Diese Erzählung erfreute sich damals
großer Beliebtheit, was
heute kaum mehr vorstellbar ist, denn es fehlt ihr an einem
durchgehenden Handlungsbogen. Allein der Titel wird auf der Inhaltsebene nicht wirklich
eingelöst, zumal die Bibliothek nur sehr subtil und hintergründig das Geschehen bestimmt. Stattdessen werden in loser Folge einzelne Episoden,
Betrachtungen und Einfälle aneinander gereiht, wie es der Autor auch
in seinen Bildergeschichen tat, für die er heute noch als Pionier
der Comickunst bekannt ist. Selbst Goethe war von den gezeichneten
Bilderfolgen begeistert. Über die hier vorgestellte Erzählung La
bibliothèque de mon oncle hingegen konnte er sich nicht mehr
äußern: Als das
persönlich von Toepffer verschickte Widmungsexemplar Weimar
erreichte, weilte der Dichterfürst schon nicht mehr unter den
Lesenden.
Wie er darauf reagiert hätte, darüber
lässt sich nur spekulieren. Die Novelle ist ganz im Geist der
empfindsam-launigen Erzählweise geschrieben, wie sie durch
zahlreiche Imitatoren von Laurence Sterne und seiner Sentimental
Journey im deutschen Sprachraum popularisiert wurde. Anstelle der
Reise, die ein beliebtes Motiv für diesen sprunghaften Stil war,
wählt Toepffer das Fenster als situativen Rahmen. Der Ich-Erzähler
Julius präsentiert sich als „Gaffer“, der stunden- ja tagelang
aus dem Fenster in seiner Dachwohnung schaut und die Welt betrachtet.
Das Fenster – und nicht etwa. wie man meinen könnte, die
Bibliothek – ist somit der privilegiert Ort, von dem aus erzählt
wird. Einleitend wird das Fenster – in Abgrenzung zur Schwelle und
zur Stube – sogar als ideales Erkenntnismodell vorgestellt. Die im
Titel prominent genannte Bibliohtek hingegen fungiert eher als
Negativfolie. Entsprechend kommt ihr während der gesamten Erzählung
auch keine spezifische raumpoetische Bedeutung zu.
Julius, der Protagonist und Erzähler,
ist ein 18jähriger, elternloser Student, der deshalb bei seinem
Oheim wohnt. Dieser ist ein kauziger alter Privatgelehrter und
Bücherwurm, der sich am liebsten in seiner Bibliothek aufhält und
dort jedes einzelne Exemplar in- und auswendig kennt, während die
Welt keine Notiz von ihm nimmt. Vom Bücherstaub will auch Julius gar
nichts wissen; viel lieber schaut er zum Fenster hinaus und verliert
sich in Tagträumen: „Ja, das Herumgaffen ist wenigstens einmal im
Leben nötig, aber besonders im achtzehnten Lebensjahre, wenn man die
Schule verläßt.
Hier gewinnt die durch das Lesen alter Schwarten vertrocknete Seele
wieder neues Leben“. Was den Jüngling in seinem Alter vor allem
interessiert, sind demnach nicht lateinische Phrasen, die ihm der
Hauslehrer Ratin aufzwingen will, sondern es ist das weibliche
Geschlecht, um das sich die lose gestrickte äußere
Handlung gleich in dreifacher Weise dreht.
In
gewisser Hinsicht ist es eine Geschichte der Adoleszenz. Julius, der
Protagonist, ist ein schüchterner junger Mann, der sich insgeheim
umso sehnsüchtiger nach den angehimmelten Frauenzimmern verzehrt.
Nacheinander schmachtet er so verstohlen wie offensichtlich für die
Engländerin Lucie, für eine Jüdin, die allerdings zu früh
verstirbt, als dass sich die Liebe erfüllen könnte, sowie für
Henriette, die er schließlich heiratet, obwohl der Vater zunächst
dagegen interveniert, da er in Julius, der seinem „Hang für die
schönen Künste“ nachgekommen und Maler geworden ist, für eine
finanziell denkbar unsichere Partie hält. Doch am Ende kommt die
Vermählung trotzdem zustande, nicht zuletzt weil der Oheim von
Julius altersbedingt seine Bibliothek verkauft und den Erlös als
Mitgift stiftet. So gewinnen die Bücher, die Julius stets
verschmäht hat, am Ende doch noch einen, wenngleich nur pragmatischen Nutzen.
Dennoch
spielt die Bibliothek in den beiden anderen
Teilen hintergründig eine entscheidende Rolle, insofern sie als
Katalysator für die amourösen Gefühle von Julius dient. Im ersten
Teil ist es die Geschichte von Abaelard und Heloise, die Julius in der
Bibliothek entdeckt und von der er nachhaltig erotisiert wird. Im
zweiten Teil ist es eine apokryphe, der „Bulle Unigenitus“
beigebundene Passage, die Julius über der
Jüdin heimliche Neigung zu ihm Aufschluss verleiht. In beiden Fällen führt das Begehren zunächst über die Schrift. Doch ist den durch das Buch
vermittelten Liebschaften keine Dauer beschieden. Es gehört wohl zur
Ironie der Geschichte, dass erst der Buchverkauf zu einer stabilen
Beziehung und zur Heirat führt, während das bloße
Wort sich als höchst unsichere Phantasmagorie erweist.
Die Geschichte endet mit dem Tod des Oheims und einem – in Form eines Briefs
von Julius an Lucie verfassten – Nachrufs auf ihn: „Dies, Madame,
ist die einfache Erzählung von den letzten Augenblicken eines
unbeachteten, der Welt fremden und selbst seinen eignen Nachbarn
unbekannten Mannes, den ich aber aus vollem Herzen unter die besten
Menschen der Erde zählen muß.
Sein langes Leben erscheint mir wie der Lauf eines unbeachteten aber
segenspendenen Baches, der seine bescheidenen Ufer erquickt und in
dem sich die milde Heiterkeit eines lachenden wolkenlosen Himmels
spiegelt.“
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