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Montag, 2. September 2024

Andy Warhol: Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück (1975)

Der Titel ist natürlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Eine Philosophie im eigentlichen Sinn ist bei der Popart-Ikone nicht zu erwarten. Vielmehr versammelt das auf dem Höhepunkt seiner Karriere entstandene Buch - 1962 gründete Warhol seine Factory und er kreierte seine berühmte Siebdruck-Serie der Campell's Soup Cans - eine Fülle von Ansichten und Lebensweisheiten aus der New Yorker Party- und Glamour-Szene über Schönheit, Sex, Geld, Kleider, Kunst, Ruhm, Erfolg und was die High Society sonst noch so beschäftigt. Wie auch in seinen Kunstwerken so orientiert sich Warhol auch in seinen Maximen und Reflexionen an den gesellschaftlichen Oberflächenphänomenen, um sie subtil zu subvertieren. Dabei sind seine Ansichten zuweilen erhellend, zuweilen belanglos, immer aber unkonventionell, mitunter provokant.

Ein paar willkürlich ausgewählte Kostproben: "Der höchste Preis, den du für die Liebe zahlen musst, ist, dass du jemanden um dich hast und nicht für dich allein sein kannst, was selbstverständlich besser ist." "Ein biederes Erscheinungsbild finde ich am besten. Wenn ich nicht so 'schlecht' aussehen wollte, dann würde ich 'bieder' aussehen wollen. Das fände ich auch gut." "Bei mir geht's ran, wenn's abgeht, ab ins Bett und Schluss. Das ist der grosse Moment, auf den ich immer warte." "Ich mag Geld an der Wand. Nehmen wir an, du wolltest ein Bild für 200 000 Dollar kaufen. Ich meine, dass du das Geld an eine Schnur binden und an die Wand hängen solltest." "Ein Künstler ist jemand, der Sachen produziert, die keiner haben muss." "In deinem Schrank sollte alles mit einem Verfallsdatum versehen sein, so wie bei Milch und Butter und Illustrierten und Zeitungen, und wenn das Verfallsdatum überschritten ist, sollte man das Ding wegwerfen."

Die im Titel erwähnten Buchstaben A und B suggerieren keine enzyklopädische Ordnung, vielmehr stehen sie für die beiden Gesprächspartner A und B, wobei letzterer eine Art sokratische Hebammenfigur darstellt, die A (i.e. Andy) seine Alltagsphilosopheme entlockt. Es handelt sich also um eine platonischer Dialog im Popart-Gewand, der zuweilen Nonsens-Dialoge vorwegnimmt, wie man sie später aus Tarantino-Filmen kennt, wenn sich zwei Figuren in Nebensächlichkeiten verbeissen, wie hier etwa anhand der Frage nach der Körpergrösse von Ursula Andress: Wo A behauptet sie sei ein Zwerg, bestreitet das B vehement, wobei diverse spitzfindige Argumente aus dem Köcher gezogen werden (z.B. die mutmassliche Höhe der Absätze unter den Schlaghosen), die jedem antiken Sophisten Freude gemacht hätten.

Höhepunkt des 'philosophischen' Rundumschlags sind zweifellos die Beschreibung von Warhols Manie, alles Erdenkliche die Toilette hinunterzuspülen bei gleichzeitiger Angstlust, dass es die Toilette verstopfen und wieder zum Vorschein kommen könne, sowie das Bekenntnis seines Unterhosen-Fetisch. Der Unterhosenkauf besitzt für Warhol eine nachgerade existenzielle Komponente: "Ich meine, ich würde lieber zusehen, wie einer seine Unterhosen kauft, als dass ich ein Buch lesen wollte, das er geschrieben hat." Seine Menschenkenntnis leitet Warhol auch hier vom Konsumgut ab, wobei es sich bei der Unterhose paradoxerweise um Intimwäsche und Warenartikel zugleich handelt, das Innere und Äussere also quasi dialektisch vermittelt.

Als wahrhaft philosophisch erweisen sich Warhols Reflexionen schliesslich dort, wo er ein Alltags-Mysterium thematisiert, das bis heute wohl alle auch regelmässig beschäftigt, auf das er aber ebenso wenig eine befriedigende Antwort finden: Weshalb verschwinden beim Waschen ständig Socken in der Maschine? Und wohin verschwinden sie? "Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich an die abnehmende Zahl glauben. Das ist einfach nicht zu glauben!" Theoretisch zu ergründen offenbar auch nicht. Es bleibt ein Stück unbewältigte Metaphysik.

Samstag, 4. März 2017

Walter Serner: Die Tigerin (1925)

Die Tigerin – so lautet der Übername von Bichette, einer Halbweltdame, die berüchtigt dafür ist, dass sie von keinem Mann gezähmt werden kann. Sie gilt als Raubtier und Man-Eater. Umso verblüffender ist es deshalb, als es dem Hochstapler Henri Rilcer alias Fec scheinbar gelingt, sie an seine Seite zu binden, erst recht, weil ihn viele „schlankweg für einen Trottel“ halten. Das ändert sich auch am Schluss der Geschichte nicht wirklich, als er längst unter der Erde liegt. Auch da herrscht nach wie vor „Einmütigkeit“ darin, dass „Fec eben doch ein Trottel gewesen wäre“.

Der kurze Roman besticht an vielen Stellen durch derbe Lakonie dieser Art. Erzählt wird die - wie es im Untertitel heißt - absonderliche Liebesgeschichte von Fec und Bichette, die beide eine „Abmachung“ treffen, nämlich sich zu „machen“, damit sie aus Überdruss und Ennui nicht „leer laufen“. So schwören sie sich gegenseitige Liebe und starten eine Karriere als Bonnie-und-Clyde-Pärchen. Der Plan scheitert schließlich jedoch daran, dass sie nicht allein Liebe „machen“, sondern sich dabei ständig auch etwas „vormachen“. Jedenfalls wächst das Misstrauen, bis sich ihr Verhältnis gänzlich verwirrt.

Der Roman gipfelt in einer konfusen Aussprache des schrägen Gangsterpärchens. Man kennt die Situation aus jeder Beziehung, wenn beide Partner sich in Vorwürfen hochschaukeln und sich dabei immer stärker in Konditionalsätze und rückwirkende Erklärungsversuche verstricken. Fec nennt es „Hinterher-Motivationen“, als er mit Bichette zu klären versucht, wer aus welchem Grund was „gemacht“ habe, bis er selber mit der Erkenntnis aufgeben muss: „dies ist jetzt alles so ausgezeichnet verwirrt, daß es ganz unmöglich wäre, es jemals mit Erfolg zu entwirren“. - Und so schwirrt am Ende auch des Lesers Kopfs ab so viel kruder Liebes-Syllogistik.

Definitiv ein Kultbuch. Vielleicht weniger wegen der – heute ohnehin komplett harmlosen – Darstellung von Sex, Crime & Violence, mit der Serner damals aber haarscharf an der Zensur vorbeischrammte. Das Buch besticht vor allem durch die mit Versatzstücken aus dem Gaunerwelsch gespickten Irrsinns-Dialoge zwischen dem Schwadronör Fec und der kaltschnäuzigen Bichette. Darin ist es mit Quentin Tarantinos Kulterfolgsfilm Pulp Fiction vergleichbar.

Walter Serner machte sich, bevor er sich als Kriminalschriftsteller versuchte, in Zürich 1916/17 anfänglich auch einen Namen als Dadaist. Ist es Zufall, ironisches Zitat oder schlichte Überbietung des Dadaismus, wenn es an einer Stelle im Roman heißt: „Da, da, da, da...“?