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Mittwoch, 22. Februar 2017

Rodolphe Toepffer: Die Bibliothek meines Onkels (1832; dt. 1847)

Diese Erzählung erfreute sich damals großer Beliebtheit, was heute kaum mehr vorstellbar ist, denn es fehlt ihr an einem durchgehenden Handlungsbogen. Allein der Titel wird auf der Inhaltsebene nicht wirklich eingelöst, zumal die Bibliothek nur sehr subtil und hintergründig das Geschehen bestimmt. Stattdessen werden in loser Folge einzelne Episoden, Betrachtungen und Einfälle aneinander gereiht, wie es der Autor auch in seinen Bildergeschichen tat, für die er heute noch als Pionier der Comickunst bekannt ist. Selbst Goethe war von den gezeichneten Bilderfolgen begeistert. Über die hier vorgestellte Erzählung La bibliothèque de mon oncle hingegen konnte er sich nicht mehr äußern: Als das persönlich von Toepffer verschickte Widmungsexemplar Weimar erreichte, weilte der Dichterfürst schon nicht mehr unter den Lesenden.

Wie er darauf reagiert hätte, darüber lässt sich nur spekulieren. Die Novelle ist ganz im Geist der empfindsam-launigen Erzählweise geschrieben, wie sie durch zahlreiche Imitatoren von Laurence Sterne und seiner Sentimental Journey im deutschen Sprachraum popularisiert wurde. Anstelle der Reise, die ein beliebtes Motiv für diesen sprunghaften Stil war, wählt Toepffer das Fenster als situativen Rahmen. Der Ich-Erzähler Julius präsentiert sich als „Gaffer“, der stunden- ja tagelang aus dem Fenster in seiner Dachwohnung schaut und die Welt betrachtet. Das Fenster – und nicht etwa. wie man meinen könnte, die Bibliothek – ist somit der privilegiert Ort, von dem aus erzählt wird. Einleitend wird das Fenster – in Abgrenzung zur Schwelle und zur Stube – sogar als ideales Erkenntnismodell vorgestellt. Die im Titel prominent genannte Bibliohtek hingegen fungiert eher als Negativfolie. Entsprechend kommt ihr während der gesamten Erzählung auch keine spezifische raumpoetische Bedeutung zu.

Julius, der Protagonist und Erzähler, ist ein 18jähriger, elternloser Student, der deshalb bei seinem Oheim wohnt. Dieser ist ein kauziger alter Privatgelehrter und Bücherwurm, der sich am liebsten in seiner Bibliothek aufhält und dort jedes einzelne Exemplar in- und auswendig kennt, während die Welt keine Notiz von ihm nimmt. Vom Bücherstaub will auch Julius gar nichts wissen; viel lieber schaut er zum Fenster hinaus und verliert sich in Tagträumen: „Ja, das Herumgaffen ist wenigstens einmal im Leben nötig, aber besonders im achtzehnten Lebensjahre, wenn man die Schule verläßt. Hier gewinnt die durch das Lesen alter Schwarten vertrocknete Seele wieder neues Leben“. Was den Jüngling in seinem Alter vor allem interessiert, sind demnach nicht lateinische Phrasen, die ihm der Hauslehrer Ratin aufzwingen will, sondern es ist das weibliche Geschlecht, um das sich die lose gestrickte äußere Handlung gleich in dreifacher Weise dreht.

In gewisser Hinsicht ist es eine Geschichte der Adoleszenz. Julius, der Protagonist, ist ein schüchterner junger Mann, der sich insgeheim umso sehnsüchtiger nach den angehimmelten Frauenzimmern verzehrt. Nacheinander schmachtet er so verstohlen wie offensichtlich für die Engländerin Lucie, für eine Jüdin, die allerdings zu früh verstirbt, als dass sich die Liebe erfüllen könnte, sowie für Henriette, die er schließlich heiratet, obwohl der Vater zunächst dagegen interveniert, da er in Julius, der seinem „Hang für die schönen Künste“ nachgekommen und Maler geworden ist, für eine finanziell denkbar unsichere Partie hält. Doch am Ende kommt die Vermählung trotzdem zustande, nicht zuletzt weil der Oheim von Julius altersbedingt seine Bibliothek verkauft und den Erlös als Mitgift stiftet. So gewinnen die Bücher, die Julius stets verschmäht hat, am Ende doch noch einen, wenngleich nur pragmatischen Nutzen.

Dennoch spielt die Bibliothek in den beiden anderen Teilen hintergründig eine entscheidende Rolle, insofern sie als Katalysator für die amourösen Gefühle von Julius dient. Im ersten Teil ist es die Geschichte von Abaelard und Heloise, die Julius in der Bibliothek entdeckt und von der er nachhaltig erotisiert wird. Im zweiten Teil ist es eine apokryphe, der „Bulle Unigenitus“ beigebundene Passage, die Julius über der Jüdin heimliche Neigung zu ihm Aufschluss verleiht. In beiden Fällen führt das Begehren zunächst über die Schrift. Doch ist den durch das Buch vermittelten Liebschaften keine Dauer beschieden. Es gehört wohl zur Ironie der Geschichte, dass erst der Buchverkauf zu einer stabilen Beziehung und zur Heirat führt, während das bloße Wort sich als höchst unsichere Phantasmagorie erweist.

Die Geschichte endet mit dem Tod des Oheims und einem – in Form eines Briefs von Julius an Lucie verfassten – Nachrufs auf ihn: „Dies, Madame, ist die einfache Erzählung von den letzten Augenblicken eines unbeachteten, der Welt fremden und selbst seinen eignen Nachbarn unbekannten Mannes, den ich aber aus vollem Herzen unter die besten Menschen der Erde zählen muß. Sein langes Leben erscheint mir wie der Lauf eines unbeachteten aber segenspendenen Baches, der seine bescheidenen Ufer erquickt und in dem sich die milde Heiterkeit eines lachenden wolkenlosen Himmels spiegelt.“