Im berühmten Kapitel "Cetology" aus Moby Dick vergleicht Herman Melville Walfische mit Buchformaten, wobei man das Verfahren freilich auch umkehren kann. Dann wäre Moby Dick selbstredend ein riesiger Pottwal unter den Büchern. Treffender für Neal Stephensons Cryptonomicon hingegen wäre ein Vergleich mit U-Booten, da die submarinen Manöver während dem Zweiten Weltkrieg im Zentrum des voluminösen Romans stehen. Er würde - damals - mindestens zur japanischen I-400-Klasse der Unterseeboote gehören oder zum Typ XXI der Deutschen. Technologisch aufgerüstete Stahlmonster, aber schwerfällig und daher letztlich wirkungslos. Das gilt ein wenig auch für Stephensons Roman.
Wie U-Boote haben auch dicke Bücher oft die Schwierigkeit, dass sie nur langsam Fahrt aufnehmen. In Cryptonomicon dauert es fast bis in die Hälfte des Buches, bis die vielen Handlungsstränge erkennbar zusammenlaufen und erste Spannung aufkommt - also nach gut 600 Seiten, nachdem die meisten Bücher ohnehin längst beendet sind. Sergeant Shaftoe, einer der Hauptfiguren des Romans, trifft einmal die Unterscheidung zwischen Männern, die durch Reden etwas erreichen wollen, und Männern, die Reden für reine Zeitverschwendung halten und lieber zur Tat schreiten. Er entdeckt dann noch eine dritte Kategorie von Männern, die "einfach nur Lust" haben, "über Worte zu reden", also unnötig, ja verschwenderisch viele Worte verwenden. Zu dieser Kategorie gehört auch der Schriftsteller Neal Stephenson. Ganz offensichtlich liebt er es, sich möglichst wortreich zu verbreiten.
Neal Stephenson gilt als SF-Autor und wird mitunter der Cyberpunk-Bewegung zugeordnet. Diese Kategorisierung trifft für Cryptonomicon nur bedingt zu. Im Kern handelt es sich um einen zuweilen überzeichneten historischen Spionage-Thriller mit comicartigen Zügen. Ein gewisser, wohl intendierter Trash-Faktor ist dem Roman jedenfalls nicht abzusprechen. Er besteht aus zwei parallel geführten Handlungsebenen, die in alternierenden Kapiteln sukzessive entfaltet und miteinander verknüpft werden. Die erste Handlungsebene spielt während dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen den Deutschen und den Alliierten toben nicht nur Kampfeinsätze, sondern auch ein kryptologischer Informationskrieg. Auf der Seite der Alliierten operiert die historisch verbürgte Figur des Mathegenies Alan Turing, dem es gelang, den deutschen ENIGMA-Code zu knacken, und sein (erfundener) Kompagnon Lawrence Waterhouse, auf Seite der Wehrmacht steht Rudolf von Hacklheber. Alle drei kennen sich von früher aus ihrem Studium in Cambridge.
Die andere Handlungsebene spielt am Ende des 20. Jahrhunderts, als amerikanische Jungunternehmer und Programmierer in einem fingierten philippinischen Inselstaat, dem Sulfanat Kinakuta, einen freien Datenhafen errichten wollen und bei der Verlegung von Tiefseekabeln auf das Wrack eines mysteriösen Nazi-U-Bootes stossen, das die Hintergründe einer Schmuggelkomplottes von Goldreserven enthüllt, in die das Figurenarsenal aus der historischen Handlungsebene verstrickt war. Dabei geht auch hervor, dass zwei Figuren der Gegenwart, der Programmierer Randy Waterhouse und die Tiefseetaucherin Amy Shaftoe, mit zwei Figuren aus der Vergangenheit, mit dem bereits erwähnten Mathematiker Waterhouse wie dem Sergeant Shaftoe verwandt sind. Auch narratologisch bewegen sich beide Zeit- und Erzählebenen aufeinander zu: in dem Masse, wie in der Gegenwart die Verschwörung aufgedeckt wird, erfahren wir aus der Vergangenheit, wie sie zustande kam.
Der grosse Plot zerfällt dabei in unzählige Einzelepisoden, die für sich durchaus amüsant zu lesen sind, nicht zuletzt aufgrund des oft parodistischen Schreibstils des Autors, die Lektüre insgesamt aber zerfasern und schwerfällig gestalten. Es scheint fast so, als habe Stephenson die Technik der im Roman beschriebenen Sondereinheit 2702 auf das Buch selbst angewendet, um die vielleicht allzu durchschaubare Story zu kaschieren. Diese erfundene Sondereinheit, der im Roman auch Alan Turing angehört, wurde von den Alliierten ins Leben gerufen, um statistische Ausreisser wieder auszugleichen, die durch ihr kryptologisch erworbenes Geheimwissen über die Pläne der deutschen Gegner entstanden sind. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Nazis Verdacht schöpfen. Die Einheit 2702 konstruiert also alternative Gründe, woher das Wissen stammen könnte, indem sie bspw. künstlich Pfade austrampeln, um einen bereits länger existierenden Horchposten vorzutäuschen. Manche der Episoden in dem Roman gleichen solchen falschen Trampelpfaden.
Fazit: Eine - nur bedingt lohnenswerte - Schwarte. Vom Ansatz her vielversprechend, in der Länge jedoch zeitraubend.