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Freitag, 26. Mai 2017

Friedrich Schiller: Die Räuber (1781)

In seinem Anstoß Zur Geschichte des menschlichen Herzens erzählt Christian Friedrich Daniel Schubart die Anekdote zweier ungleicher Brüder: der eine heißt Carl, ist ein verbummelter, genusssüchtiger Mensch, weshalb er bei seinem Vater zunächst in Ungnade fällt, erweist sich dann aber von rechtschaffener Natur, während der andere Wilhelm, vordergründig ein Musterknabe, sich letztlich als eigennütziger und ziemlich skrupelloser Kerl entpuppt. Er macht sich des versuchten Mordes an seinem Vater schuldig, wovor ihn nur durch Zufall sein verstoßener Sohn retten kann. Schubart leitet seinen kurzen Bericht der angeblich wahren Begebenheit mit den Worten ein: „Hier ist ein Geschichtchen, das sich mitten unter uns zugetragen hat, und ich gebe es einem Genie preis, eine Komödie oder einen Roman daraus zu machen“.

Das Genie, das den Stoff dramatisierte, war der damals zwanzigjährige Friedrich Schiller. Er liess sich davon für sein erstes Stück Die Räuber inspieren, das 1781 anonym und im Selbstverlag erschienen ist – und erst später und unter erheblichen, nicht autorisierten Veränderungen uraufgeführt wurde. Beim publizierten Text handelt es sich also um ein Lesedrama, das in erster Linie als Buch und nicht für die Bühne konzipiert wurde. In der Vorrede zur ersten Auflage schreibt Schiller: „Nun ist es aber nicht sowohl die Masse meines Schauspiels als vielmehr sein Inhalt, der es von der Bühne verbannet.“ Inhaltlich stehen die beiden Brüder Karl und Franz Moor im Zentrum, die aus unterschiedlichen Beweggründen die Gesetze überschreiten und zu grausamen Verbrechern werden, wobei Franz der moralisch verworfene Gegentypus zum edlen oder „erhabenen Verbrecher“ Karl Moor markiert.

Franz, der zweitgeborene Sohn des Grafen von Moor, fühlt sich gegenüber dem charismatischen und viel attraktiveren Bruder Karl fürs Leben benachteiligt, weshalb er gewillt ist, diese naturgegebene Hintansetzung eigenmächtig aus dem Weg zu räumen, indem er eine Intrige gegen den Bruder in die Wege leitet. Er lässt seinem greisen Vater die falsche Nachricht von der Verworfenheit seines Sohnes Karl zukommen, worauf dieser Karl verflucht und aus Gram über dessen Lebenswandel dahinsiecht. Tatsächlich will der skrupellose Franz nichts anderes, als den Tod seines Vaters zu forcieren, um das Erbe baldmöglichst anzutreten. Er besitzt ein „Gewissen nach der neuesten Façon“, das wie die Beinschnallen an den Hosen beliebig – also bis zur absoluten Gewissenlosigkeit – erweitert werden kann und auch den versuchten Mord nicht ausschließt. Franz ist der ganz große Schurke, der in seiner Verzweiflung letztlich sogar gegen Gott frevelt.

Karl dagegen agiert nicht weniger grausam, allerdings nicht aus genuiner Unmoral, sondern aufgrund einer existenziellen Enttäuschung. Wie Schiller in seiner Selbstbesprechung zum Stück schreibt, steigert sich bei Karl eine „Privatverbitterung“ in „Universalhaß gegen das ganze Menschengeschlecht“. Dass ihn sein Vater (aufgrund des Ränkespiels von Franz) verstößt, veranlasst Karl (da er nichts von der Intrige weiß und sich den Zorn des Vaters also nicht erklären kann) impulsiv alle gesellschaftlichen Bande aufzukündigen und als mordender und brandschatzender Räuberhauptmann in die böhmischen Wälder zu ziehen. Trotz seiner Untaten verliert Karl sein Ehrgefühl nicht. Im Unterschied zum niederträchtigen Kumpanen Spielmann geht es ihm nicht um Spaß an der Sache, vielmehr versteht er sich als Rächer an einer dekadenten Welt: „Sag ihnen, mein Handwerk ist Wiedervergeltung – Rache ist mein Gewerbe.“

Karl wie Franz, so unterschiedlich auch ihre moralische Verfassung beschaffen ist, sind beides typische Sturm-und-Drang-Figuren, welche sich von den sozialen Fesseln losreißen und mit allen Kräften ins Unbedingte vordringen wollen. Nicht zufällig erwähnt Karl gleich zu Beginn den „Prometheus“, die Galionsfigur des Sturm-und-Drang, um aber festzustellen, dass der „lohe Lichtfunke“ von ihm heutzutage ausgebrannt sei, weil die Zivilisation alles Große und Erhabene im Keim ersticke: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug gewesen wäre.“ Genau so, mit exakter derselben Wortwahl, fühlt sich auch Franz an die äußeren Umstände gebunden, die er überwinden will: „Soll sich mein hochfliegender Geist an den Schneckengang der Materie ketten lassen?“ Beide sind sie Kraftmenschen, welche die lähmenden gesellschaftlichen Konventionen zugunsten einer absoluten Freiheit für sich aushebeln wollen. Das Stück zeigt aber, das radikale Freiheit letztlich nur in neuer Barbarei enden wird.

Schillers Räuber sind Ausdruck des aufklärerischen Interesses an der Natur des Verbrechens. Die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus böse sei, wie es Thomas Hobbes etwa mit seiner Formel von homo homini lupus noch postuliert hatte, war aus aufklärerischer Sicht, die von einem humanistischen Ideal ausging, unhaltbar. Entsprechend richtete man die Aufmerksamkeit auf die sozialen Umstände, unter denen ein Mensch auf die schiefe Bahn gerät und in die Kriminalität getrieben wird. Ein ganz ähnliches Anliegen verfolgte Schiller auch in der fast gleichzeitig entstandenen Erzählung Der Verbrecher aus verlorene Ehre (1786). In der programmatischen Einleitung fordert Schiller eine Art Linné'sches System, welches das Menschengeschlecht „nach Trieben und Neigungen klassifizierte“, um die innern Beweggründe des menschlichen Handlens besser zu verstehen: „An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten.“

Diese Absicht führt jedoch mit sich, dass man das Laster dem Leser in all seinen Facetten vor Augen führen, ja nachgerade eine „Leichenöffnung“ des Lasters veranstalten muss, um das Entsetzliche verständlich zu machen. Vor diese Herausforderung sieht sich der junge Dramatiker auch im Schauspiel Die Räuber gestellt, weshalb er in der Vorrede zum Stück die berechtigte Befürchtung ausspricht, dass es vom unverständigen „Pöbel“ in seiner Intention diametral als „Apologie des Lasters“ missverstanden werden könnte, was doch als abschreckendes Beispiel gedacht sei: „Wer sich den Zweck vorgezeichnet hat, das Laster zu stürzen und Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren Feinden zu rächen, ein solcher muß das Laster in seiner nackten Abscheulichkeit enthüllen und in seiner kolossalischen Größe vor das Auge der Menschheit stellen“.

Schiller formuliert darin eine Absicht, die er wenige Jahre später in seinem Aufsatz Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1784) theoretisch weiter ausführen wird, u.a. unter direkter Bezugnahme auf sein Stück Die Räuber, das er in einer Reihe mit Shakespeare und Molière erwähnt, was nicht zuletzt auch ein Licht auf das keineswegs geringe Selbstverständnis des jungen Schiller wirft. Wie die genannten Vorgänger so will auch Schiller den Menschen in all seinen erschreckenden Abgründen auf die Bühne stellen, um dem Publikum den Spiegel vorzuhalten, damit es die eigenen Schwächen im Schicksal der tragischen Figuren erkenne. Zwar räumt Schiller ein, dass ein Franz oder Karl Moor auf der Bühne faktisch keinen Verbrecher bekehren könne; der Wert des Schauspiels liege aber darin, dass man mit diesen Abirrungen des menschlichen Daseins bekannt gemacht werde, um im richtigen Leben davor gewappnet zu sein. Dem Schrecken auf der Bühne spricht Schiller somit eine humanisierende Wirkung zu.

Schiller präsentiert mit den Räubern ein Drama in grellen Farben, mit drastischen Szenen und liefert mit dem Aufsatz über die Schaubühne als moralische Anstalt zugleich eine Begründung für diese Ästhetik des Bösen nach. Interessanterweise geht Schiller – anders als in heutigen Debatten über den angeblich negativen Einfluss von Gewaltdarstellungen – in keinem Punkt von der Annahme aus, dass der Zuschauer zur Imitation angestiftet werden könnte. Im Gegenteil glaubt Schiller, dass letztlich „Menschlichkeit und Duldung“ durch „Rührung und Schrecken“ bewirkt werde. Der „kühne Verbrecher“ dient „zum schauervollen Unterricht“ und soll im Zuschauer entsprechenden einen „heilsamen Schauer“ hervorrufen, der an die Tugend appelliert. Das ist freilich eine Überzeugung, die aus dem Optimismus der Aufklärung heraus gedacht wurde. Dass Schreckens- und Gewaltdarstellungen den Menschen moralisch bessern, ist wohl ebenso idealistisch, wie die gegenteilige Vermutung, dass sie ihn verderben, unnötig fatalistisch ist.