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Mittwoch, 1. November 2023

Blaise Cendrars: L'Eubage. Aux Antipodes de l'Unité (1917)

Nachdem das Lesefrüchtchen mit Terra! kürzlich eine Space Opera par excellence gelesen hat, folgt hier erneut ein Weltraum-Abenteuer, das jenes um einiges überbietet, obschon es wesentlich kürzer ist. L'Eubage (auf deutsch: Im Hinterland des Himmels, 1987) ist ein ultraknappes Buch, manche Kapitel sind lediglich eine Seite lang, man hat es in Windeseile gelesen, ja man muss es fast in einem Zug lesen, weil es einen solchen Sog erzeugt. Denn trotz des geringen Umfanges ist es unendlich reich, lebt von seiner urwüchsigen, visionären Kraft und seiner zugleich präzisen wie pulsierenden Beschreibungskunst.

Man begleitet den "Wissenschaftler" (oder etwa "Hochstapler?") Eubage - so nannten die Gallier früher ihre Astronomen - auf seiner rasanten Reise ins All. In Sekundenschnelle wird man in kosmische Sphären katapultiert, durchläuft Äonen und Lichtjahre, taucht in die unbekannten Tiefen des Alls ein mit seinen Planeten, Gestirnen und gigantischen Urwesen, bis die fulminante Fahrt jäh endet und - ehe man es sich's versieht - zu reinster Sonnenmaterie zerstäubt sich mit dem Elementaren verbindet. Der letzte Satz, bevor das Raumschiff wieder in die Atmosphäre eindringt, ist so atemlos und orgiastisch wie der gesamte Text: "Fragezeichen? Zickzacklinie! Explosion."

Ein Buch wie ein Urknall: äusserst verdichtet, doch breitet sich darin ein ganzer Kosmos aus. Tatsächlich wohnen wir in den beiden längsten und wohl auch zentralsten Kapiteln der Geburt der Sternzeichen und der Sterne (in Form von Getreidenamen!) bei. Die faktische Reise dauert zwar nur ein Jahr - die einzelnen Kapitel sind eingeteilt von März bis Februar -, durchmessen wird dabei ein ganzes Weltalter. Der Ich-Erzähler, der den Tractatus Secundus von Robert Fludd stets mit sich führt, ist dabei eine Mischung zwischen Genie und Hasardeur. Mitunter kann er das Gelingen seines tollkühnen Unternehmens selbst nicht richtig fassen, dann wiederum stürzt er sich mit Wonne ins All.

Die interstellare Reise ist (wie in Terra! und so vielen anderen SF-Geschichten) auch hier eine Reise in die Vergangenheit: "Die Uhr - die Uhr läuft unerbittlich rückwärts. 1000 Jahre, 10'000 Jahre, 100'00 Jahre." Mehr noch ist es eine Reise ins Innere der Hirnrinde. An einer Stelle sagt der Ich-Erzähler: "Ich bin nur noch Geistesschärfe!" Insofern gibt sich die Erzählung auch unumwunden als reine Phantasmagorie zu erkennen - als eine Art eine Schöpfungsgeschichte, die sich quasi selbst hervorbringt. Oder wie es der Autor in einem Brief an seinen Förderer, den Modeschöpfer Jacques Doucet, erwähnt: "das Hinterland des Himmels sozusagen, wo die Gewalten und Formen entspringen, was man Geist und Leben nennt".

Blaise Cendrars schrieb diese Weltraum-Rhapsodie, die er selber ein "kleines Büchlein über gar nichts" nannte, 1917 in einer Scheune ausserhalb von Paris, als er als Kriegsfreiwilliger von der französischen Front heimkehrte - auf dem Feld hatte er seinen rechten Arm verloren. Es handelt sich um seinen ersten Prosatext, der bereits die ersten Akzente für seine späteren Romane setzt: die Durchdringung des Textes mit purer Lebenskraft, die Sprachgewalt und die schier enzyklopädische Fülle. Die deutsche Ausgabe enthält im Anhang eigens ein Glossar zur Erklärung der biologischen und astronomischen Fachbegriffe. Reinste "Hirnsaat".




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