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Sonntag, 9. Juni 2024

William Gibson: Neuromancer (1984)

Das Thema der künstlichen Intelligenz bewegt heutzutage wieder einmal die Gemüter; neben allen ersichtlichen Vorteilen besteht die Befürchtung, dass die Maschinen eines Tages ein eigenes Bewusstsein entwickeln und dann nicht mehr menschlichen Befehlen gehorchen, sondern autonome Entscheidungen treffen. Genau dieses Szenario spielt sich in William Gibsons Cyberpunk-Klassiker ab, der schon vor vierzig Jahren ein dystopisches Zukunftsbild zeichnete, an dem wir jedoch (noch) nicht ganz angelangt sind. Wie visionär der Autor dennoch die technische Entwicklung vorwegnahm, zeigt sich u.a. darin, dass heute selbstverständliche Begriffe wie "Cyberspace" und "Matrix" von ihm geprägt wurden. Wie so oft in der Science Fiction geht die Fiktion der Wirklichkeit voraus, ja mehr noch, bereitet ihr den Weg. Man attestiert Gibsons Roman deshalb auch, er hätte die Entwicklung des Internet wesentlich beeinflusst.

Im Zentrum der Geschichte steht Case, ein abgewrackter, ehemaliger Konsolen-Cowboy (vulgo: "Hacker"), der sich in den Slums von Chiba als Kleinkrimineller und Junkie durchschlägt. Im Cyberspace führte er früher sogenannte "Runs" aus, er hackte mit anderen Worten auftragsmässig Computersysteme. Da er einen Teil des Gewinns für sich abzweigte, liess sein Auftraggeber das Nervensystem von Case schädigen, so dass es ihm fortan unmöglich war, in den Cyberspace einzusteigen, was jeweils so geschah, dass er seinen Körper mit sogenannten "Troden" verkabelte und sein "entkörpertes Bewusstsein in die Konsens-Halluzinationen der Matrix proijzierte". Doch mit diesen "körperlosen Freuden des Cyberspace" war es nunmehr vorbei, es blieb ihm nur noch sein Körper und der "Körper war nur Fleisch": Case ist fortan "ein Gefangener des Fleisches".

Case steht kurz davor, sich mit sogenannten "Derms" - das sind: auf die Haut aufgelegte Drogenpflaster - selbst zu ruinieren, als Hilfe von unerwarteter Seite kommt. Molly, eine gefährliche Schönheit mit Skalpellfingern, stöbert ihn in der Gosse auf und schleppt ihn zu einer dubiosen Figur namens Armitage, der von sich behauptet ein Cyberkriegsveteran der gescheiterten Operation "Screaming Fist" zu sein. Er bietet Case eine teure Regenerierung seines Nervensystems an, unter der Bedingung, künftig für ihn zu arbeiten. Obwohl ihm das Angebot suspekt erscheint, schlägt Case ein. Er wird operiert und kann wieder in den Cyperspace eintauchen. Rekrutiert werden ausserdem der "Finne" und ein Psychopath namens Riviera. Ausserdem klaut Case eine Flatline, die mit dem Bewusstsein des legendären Computer-Hackers McCoy Pauley ausgestattet ist, der nun Case auf seinen "Runs" unterstützt und mit seinem schepperndem Maschinenlachen eine markante Nebenfigur darstellt.

Molly und Case beginnen Informationen über Armitage zu sammeln und finden heraus, dass er eigentlich Colonel Willis Corto heisst und alles darauf hindeutet, dass er von einer K.I. mit dem Codenamen "Wintermute" ferngesteuert wird, die plötzlich auch zu Case Kontakt aufnimmt. Sie gehört dem Familienunternehmen Tessier-Ashpool, eine uralte Orbitfamilie, deren Mitglieder sich wechselweise klonen, auf Eis legen und wieder auftauen, wenn es an der Zeit ist. In Gestalt verschiedener vertrauter Personen, u.a. auch als "Finne", begegnet Case der K.I. im Cyberspace, die ihn um Hilfe bittet, sich  mit seinem komplementärem Gegenstück, der K.I. "Neuromancer", die in Gestalt eines Jungen auftritt, zu einem autonomen Super-System zu verbinden. was die Turing-Polizei wiederum verhindern will, da es nicht vorgesehen ist, dass künstliche Intelligenzen sich der menschlichen Kontrolle entziehen. 

Der Showdown spielt sich in der Villa Straylight der Familie Tessier-Ashpool ab, die direkt aus einer Horrorstory von H.P. Lovecraft stammen könnte. Sie ist ein tief und endlos verschlungener, labyrinthischer Bau, ein "parasitäres Gebilde", wie es heisst, das an ein Wespennest erinnert. Auf gespenstische Weise schlummern hier die Familienmitglieder tiefgefroren in ihren Eissärgen. Straylight "ist verrückt, ein Wahnsinn", und zwar wie so oft auch bei Lovecraft, ein Wahnsinn, der die menschliche Auffassungsgabe übersteigt, ein Wahnsinn, der letztlich "unverständlich" bleibt. Gemeinsam mit Molly und Riviera, der sich immer mehr als grössenwahnsinniger Psychopath herausstellt, dringt Case in den Siliziumkern der Villa vor, wo in Gestalt eines riesigen Kopfes ein Computerterminal steht, das er schliesslich mit dem "wahren Namen" (es handelt sich um eine Tonfolge) knacken und so die Vereinigung von Wintermute und Neuromancer herbeiführen kann: "Ich bin die Matrix [...]. Ich bin die Gesamtheit des Systems, die ganze Show."

Der Roman hat - ganz im Gegensatz zum Film Johnny Mnemonic von 1995, der auf der gleichnamigen Erzählung Gibsons beruht, die wiederum als Vorlage für Neuromancer diente - nichts an Frische eingebüsst. Die ohne grossen Erklärungsaufwand hingestellte Zukunftswelt, in der Elektroschrott und Hightech, menschliches Prekariat und künstliche Intelligenzen koexistieren, wirkt eindrücklich und überzeugend. Die Handlung ist rasant und dicht mit immer neuen Einfällen und futuristischen Details gespickt. Sogar ohne Sex kommt die actiongeladene Story nicht aus, erstaunlicherweise aber kein Cybersex: Es wird noch ganz bodenständig ins ansonsten von den Cyberpunks verpönte "Fleisch" vor- resp. eingedrungen. Besonders bizarr mutet dabei der Einfall der "Fleischpuppen" an: Es handelt sich um eine futuristische Form der Prostitution, bei der den Frauen ein Serum verabreicht wird, damit sie nicht mitbekommen, was die Freier alles mit ihnen anstellen.

Freitag, 28. April 2017

H.P. Lovecraft: Cthullhu. Geistergeschichten (1972)

Das Lesefrüchtchen hat sich endlich ein Herz gefasst und alle Lektüren beiseite geschoben, um sich endlich dem Stapel der vergessenen Leckerbissen zu nähern. Aus Laune griff es zunächst zu H.P. Lovecraft, nicht zuletzt auch, weil die Übersetzung aus der Feder von H.C. Artmann stammt. Artmann, dieser grandiose Avantgarde-Autor und Liebhaber von Trivialgenres, hat Lovecraft für den deutschsprachigen Raum entdeckt, als er noch in niemandes Munde war. Heute gilt Lovecraft hingegen als Ikone der gehobenen Horror-Story und ist auch unter E-Literaten längst salonfähig geworden. Jedenfalls muss man sich in ihren Kreisen nicht schämen, wenn man Lovecraft liest – was eigentlich eher gegen als für den Autor spricht. Aber letztlich kann er für die intellektuelle Vereinnahmung nichts.

Lovecraft ist in erster Linie ein brillanter Techniker. Er schöpft aus dem Vollen, was die bizarren Abgründe der menschlichen Phantasie angeht. Seine Erzählungen sind weniger Orgien des Horrors als der Einbildungskraft. Er ist ein unermüdlicher Erfinder phantastischer und grauenerregender Szenarien, die er mit einer ungeheuerlichen Akribie und schier unermüdlichen Darstellungs schildert. Dabei sind die meisten Erzählungen gar nicht auf eine Wirkungsästhetik hin komponiert. Jedenfalls packt einem der beschriebenen Schauer selten. Das heißt: Die Geschichten sind, was sicher an ihrer analytischen Ausrichtung liegt, nicht per se schrecklich, sie beschreiben lediglich den Schrecken in all seinen perversen Abarten. Wenn Giorgio Manganelli im Vorwort Lovcraft als „Pornographen des Grauens“ betitelt, liegt er genau richtig. Wie de Sade in endlosen Variationen seine tableaus aneinanderreiht, so wiederholt auch Lovecraft seine Schilderungen des Schreckens bis zur Ekstase - oder Ermüdung.

Die Kurzgeschichten sind praktisch alle nach demselben Schema aufgebaut: Durch eine pseudodokumentarische Erzählweise wird eine authentische Nähe zu den geschilderten Ereignissen geschaffen, durch einen scheinbar kritischen Erzähler deren Glaubwürdigketi anfangs jedoch relativiert, obwohl von Anfang immer klar ist (was den Geschichten mitunter die Spannung nimmt): Wie unglaublich die Befürchtungen und Ahnungen auch anmuten, genau so (oder noch schlimmer) wird es am Ende auch eintreffen. Sodann wird der Erzähler nicht müde, das Entsetzen in allen nur erdenklichen Schattierungen auszumalen. Dann läuft er zur Höchstform auf. Für Lovecraft selber gilt deshalb, was er über den Maler Pickman in der ersten Erzählung des Bandes schreibt: „er schilderte mit eiskalter Überlegung eine wohlfundierte Welt des Horrors“ und ist mit dieser Methode ein „durch und durch genauer, ja fast wissenschaftlich vorgehender Realist.“ Hier zeigt sich die wahre Kreativität von Lovecraft: Seine Erzählungen sind veritable Vokabularien des Grauens, und machen sie wohl für Artmann als Übersetzer besonders interessant.

Doch offenbar erwies sich auch das Übersetzen des Horros als Grenzerfahrung. Zumindest waren die Wortfindungen so ausgesucht, dass sich nicht alle verlustfrei ins Deutsche übersetzen ließen. Das Adjektiv „ghoulish“ (engl. für gräulich, makaber) zumindest, das an mehreren Stellen auftaucht, muss Artmann trotz lexikalischer Hilfe unbekannt gewesen sein, verdeutsche er es doch schlicht – und irgendwie auch kongenial – in „ghoulisch“ (das auch in flektierter Form wie etwa in „das ghoulische Schweigen“ vorkommt) und schuf damit ein hapax legomena, das seither als Synonym für die teuflische, böse Seite der Menschheit weiterverwendet oder gar als diabolische Sprache angesehen wird. Ein produktives Missverständnis also, welches das Grauen in Form eines rätselhaften Worts in die deutsche Sprache importiert. Nichts ist unheimlicher, als was sich dem primären Verständnis entzieht.

Und genau nach diesem Prinzip funktionieren die Erzählungen von Lovecraft: Sie beschreiben jenen Moment, in dem das Irrationale in die Welt einbricht, wo sich der Schrecken in Form des absolut Unbegreiflichen, des Unausdenkbaren manifestiert, dass die Betroffenen vor Schreck entweder den Verstand verlieren, in irrsiniges Gelächter ausbrechen oder mit gebrochenen Blick dahinscheiden. Oft sind es grausige, absolut unhmane, gallert- und schleimartige Wesen aus den Urtiefen des Meeres, der Vergangenheit oder des Alls, welche schon lange vor der Menschheit existierten und nur darauf warten, diese wieder auszulöschen. Wie zum Beispiel der grosse Cthullhu, der zu Lovecrafts Privatmythologie gehört und auch in anderen Erzählungen wieder auftaucht, wie auch das berühmte gewordene Buch Necronomicon des wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred, das alle Zauberformeln enthält, um die bösartigen Kräfte zu erwecken.

Darin liegt wohl auch die anhaltende Faszination am Autor: dass er den Horror in der Buchkultur verankert und ihm dadurch als schriftlich tradiertes Erbe eine vermeintliche Genealogie verschafft. Lovecraft schreibt nicht einfach "Geistergeschichten", wie der Erzählband etwas unglücklich betitelt ist; vielmehr arbeitet er an einer vertiablen Kosmologie des Horrors und seiner klandestinen Überlieferung, die eigentlich nicht für menschliche Augen bestimmt ist.