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Dienstag, 14. Oktober 2025

Joseph Delteil: An den Ufern des Amur (1922)

Joseph Delteil schrieb mit diesem kurzen, bizarren Juwel einen surrealistischen Paraderoman, obschon der Autor selbst, von den Surrealisten zwar anfänglich frenetisch gefeiert, ja in noch jungen Jahren geradezu eine "Deltheillerie" in Paris auslöste, keineswegs dieser Bewegung angehörte. Aber literarisch nahm er bereits vorweg, was danach als Surrealismus Schule machen sollte. Sein Roman erschien vier Jahre vor Louis Aragons Paysan de Paris (1926) und sechs Jahre vor Bretons Nadja (1928), ein Prosawerk, das fast ein Jahrzehnt später seine Fortsetzung mit Amour fou (1937) finden sollte. Um eine solche Amour fou geht auch in Delteils Roman, darüber lässt der Titel des französischen Originals keine Zweifel, wo der Name des sibirischen Flusses Amur sich wie die Liebe schreibt: Sur le fleuve Amour.

Anstoss der Amour fou, der das Brüderpaar Boris und Nicolas in Delteils Roman verfallen, ist die atemberaubend schöne Ludmilla Androff, Anführerin des ostjakischen Frauenregiments. Die beiden Brüder erblicken sie durch Operngläser, als ihr Heer am Hafen von Nikolajewsk von den Bolschewiken in die Enge getrieben wird und auf dem Dampfer Arthur VI. flüchten muss. Das Pikante daran: Boris und Nicolas sind ebenfalls Bolschewiken und kämpften auf der Seite der gegnerischen Roten Armee. Doch als sie das Bild der "lieblichen Feindin" (30), wie sie "am Heck der Arthur VI. in weisser Uniform" (31) steht, nicht aus dem Kopf schlagen können, desertieren sie und folgen ihr auf den Weg nach Shanghai, wohin sich Ludmilla abgesetzt hatte, um sie dort gemeinsam zu erobern. Denn seit der Pubertät verknüpfen sie "ihre Schicksale durch ein unsterbliches Zeichen", indem sie alle Mätressen teilen (32).

Nachdem die beiden Brüder mit William Simpson einen Konkurrenten ausschalteten, buhlen sie beide um die Gunst Ludmillas, die Nicolas, den sie als "Schöner Mörder!" (51) apostrophiert, vorzuziehen scheint, was die Eifersucht in Boris erweckt: "Früher haben wir sie gemeinsam begehrt, warum ist sie dann nicht unsere gemeinsame Geliebte? Nur Du hast Dich an ihr gütlich getan" (90), wirft er Nicolas vor. Während Ludmillas Sehnsucht nach dem Amur alle zur Rückreise drängt, versucht sich Boris weiterhin in vergeblichen Avancen. Nicht nur der blaue Telegrammbote, der früher Ludmillas Liebhaber war, muss daran glauben, letztlich unterliegt im Zweikampf auch Nicolas seinem Bruder, der ihn blossen Händen erwürgt. Als seine Leiche unverhofft im Strom des Amur auftaucht, greift sie nach ihn, so dass schliesslich beide "Seite an Seite und brüderlich vereint mit dem Strom" (96) forttreiben. Am Ende stürzt sich auch Ludmilla in den "Fluss ihrer Kindheit, der Fluss ihres Herzens" (97). Auf ewig im Amur bzw. in Liebe (Amour) vereint ...

Was in dieser kurzen Nacherzählung reichlich trivial klingt, wird durch die rasante Erzählweise und eine stilistische Extravaganz aufgewogen. In erster Linie ist Delteils Roman, neben vielerlei bizarren Binnenepisoden, ein Sprachereignis, das durch narrative Unebenheiten und gezielte Regelverletzungen, durch Detailversessenheit und Beschreibungsüberschuss (die verschwenderische Vergabe von Adjektiven!), zu einer deliranten Prosa führt, wie sie die Surrealisten auf experimentelle Weise (bspw. durch die écriture automatique oder den cadavre exquis) zu erreichen suchten.* Allein die Ouvertüre quillt über von verschachtelten Informationen, die keinerlei erzählökonomische Notwendigkeit besitzen, sondern allein der sprachlichen Evokation des Exotischen dienen. Denn als realistisch kann der asiatische Schauplatz schon deshalb nicht gelten, weil der Autor diese Gegend niemals bereiste, sondern sie lediglich als dankbare Kulisse wählte, um seinem Roman erst recht ein - für europäische Verhältnisse - surreales Flair zu verleihen.

Zu den vielen Merkwürdigkeiten des Romans gehört auch das achte Kapitel, das den Titel "Maurice Barrès" trägt, obschon der reaktionäre Schriftsteller in keinster Weise darin vorkommt. Stattdessen wird die Exekution von William Simpson, des Liebesrivalen der beiden Brüder, geschildert. Ein Jahr vor Erscheinen des Romans fand in Paris jedoch der von André Breton angestrebte Schauprozess gegen Barrès statt: Die Surrealisten traten als Ankläger, Anwälte und Richter auf, während eine Schaufensterpuppe den Anklagten vertrat, der sich - allerdings vergeblich - für seine nationalistische und antisemitische Haltung zur Verantwortung ziehen musste. Delteils Kapiteltitel kann nicht anders als Echo auf dieses Ereignis verstanden werden und die darin geschilderte Exekution zugleich als stellvertretende Urteilvollstreckung in effigie. Dass der falsche Barrès Opfer von Bolschewiken wurde, kann dabei nur als weitere Pointe gelten. 

Joseph Delteil: An den Ufern des Amur. Aus dem Französischen übertragen von Jürgen Ritte. Stuttgart: Klett-Cotta 1988.

*Das beginnt mit absurd einfachen Sätzen wie: "Käsig nahte langsam der Tag." (36) und führt bis hin zu veritablen Verbalorgien wie: "Das ganze chinesische Schanghai reifte in der sumpfigen Ebene wie eine mit Gewürznelken gespickte und von den kranken Zähnen einer Kurtisane im Augenblick der Lust angebissene Blutorange." (44 f.)