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Montag, 19. Mai 2025

Duca di Centigloria: Ich frass die weisse Chinesin (1967)

Was für ein Titel: "Ich frass die weisse Chinesin". Damit ist eigentlich schon alles gesagt und jeder Spoileralarm kommt zu spät. Auch jede Triggerwarnung. Die Pointe dieses "Menschenfresser-Romans" liegt also nicht auf dem vorweggenommenen Ende, sondern in der Frage, wie und aus welchen Beweggründen die weisse Chinesin verspeist wurde. Aber nicht einmal das steht wirklich im Vordergrund des an sich handlungsarmen Romans, der vielmehr eine enzyklopädische Kulturgeschichte der Anthropophagie in unzähligen Anekdoten und Beispielen auswalzt. Das klingt nach schwerer Kost, was es inhaltlich für zartbesaitete Gemüter sicherlich sein mag. Die kannibalistischen Kenntnisse werden jedoch so wohlunterrichtet und in einem leichtfüssigen Parlando vorgetragen, dass der ganze Wissenswust nicht lähmend wirkt. Im Gegenteil selten lesen sich Sachinformationen unterhaltsamer, was in diesem Falls sicher mit der pikanten Thematik zusammenhängt und der Erzählsituation.

Der "Roman" präsentiert sich nämlich gar nicht als Niederschrift, sondern als langer Monolog, den ein namenloses Ich - manche identifizierten es direkt mit dem pseudonymen Verfasser Duca di Centigloria - an Sir George richtet, um ihm zu erklären, weshalb er seine Frau verspeist hat; die in Peking geborene und aufgewachsene schwedische Diplomatentochter Ysabel, die aufgrund ihrer hellen Hautfarbe nur die "weisse Chinesin" genannt wurde. Der Bericht soll aber ausdrücklich nicht als "Geständnis" missverstanden werden, denn der Erzähler kennt keine Reue, vielmehr liefert er mit seiner Rede eine kulturhistorisch breit abtgestützte Legitimierung seiner Tat. Die Argumentation gipfelt darin, die Menschenfresserei zu einem rituellen, ja heiligen Akt und den Lustmord gleichsam zum absoluten Höhepunkt zu (v)erklären. Alles, was sich Sir George über die Bräuche und die Riten von Kannibalen anhören muss, schilderte der Erzähler zuvor dessen Frau, die - aufgrund einer suizidalen Veranlagung und einer Vorliebe für chinesische Mystik - immer stärker davon fasziniert ist, dass sie sich schliesslich bereitwillig zum Opfer darbietet.

Sie kann sich kein grösseres Glück vorstellen, als im Magen ihres Liebhabers zu enden, dem sie einst das Leben verdankte, als er bei einer Bluttransfusion als Spender für sie eintrat. Seither trägt sie sein Blut in sich und möchte sich für diese Gunst angemessen revanchieren. So nimmt sie dem Erzähler das Versprechen ab, dass er postum ihr Herz, ihre Leber und ihr Hirn verspeisen werde. Durch einen Trick arrangiert sie sogar, dass ihr Liebhaber zu ihrem Mörder wird, verschafft ihm also den Genuss des Lustmordes. Noch unter ihren letzten Zuckungen auf dem Totenbett liebt er sie ein letztes Mal, bevor er ihre Leiche auftrennt, die Organe entnimmt, und als besondere Leckerbissen mit einem Teelöffel zudem ihre Augen ausschält. Nach all den Ungeheuerlichkeiten, die zuvor mit sichtlichem Ergötzen lang und breit erörtert wurden, nimmt sich das finale Mal, am Tisch feierlich zubereitet, gleichsam gesittet aus und steht somit im latenten Widerspruch zu den archaischen Gewalttaten aus "weniger gefühlsduseligen Zeiten" - wie es einmal lakonisch heisst, um das Unverständnis oder gar die Abscheu gegenüber dem Kannibalismus einem unverständigen Zeitgeist in die Schuhe zu schieben.

Tatsächlich stellt sich der Erzähler letztlich auf den Standpunkt, dass die Anthropophagen "die besseren Menschen" seien, näher am Göttlichen, weil sie sich nicht durch niedere Tiere ernähren, sondern sich durch das Verzehren von Menschenfleisch sozusagen selbst optimieren. Hannibal Lector lässt grüssen, der popkulturelle Prototyp des soignierten Kannibalen. So richtig geht die gesamte Argumentation freilich nicht auf: Denn zwischen dem Verspeisen von Feinden aus Rache und der liebevollen Einverleibung von Familienmitgliedern wird genauso wenig unterschieden wie nicht in Rechnung gestellt wird, dass das vorgängige Quälen und Foltern der Opfer dem supponierten humanistischen Anspruch weit entgegen steht. Aber das rhetorische Prinzip dieser kannibalistischen Suada besteht auch weniger in der Persuasion als vielmehr im Schockmoment, im Einflössen einer grausligen Wollust. Denn in einem Punkt ist dem Erzähler gewiss zuzustimmen, dass selbst (oder gerade) die grausamsten Verbrechen seit jeher eine grosse Faszinationskraft ausübten: "noch in unseren Zeiten - die Zeitungen bezeugen es - umgibt den Mann oder die Frau, die getötet haben, eine Aura von Ächtung und Achtung; die grossen Mörder der Geschichte sind die Unsterblichen, ihre Opfer dagegen die Namenlosen". So die zynische Bilanz.

Als der skandalträchtige Roman 1967 erschien, rätselten alle über die Autorschaft. Heute weiss man, auch dank einem ausführlichen Wikipedia-Artikel, dass der damals bereits seit zwei Jahren verstorbene Johann Graf Coudenhove-Kalergi hinter dem Pseudonym steckte. In Ulrich Holbeins Narratorium (2008) kommt der exzentrische Graf nicht vor, obschon er darin einen Ehrenplatz verdient hätte. Der 1893 in Tokio als Sohn eines Diplomaten geborene Adelssprössling aus böhmischen Geschlecht entwickelte sich zu einem Bohème und Freigeist mit besonderem Hang für die makaberen Seiten der Kultur und den schwarzen Humor der Surrealisten (der sich etwa, dies nur nebenbei bemerkt, in der Verehrung des 'göttlichen Marquis' (de Sade) zeigt, in dessen Werk neben allerlei sexuellen Perversionen in der Gestalt des Riesen Minski tatsächlich auch ein Menschenfresser figuriert). So soll der Graf auf Reisen stets die ägyptische Mumie einer Prinzessin mit sich geführt und auch in sein Hotelzimmer mitgenommen haben. Der selbstentworfene Stammbaum seines Alter Ego Duca die Centigloria reichte, wie seine Nichte, die österreichische Journalistin Barbara Coudenhove-Kalegri, in ihrem Memoiren berichtet, über alle "Schurken der Weltgeschichte" bis auf die Schlange im Paradies zurück. Nicht von ungefähr kommt der Symbolik der Schlange auch im Roman ein besonderer Stellenwert bei der Schilderung von Voodoo-Ritualen zu.

Samstag, 3. August 2024

Bret Easton Ellis: American Psycho (1991)

Und nun nach all den leichtfüssigen, um nicht zu sagen schwachbrüstigen, Ferienlektüren zum mit Abstand besten Buch, das sich das Lesefrüchtchen in dieser Zeit vorgeknöpft hat, weil das Buch viel riskiert und nur gewinnt: American Psycho von Bret Easton Ellis, mittlerweile natürlich fast schon ein zeitgenössischer Klassiker. Das Lesefrüchtchen hat bislang aber weder das Buch gelesen noch die Verfilmung gesehen. In zweierlei Hinsicht ist der Roman total radikal: Einerseits im Warenfetischismus, der pausenlos betrieben wird, andererseits in den explizit geschilderten Gewaltausbrüchen.

Etwa die Hälfte des Buches besteht ausschliesslich in der abundanten Aufzählung von Kleider- und Markennamen. Jede auftretende Figur wird detailliert mit ihren Kleidungsstil mit allen Labels, Stoffen und Accessoires beschrieben - und das wird auch bis zum Ende des Romans knallhart ad nauseam durchgezogen. Und geschätzt auf jeder zweiten Seite taucht wieder eine Hardbody-Kellnerin auf. Darin zeigt sich die Oberflächlichkeit der mondänen Scheinwelt, in der sich die Yuppies bewegen, die lediglich aus Status, Geld, teuren Klamotten und einem durchtrainierten Körper besteht, hinter der sich dann aber die wahren Abgründe auftun. Diese Beschreibungswut erinnert in ihrer Exzessivität an die enzyklopädischen Aufzählungen von Parfüms und Düften, Stoffen und Farben in Huysmans Décadence-Roman A rebours. Stand dort mit Des Esseintes ein überreizter, gefühlskalter Dandy im Zentrum, haben wir es hier mit einem hochnarzisstischen Snob zu tun.

Patrick 'Pat' Bateman, ein Wall Street Banker, aus dessen Perspektive simultan alles geschildert wird, fokussiert sich manisch auf alle äusserlichen Etiketten und versucht sich in seiner Peergroup zu behaupten. Er will, wie er freimütig bekennt, einfach auch dazugehören. Nicht immer erfolgreich, wie einige satirische Episoden demonstrieren: etwa beim Visitenkarten-Vergleich oder beim vergeblichen Versuch um angesagten Szenerestaurant Dorsia einen Tisch zu reservieren. Die Schmach, vom Dorsia abgelehnt zu werden, während andere, wie sein Bruder dort fast Hausrecht geniessen, zieht sich als running gag durch den gesamten Roman. Besonders amüsant dort, wo Bateman seine Sekretärin pseudogenerös zum Essen auffordert und ihr die Wahl des Lokals überlässt. Natürlich nennt sie just das Dorsia und Bateman versucht dann verzweifelt, doch vergeblich einen Tisch zu ergattern, nachdem er sich unter falschem Namen einschmuggeln wollte. Vielleicht ist es diese subtile gesellschaftliche Zurückweisung oder bloss der Ennui einer sinnleeren Designexistenz, die Bateman dazu bringt, grausame Morde in Serie zu verüben. Bettler, denen ohnehin seine Verachtung gibt, schlachtet er ebenso ab, wie ihm verhasste Schwuchteln, bevorzugt aber hübsche junge Frauen und Prostituierte, an denen er vorher noch seine sexuellen Perversionen auslebt.

Hier zeigt sich die andere Radikalität des Romans: Was hier an gewaltpornographischen Phantasien ausgebreitet wird, übersteigt sogar das kranke Gehirn eines Marquis de Sade. Kulminationspunkt ist sicher der Fellatio mit einem abgetrennten Kopf, den Bateman an seinem erigierten Penis durch den Raum trägt. Das sind Bilder, die nicht mehr aus dem Kopf gehen, so gerne man sie auch verbannen würde. Sie setzen aber den notwendigen Kontrapunkt zu den Perversionen und den nicht minder kranken Exzessen der Yuppie-Gesellschaft. In einem Moment der Selbsterkenntnis fasst es Bateman so zusammen: Alles, was er gelernt habe, alle Prinzipien, alle Moral, Bildung etc. habe sich als falsch erwiesen. Worauf alles hinausläuft sei lediglich: friss oder stirbt. Und Bateman nimmt diese Redewendung wortwörtlich, wenn er beginnt, seine Opfer nicht nur zu malträtieren, sondern auch zu verspeisen. Bateman erkennt auch unumwunden seine "Entmenschlichung" an, er versucht sich weder zu rechtfertigen noch empfindet er Reue. Vielmehr ist er der Überzeugung, dass er der Wirklichkeit nur den Spiegel vorhalte: auf übertriebene Weise das Friss und Stirb des Alltags lediglich imitiere. In einer grandiosen Szene wird diese Erkenntnis ad absurdum getrieben. Bateman, der Live-Konzerte verabscheut, wird an ein Konzert der irischen Band U2 geschleppt, wo er eine Art Epiphanie erlebt. Plötzlich schwinden alle Umweltsinne und Bateman sieht Bono von der Bühne auf ihn zukommen und ihm zuflüstern: Ich bin wie du, auch ich bin der Teufel ... Ausgerechnet der selbsternannte Gutmensch Bono verbrüdert sich mit dem Serienkiller. Was für eine brillante, ja maliziöse Pointe! Eine weitere, aus heutiger Sicht nachgerade beängstigende Pointe besteht darin, dass Bateman ein grosser Fan von Donald Trump ist.

Der Roman lässt offen, ob Bateman alle Greueltaten tatsächlich begeht oder ob sich alles nur in seiner Phantasie abspielt, ob es sich um Rachephantasien an einer Gesellschaft handelt, der er zwar gerne angehören möchte, die ihn zugleich aber auch abstösst. In einer signifikanten Stelle des Romans stellt sich Bateman vor, wie er durch den Riss in der Wand einer Toilette verschwinden würde und niemand würde davon Kenntnis nehmen. Der Protagonist leidet unter mangelnder Aufmerksamkeit, die er sich auch durch seine Morde, ob nur behauptet oder tatsächlich verübt, nicht erringen kann. Mehrfach betont er in Gesprächen mit seiner Freundin und seinen Kollegen die Gewalttaten gibt sich sogar als Mörder zu erkennen, doch niemand nimmt ihn ernst. Die Meisten hören gar nicht zu, sondern ignorieren ihn einfach und sprechen über ihre Heirats- oder Ferienpläne. So liest sich der Roman, der in Echtzeit aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, was diegetisch eine Unmöglichkeit darstellt, technisch aber überzeugend gut funktioniert, wie ein ausgedehnten Geständnis oder wie eine ungeheure Provokation, um wenigsten von der Leserschaft die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihm im gesellschaftlich verwehrt wird.

In den Roman eingestreut sind auch drei scheinbar unmotivierte Kapitel mit Plattenbesprechungen von Genesis, Withney Houston und noch eine Gruppe, die ich jetzt vergessen habe. Bateman, der eine grosse CD-Sammlung besitzt - CDs waren in den 1980ern der letzte Schrei, weshalb ein Yuppie selbstverständlich auf dieses Medium setzte (heute wäre das anders) - erweist sich darin als feinfühliger und verständiger Liebhaber von Musik. Sie stehen im Kontrast zur ansonsten demonstrativen Orientierung an Oberflächlichkeiten. In solchen Passagen entfaltet sich die wahre Grösse des Romans, der eben nicht nur mit Schockmomenten arbeitet, das wäre zu billig, sondern auch genügend Irritationsmomente einstreut und somit eine Ambivalenz schafft, die mehr zur Auslotung psychischer Untiefen beiträgt, als ein moralisch übergestülptes Schwarz-Weiss-Schema.