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Sonntag, 17. September 2023

Ulrich Becher: Das Profil (1973)

Ulrich Becher war seit jeher ein wortmächtiger, saft- und kraftvoller Erzähler, der seine Lebenswirklichkeit in skurrile, groteske, zuweilen karikierende Geschichten packte - geschult an seinem frühen Mentor, dem Karikaturisten George Grosz, der in diesem späten Roman dem Maler Altdorfer Pate stand. Wie Grosz so wohnt auch Altdorfer - er wählt diesen Übernamen als Referenz an den historischen Künstler, den er zusammen mit Matthias Grünewald als Proto-Expressionisten verehrt - als exilierter Künstler auf Long Island bei New York - und zwar, wie es an einer Stelle heisst, in unmittelbarer Nachbarschaft von George Grosz. Hier trifft die Realperson auf ihr fiktionales Alter Ego Altdorfer und die Wirklichkeit vermengt sich mit der Erfindung, wie es typisch für Bechers Prosa ist.

Altdorfer schlägt sich mehr schlecht als recht im New Yorker Kunstbetrieb durch. Umso erfreuter zeigt er sich, als sich ein Reporter von der Manhattan Review bei ihm meldet, um einen ausführlichen Beitrag über ihn zu schreiben - ein "Profil", wie die Rubrik heißt. Eine Woche lang interviewt Dennis Howndren, so der Name des Journalisten, den Künstler, doch dann geraten beim Dinner am letzten Abend die Dinge ausser Kontrolle. Howndren entpuppt sich als trockener 'dipsomaniac', als ehemaliger Quartalssäufer, der den Anonymen Alkoholikern beigetreten ist und den Spirituosen seither abgeschworen hat. Da ihm Altdorfer jedoch nachgerade ein Glas Beaune Villages aufdrängt, entfesselt sich die alte Trinklust wieder und Howndren schlägt über die Stränge.

Howndren ist die eigentliche Hauptfigur des Romans. Er wird als Hüne geschildert, als Enakskind, mit phosphorgrünen Augen und einem roten Bürstenhaarschnitt. Eine clowneske, gar mythologische Figur, die gleichzeitig mit dem Tornado Greta Garbo wie eine Urgewalt über Altdorfer und seine Familie hereinbricht. Im Suff beginnt er mit Schüttelbecher Baseball zu spielen, zerdeppert dabei eine Whiskeyflasche, entkleidet sich bis auf die Unterhose, verbrennt seine Schuhe und gerät zusehends ausser Kontrolle, so dass Walt, der eine Sohn der Familie, ihn in eine Zwangsjacke steckt. Mit seinen Riesenkräften vermag sich Howndren jedoch wieder daraus zu befreien, rennt in den Garten und klettert dort auf eine Ulme, von der er nicht mehr herunter will.

Hier liegt ganz offensichtlich eine Anspielung auf den irischen Kultroman At-Swim-Two-Birds (1939) von Flann O'Brien vor, wo die Sage vom König Sweeny in den Bäumen erzählt wird und auch der Alkohol (wie überhaupt bei O'Brien) eine dominante Rolle spielt. Nicht zufällig wird Howndren bei Becher als Ire eingeführt, und je länger die Erzählung andauert, umso mehr verwandelt sich der Journalist in eine sagenhafte, überlebensgroße Figur, bis er am Ende als König Triton nackt am Sund vor New York posiert. Er zählt damit zum Geschlecht anderer literarischerer Riesenfiguren, welche den Lauf der Dinge durcheinander bringen, so zum Beispiel der "sichere Mann" bei Eduard Mörike oder der Riese Sonntag bei G. K. Chesterton.

Erzähltechnisch raffiniert werden die Lesenden unvermittelt auf die mitunter abrupten Wendungen der Geschichte vorbereitet, als nach der anfänglichen Dinner-Szene, wo Howndren seine sozialistischen Exkurse verbreitet, plötzlich ein anderes Kapitel aufgeschlagen wird und der Erzähler sich einlässlich über das geheime Sexleben von Evelyn "Evie" Lampbell ausbreitet, die zuvor als keusche "Defregger-Schönheit" eingeführt wird (in Anlehnung an den biederen Tiroler Genremaler Franz Defregger), in Wahrheit aber, wenngleich emotional stets unbeteiligt, nichts anbrennen lässt und selbst vor Orgien und schwarzen Messen nicht zurückschreckt. Die geneigte Leserin wird von solchen Offenbarungen derart überrumpelt und vor den Kopf gestossen, dass sie in der Folge selbst die wildesten Kapriolen der Geschichte nicht mehr wundern kann.

Der Hang zur Überzeichnung ist Bechers Prosa allgemein eigen. In diesem Spätwerk scheint er es streckenweise jedoch zu übertreiben, oder aber die Lust am schieren Fabulieren verkommt hier mitunter zum reinen Selbstzweck. Ein verrückter Einfall jagt den nächsten, stets in überbordender, sprachgewaltiger Schilderung, was zu Lesen eine wahre Freude ist, auch wenn einem bisweilen die Geschichte entgleitet. Doch wie könnte es bei einem Delirium auch anders sein. Zwischen den Eskapaden der äußeren Handlung flirren jedoch immer wieder enzyklopädische Polit- und Kunstdiskurse durch, welche um das Fanal des Zweiten Weltkriegs kreisen, der nicht nur George Grosz, sondern auch Ulrich Becher ins amerikanische Exil getrieben hat.

Donnerstag, 28. Mai 2020

Ulrich Becher: Kurz nach 4 (1957)


Kurz nach 4 ist Bechers Romandebut, nachdem sein erster Erzählband Männer machen Fehler (1932) der nationalsozialistischen Bücherverbrennung zum Opfer fiel und sein gemeinsam mit Peter Preses verfasstes Theaterstück Der Bockerer (1946) in der Nachkriegszeit große Erfolge feierte. Die Epoche des Zweiten Weltkrieges und des nachfolgenden Kalten Krieges bestimmt auch den zeithistorischen Hintergrund von Kurz nach 4. Es ist die Geschichte des «Romfahrers» Franz Zborowsky, der sich nichts anderes als «Ruhe und Frieden» wünscht, sie aber in der Gaststätte am Borgo Caliban in Piacenza nicht finden kann, weil ihm bis tief in die Nacht nicht nur die Straßengeräusche den Schlaf rauben, sondern auch seine unverarbeiteten Kriegserinnerungen, die durch den nächtlichen Lärm evoziert werden. In cineastisch gekonnten Schnitten wird das «Zrrrr-wwummmm! Tocketocketocketocke! Tocketocketocketocke!» der Motorroller mit Detonationslärm und Maschinengewehrsalven (wie in einem Lautgedicht von Ernst Jandl) überblendet.

Der angehende Künstler Zborowsky nahm als Leutenant Borrón am Spanischen Bürgerkrieg teil, wurde gefangen genommen und sollte ins Schutzhäftlingslager gesteckt werden, renegierte aber unter dem Namen Boric zu einer südslawischen Partisanengruppe. Nach dem Krieg kann er verspätet seine Karriere als Akademieprofessor starten und erlangt als Künstler internationales Renommee. Vor allem ein «Geheimmotiv» kehrt in seinem Werk immer wieder: «ein Priester, ein Zeitungsverkäufer und ein wie ein flügelloser Pegasus durch die Luft sausendes, beflecktes Schaukelpferd». Biographisch verweist die Szene auf eine traumatische Erfahrung im Spanischen Bürgerkrieg: Ein Bombenanschlag verursacht bei Zborowsky in eine Gehirnerschütterung, doch nicht dies ist eigentlich traumatisch, sondern die Zeitungsnachricht, die er kurz vor dem Einschlag noch zur Kenntnis nehmen musste, ihre Wahrheit seither aber anzweifelt: Dass seine Verlobte Lolita Aguirre, deretwegen er überhaupt in den Spanischen Bürgerkrieg zog, von Falangisten exekutiert worden ist.

Am Borgo Caliban «kurz nach 4» in der Nacht wird Zborowsky jedoch die unumstößlich schreckliche Wahrheit bewusst, als er von der Strasse ein Schlurfen und ein Lachparoxysmus – ein «calibanisches Gelächter» – hört, die ihn an seinen ehemaligen Jugendfreund Kostja Kuropatkin erinnert, der für ihn fast wie ein Zwillingsbruder war. «Kuror und Pollax» wurden sie in Anlehnung an Kastor und Pollux genannt. Der Krieg treibt das Gespann jedoch auseinander, als Gummifabrikant macht Kostja Geschäfte mit den Nazis, während Zborowsky in den bewaffneten Widerstand abtaucht. Doch untergründig war der Riss schon vorher vorhanden: Wie Zborowsky sich in der Rückerinnerung wieder ins Bewusstsein ruft und ihm durch die Begegnung einer anderen früheren Geliebten in Parma außerdem deutlich wird, war Kostja rasend eifersüchtig auf den gerade bei Frauen viel beliebteren Freund. Kostja ist ebenfalls in Lolita verliebt, wird von ihr jedoch abgewiesen, weshalb er Zborowsky hinterrücks verleumdet, was Lolita wiederum dazu bewegt, mit ihrem Vater nach Spanien zu ziehen, wo sie als Kriegsopfer dahingemordet wurde.

Wie Zborowsky auf seiner Romfahrt dämmert, hat Kostja, auf dessen Einladung er nach Rom folgt, seine Verlobte letztlich auf dem Gewissen. Die Stadt der verfeindeten Zwillingsbrüder Romulus und Remus deutet darauf hin, dass es bei der Begegnung zu einem Brudermord kommt. Tatsächlich fantasiert Zborowsky wie er Kostja mit seiner «Luger» erschießen wird – so wie er es in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit seinem Peiniger Mehlgruber tat, der ihm als Kriegsgefangener die Nase gebrochen hat. Doch am Ende kommt es nicht soweit. Der Roman endet mit dem Dementi des bekannten Sprichworts, dass alle Wege nach Rom führen: «Es führt kein Weg nach Rom». Es ist also die Geschichte einer gescheiterten respektive abgebrochenen Romfahrt (und damit eine Inversion historischer Italienzüge und Bildungsreisen): Als Geschädigter der «leergeschossenen Generation», wie es in Anlehnung an die Lost Generation rund um Hemingway nach dem Ersten Weltkrieg einmal heißt, ist für Zborowsky jegliche Illusion, auch an diejenige von Rache, verloren.

Ulrich Becher ist mit Kurz nach 4 ein genau konzipierter, motivisch dichter und sprachlich furioser Roman gelungen von zuweilen grotesk-komischen Zügen, die bereits den Autor der Murmeljagd (1969) erkennen lassen.

Dienstag, 2. Mai 2017

Albert Drach: Unsentimentale Reise (1966)

Eine jüdische Exilgeschichte als Abenteuer- und Schelmenroman: Ist das moralisch vertretbar, selbst wenn sie vom Betroffenen selbst erzählt wird? Aber weshalb soll man sich noch um narrative Angemessenheit und Gattungsgesetze kümmern, wenn die Welt ohnehin aus den Fugen geraten ist? So heißt es auch ziemlich zu Beginn schon: „Was anders ist, das ist, daß ich das Leben nicht mehr so ernst nehme, seit ich weiß, daß ich das die Gesetze aufgehoben sind, die es schützen.“ Zudem handelt es sich um eine unsentimentale Erzählung, die weder auf Mitleid pocht noch solches vom Leser einfordert. Der Titel ist eine Anspielung auf Laurence Sternes Sentimental Journey (1768), die im Deutschland des 18. Jahrhunderts einen veritablen Gefühlskult hervorgerufen und ein ganzes Genre der launigen Erzählweise begründet hat (tatsächlich wurde das engl. sentimental oft mit launig übersetzt). Von diesem heiter-melancholischen Ton distanziert sich Drach jedoch explizit und wählt stattdessen eine „unsentimentale“ Erzählweise, die von einem sarkastischen bis defätistischen Humor getragen ist, der sich mitunter auch gegen das erzählende Ich selbst richtet. Es weiß, dass er sich auf einer unsentimentalen Reise befindet, die falls sie überhaupt jemals endet, nur letal enden kann: „Sofern sie ein Ziel hat, ist es das, wohin ich nicht will, wohin man einen bringt und wo die Reise nicht mehr weitergeht.“

Geschildert wird aus der Ich-Perspektive die prekären Lebenumstände im französischen Exil des österreichischen Juden Peter Kucku (bzw. Pierre Coucou), der ein leicht dechiffrierbares Alter Ego des Autor ist (er gibt sich an einer Stelle sogar als Verfasser von Albert Drachs Großem Protokoll gegen Zwetschkenbaum zu erkennen). Das Buch ist in drei Teile gegliedert, wobei der letzte fast die Hälfte des gesamten Umfangs einnimmt und eine für den episodischen Schelmenromans typische Fülle an Personal und Handlungssequenzen umfasst, weshalb hier der Inhalt nur sehr raffend wiedergegeben werden kann. Der erste Teil dreht sich um die Deportation und die Internierung im Zwischenlager von Rives Altes, aus dem Coucou zusammen mit anderen Inhaftieren durch eine glückliche Fügung wieder entlassen wird. Ohnehin versucht Coucou mit allen Mitteln, den Nazis zu entkommen, auf die er eine ungeheure Wut hat, die sich einmal in einer fulminanten Hasstirade auf Hitler entlädt, dem „'Mann' genannten Hämling, der selbst nicht genau weiß, aus welchem Schleim seine eigene Rasse kommt“. Aus diesem „Zorn“ erwächst ein fast trotziger „Entschluß zu leben“ und den Faschisten zu entkommen. Zu diesem Zweck lässt sich Coucou durch eine Schummelei von der französischen Regierung einen Attest ausstellen, dass er kein Jude sei, indem er das Kürzel I.K.G. (für Israelische Kultusgemeinde) auf seinem Heimatschein durch eine Notlüge zur Formel „Im Katholischen Glauben“ uminterpretiert.

Der zweite Teil spielt mehrheitlich in Nizza, wo sich Coucuo nach seiner Entlassung aus dem Lager eine gesicherte Existenz verschaffen will und dabei mit verschiedenen Leuten in Kontakt tritt, um an Geld, Unterkunft und Essen zu kommen. Er fühlt sich einigermaßen in Sicherheit, da Nizza von den Italiener besetzt ist, doch dauert es nicht lange und die Gestapo reißt die Stadt an sich, weshalb Coucou wieder fliehen muss. Auf Rat einer irren Baronin fährt er mit dem Autobus in das Gebirgsdorf Caminflour La Commune in den Meeralpen, wo ihm die englische Familie Withorse („Witzpferd“) als Kontakt empfohlen wird (ob da eine Anspielung auf das hobby-horse und den sprunghaften Witz bei Sterne vorliegt, geht nicht eindeutig hervor). Der dritte Teil ist dem Aufenthalt in diesem Ort gewidmet, den Coucou mit merkwürdigen Bekanntschaften wie den Withorse oder dem germanophilen Dichter Lebleu verbringt, aber auch in ständiger Angst, entdeckt zu werden, sowie permanenten Geldsorgen. Erst als am Ende die Alliierten nicht zuletzt dank seiner Intervention einfahren, entschärft sich die Lage, wenngleich sie sich auch nicht normalisiert. Die Gefahr durch die Nazis weicht jetzt dem schlechten Gewissen, das den Entkommenen als raunende innere Stimme von Dr. Honigmann begleitet, der mit Coucou deportiert worden ist, im Unterschied zu ihm aber den Tod in der Gaskammer fand.

Doch Fragen der Moral gelten in diesen Zeit nicht, in der Freund und Feind nicht mehr klar zu trennen sind, in der Juden ihre Mitbrüder verraten, um sich selbst das Leben zu retten oder gar wie im Falle des Separatisten Quierke zur Gestapo überlaufen. Letztlich ist niemandem mehr zu trauen und man ist ganz auf sich alleine gestellt. Mit dieser morale provisoire ausgestattet, kämpft Coucou um sein Dasein, ohne falsche Skrupel und Rücksicht auf Verluste. Aus diesem Grund beschleicht den Protagonisten, so sehr ihn auch der Entschluss zu leben motiviert hatte, allmählich das Gefühl, dass er sich von sich selbst entfremdet und längst schon den Toten angehört (am Schluss nimmt die Verszeile „Die Toten reiten schnell“ aus Gottfried August Bürgers berühmter Ballade Lenore dieses Motiv auf). Tatsächlich fristet Coucou weitgehend ein abgestorbenes, moribundes Dasein, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass er trotz starker erotomaner Neigungen gerade zu jungen Mädchen nicht mehr zum Beischlaf fähig ist, obwohl sich mehrfach die Gelegenheit bieten würde. Ein weiteres auffälliges Defizit ist sein schwaches Erinnerungsvermögen, weshalb er ständig Personen begegnet, die ihn sehr gut kennen, er sich auf Anhieb aber kaum an sie erinnern kann, denn: „Man vergißt viel auf einer unsentimentalen Reise.“

Drachs kompromissloser, tiefschwarzer, aber von einer wiederum fast selbstdestruktiven Frivolität geprägter „Bericht“ (so lautet die offizielle Gattungsbezeichnung) ist ein absolute Ausnahmeerscheinung in der Exil- wie in der Romanprosa überhaupt. Vergleichbar ist die ausufernde erzählerische Wucht eigentlich nur mit zwei anderen Romanen, die mit derselben humoristischen Abgeklärtheit gegen die selbsterfahrene Zwangslage im Exil anschreiben: zum einen Ulrich Bechers Murmeljagd (im Schweizerischen Graubünden) und Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts (auf Mallorca). In allen drei Fällen meldet sich ein autofiktionaler Ich-Erzähler zu Wort, keck und tolldreist, der sich trotz widrigster Lebensumständen nicht kleinkriegen lässt, sondern sich im Gegenteil durch Witz, List und einer gehörigen Portion wildentschlossener Frechheit gegen das tumbe Gewaltregime zur Wehr setzt, ohne dabei in eine Heldenpose zu verfallen. Vielmehr handelt es sich auch bei Pierre Coucou um eine ganz und gar unheroische, bisweilen sogar tragische Figur, die allein ein wacher Sinn fürs Absurde vor der restlosen Verzweiflung bewahrt.