Seit Jahren steht im Bücherregal des Lesefrüchtchens der schottische Kulturoman Lanark. A Life von Alasdair Gray. Bislang kam es aber nie dazu, ihn zu lesen, und aus aktuellem Anlass griff es nun zuerst zu einem späteren Roman desselben Autors: Arme Dinger (Poor Things), der gerade frisch verfilmt mit Emma Watson in der Hauptrolle in den Kinos läuft. Das Lesefrüchtchen hat den – in der Presse hochgelobten – Film (noch) nicht gesehen, es vermutet aber, dass hier der seltene Fall vorliegen könnte, dass eine Verfilmung die literarische Vorlage überbietet. Nicht dass die Lektüre durchwegs enttäuschend gewesen wäre, ein wenig schwerfällig hingegen ist das Buch schon in seiner neobarocken – oder wie es im Roman selbst heisst: «pseudogotischen» – Machart.
Das Buch präsentiert sich als Herausgeberfiktion, bei der Gray selbst als Editor und Kommentator (und realiter auch, wie in allen seinen Büchern, als Illustrator) eines angeblichen Textunikats auftritt, das im Jahr 1909 ein gewisser Archibald McBandless im Selbstverlag veröffentlicht haben soll. Geschildert wird darin eine Art Frankenstein-Geschichte mit weiblichen Vorzeichen. McBandless erzählt, wie er bei dem befreundeten Arzt Gotthard Baxter, der manipulative Eingriffe an der Natur vornimmt, eine entzückende junge Frau namens Bella kennenlernt, die – wie sich herausstellt – als Selbstmörderin in Glasgow aus dem Fluss Clyde gefischt und von Baxter zu neuem Leben erweckt wurde, indem er ihr das Hirn ihres ungeborenen Kindes einpflanzte. Mutmasslich handelt es sich um eine gefallene Frau mit einem ungewollten Spross im Leib, weshalb sie sich aus Verzweiflung das Leben nahm. Schon immer war es Baxters Plan, «einen fortgeworfenen Körper und ein fortgeworfenes Gehirn aus unserem gesellschaftlichen Abfallhaufen zu holen und zu einem neuen Leben zu vereinen».
Das neue Wesen, das seinen Schöpfer Gotthard Baxter kurzerhand und konsequent «Gott» nennt, zeichnet sich durch eine verhängnisvolle Kombination von kindlichem Gemüt und sexueller Appetenz aus, was unter anderem daran zum Ausdruck kommt, dass sie den Geschlechtsverkehr als «Trauen» missversteht und sich sooft mit ihrem Angetrauten Duncan Trauburn (man bemerke das Wortspiel) ‘traut’, dass dieser vor Erschöpfung und Furcht vor «der scharlachroten Hure des modernen Babylon» schliesslich im Irrenhaus landet. Doch neben Trauburn hält auch der Erzähler McBandless um Bellas Hand an und wartet sehnsüchtig, bis sie von ihren Flitterwochen zurückkehrt. Diese erweisen sich nicht nur als fatal für den koital dauerbeanspruchten Trauburn, sondern überdies als prägend für Bellas eigene Entwicklung, die ganz dem humanitären Einsatz für 'arme Dinger', wie sie selbst eines war, gewidmet sein wird (daher der Titel).
In Alexandria wird sie Zeugnis der Bevölkerungsarmut und des katastrophalen Elends der
Menschen, insbesondere sieht sie eine Mutter mit
einem blinden und verkrüppelten Kind, was sie an ihre Narbe am Bauch erinnert und
daran, dass sie offenbar selbst einmal eine verzweifelte Mutter war. Als ihre männlichen Begleiter sie mit den Worten «Sie können nichts Gutes tun» zu helfen abhalten
wollen, erleidet sie einen psychischen Anfall, was in Form von wildbekritzelten
Briefseiten, die als Faksimile quasi dokumentarisch in die Erzählung
eingestreut werden, visuell bekräftigt wird. Allein dass diesem Umstand, der
ziemlich exakt in der Mitte des Buches erfolgt, ein solches Gewicht verliehen
wird, deutet auf den entscheidenden Wendepunkt hin. Bella Baxter entwickelt
sich aufgrund dieser Erfahrung zur radikalen Sozialistin, die sich nach der
Heirat mit McBandless für bolschewistische Wohltätigkeit einsetzt und eine Abtreibungs-Klinik
gründet, um Frauen vor einem ähnlichen Schicksal, wie sie es in Alexandria
erlebte, zu bewahren.
Im Anschluss an diese aus McBandless' Perspektive erzählten Geschichte zitiert Gray als Herausgeber einen Brief von Bella Baxter mit einer
an ihre Nachkommen gerichtet Gegendarstellung. Darin bezichtigt sie ihren Gatten,
unter allerlei Anleihen bekannter Schauerromane, darunter selbstredend auch
Marry Shelleys Frankenstein, eine «teuflische Parodie» ihrer Lebensgeschichte
verfasst zu haben - aus purem Neid, weil er selbst als bloss geduldeter Ehemann an
ihrer Seite ein Schattendasein fristete, während sie als aktive Klassenkämpferin im öffentlichem Ansehen stand und angeblich sogar Affären mit H. G. Wells und
Ford Maddox Ford unterhielt. Die Vorstellung, ein Geschöpf aus Baxters Retorte
zu sein, weist sie als infame Lüge weit von sich, stattdessen gibt sie an, damals nicht
Selbstmord begangen zu haben, sondern von ihrem tyrannischen und gewalttätigen Ehemann
zu Baxter geflüchtet und dort unter dem Decknamen Bella untergetaucht zu sein.
Ihr wahrer Name sei Victoria.
Die Leserschaft kann so, wie es in einer ausdrücklichen
Aufforderung heisst, «zwischen zwei Darstellungen wählen» - eigentlich zwischen
drei: da der Autor in seiner Funktion als Herausgeber im Anhang einen
pseudo-dokumentarischen Abriss über Bella (Victoria) Baxters Leben und ihr karitatives sozialistisches Engagement gibt,
der es am Ende offenlässt, ob ihr Alter an der Geburt ihres
Gehirns oder ihres Körpers zu messen sei. - Wie gesagt, ein eher schwerfälliges Buch, das für eine Parodie zu wenig humoristisch, für einen politischen Roman wiederum zu verspielt und als postmodernes Verwirrspiel zu beliebig ist. Die Geschichte pendelt unentschlossen zwischen einer männlichen Schöpfungsphantasie und einem weiblichen Emanzipationsnarrativ. Es wirkt ein bisschen, als wäre auch das Buch wie mutmasslich die Protagonistin aus mehreren Organismen zusammengesetzt.