch Rossi ist ihm sympathisch: In dem jungen Mann erkennt er einen Teil von ihm selbst, sein jüngeres Ich bzw. seinen nie geborenen Sohn, den sich Pereira so sehr gewünscht hatte. Entgegen allen Vernunftgründen unterstützt Pereira daher den jungen Rebellen finanziell, trifft sich mit ihm zu konspirativen Treffen im Café Orquídea und hilft sogar, einen Cousin Rossis heimlich unterzubringen.

Pereira ist eine ambivalente Figur: Zunächst scheint sie vollkommen naiv und weltfremd, doch unterschwellig entfaltet sie ein subversives Potential, indem Pereira etwa seine Übersetzungen fürs Feuilleton so wählt, dass sie für den aufmerksamen Leser eine "Flaschenpost", also eine versteckte Botschaft, enthalten. So endet eine Erzählung La dernière classe von Alphonse Daudet mit dem freiheitlichen Ausruf: "Vive la France!" Eine Provokation im diktatorischen Portugal. Balzacs Erzählung Honorine wiederum wählt Pereira, weil er sie als Bedürfnis zu Reue versteht, die er auch selber verspürt: "ich sehne mich nach Reue", sagt der zum Kardiologen. Es sei "eine merkwürdige Empfindung, die sich am Rande meiner Persönlichkeit befindet".

Diese Denkfigur einer "Reue auf 'periphere' Art" gibt Situation eines verdrängten (wahren) Lebens im falschen sinnfällig wieder. Für Pereira gilt sie in doppelter Hinsicht: Zum einen biographisch, weil er sein Leben verpasste und sich nicht nach seinem Wunsch selbst verwirklichen konnte, zum anderen politisch, weil er in einem Land lebt, das die freie Meinungsäusserung systematisch unterdrückt. Pereira gehen in dem Moment die Augen auf, als er erfährt, dass sich seine Lieblingsschriftsteller Bernanos und Mauriac sich beide politisch äusserten und gegen den Faschismus protestierten. Eine Schlüsselstelle diesbezüglich bildet der Besuch bei Pater António, Pereiras Vertrauensmann und Beichtvater, der ihn unverblümt mit der Wahrheit konfrontiert.

Pater António nimmt kein Blatt vor den Mund. Über Paul Claudel, der sich auf die Seiten des Faschismus schlug und eine hetzerische Propagandaschrift verfasste, sagt er: "dieser Claudel ist ein Hurensohn, genau das ist er, und es tut mir leid, dass ich diese Worte an einem heiligen Ort aussprechen muss, denn ich würde sie dir gern in aller Öffentlichkeit sagen". Doch das geht eben nicht, weil der öffentliche Diskurs kontrolliert und zensiert wird, was Pereira bald selbst erfahren muss, als ihm der Herausgeber der Zeitung künftig untersagt französische Schriftsteller zu bringen und ihm stattdessen traditionelle portugiesische Dichter aufdrängt. Der Raum, dessen was man sagen darf, wird immer enger, und die Situation spitzt sich dramatisch zu.

Eines Abends als Pereira für Rossi zum Abschied Spaghetti kochen will, wird seine Wohnung von Schergen der Geheimpolizei gestürmt. Im Dialog mit dem Rädelsführer entpuppt sich die ganze Perfidie und Niedertracht der Diktatur. Nach dem Wortduell mit Pereira wird die Truppe handgreiflich. Zwei Schläger verpassen Rossi, der die Drangsalierung tapfer erduldet, einen dermassen brutalen 'Denkzettel', dass er auf der Stelle stirbt. Pereira, entsetzt über das wahre Gesicht der portugiesischen Regierung, beschliesst am nächsten Tag einen Artikel in die Zeitung zu schmuggeln mit dem Titel "Journalist ermordet". Darin beschreibt er nicht nur den Tathergang, sondern klagt auch die Täter an.

Am Ende setzt sich Pereira mit einem gefälschten Pass nach Frankreich ab. Dass ihm die Flucht glückt, lässt der Untertitel des Romans vermuten, der da lautet: "Eine Zeugenaussage". Kein Verhör, wie wenn er geschnappt und wieder dem Regime in die Hände gefallen wäre, sondern die Aussage eines Augenzeugen, der aus der Diktatur entkommen ist und nun Zeugnis ablegt. "Pereira erklärt" fungiert deshalb als Inquit-Formel, welche den Text nicht nur eröffnet, sondern ihn insgesamt rhythmisiert. Es handelt sich demnach nicht um einen Bericht aus erster Hand, der in Ich-Form gehalten wäre, sondern um eine Art protokollarische Mitschrift, die festhält, wie Pereira den Hergang der Ereignisse schildert und sie (nicht nur sich) zu erklären versucht.

Ein sehr fein gearbeiteter Roman, bei dem jeder Dialog, jede intertextuelle Anspielung genau gesetzt ist. Der Text liest sich leicht, ist zuweilen fast humoristisch erzählt, und neigt vielleicht hie und da ein wenig zum Kitsch, weil an der Oberfläche doch allzu viel geglättet wird.