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Donnerstag, 15. Mai 2025

Giacomo Casanova: Geschichte meines Lebens (1789)

Giacomo Casanovas Geschichte meines Lebens umfasst 12 Bände mit durchschnittlich 330 Seiten, insgesamt also gut 4500 Seiten. Zum 300. Geburtstag des am 2. April 1725 geborenen Abenteurers, Philosophen, Diplomaten, Geheimagenten wie auch Geheimbündlers und - nota bene - Schürzenjägers nimmt sich das Leserfrüchtchen vor, seine Memoiren integral zu lesen. Ein Lektüreabenteuer wie es in vergleichbaren Dimensionen nur Marcel Prousts Recherche du temps perdu (auch um die 4000 Seiten) oder - in einer inferioren Liga spielend - Karl Mays Kolportageroman Das Waldröschen (2600 Seiten) darstellt, wenn man von nonfiktionalen Riesenwerken wie den Tagebüchern Samuel Pepys (3100 Seiten), der Gebrüder Goncourt (7000 Seiten) oder Henri-Frédéric Amiel (17'000 Seiten) absehen will. In jüngster Zeit nur getoppt durch die Open-Source-Novel Marienbad My Love von Mark Leach. Wie rüstet man sich zu einem solchen ungeheurem Unternehmen? Indem man beispielsweise ein Lektüreprotokoll führt.

Vorweg: Der alternde, nur noch - wie er an einer Stelle sagt - mit zwei Zähnen versehene Casanova beginnt ca. 1790, also als Mitsechziger, seine Memoiren aufzuschreiben, erstaunlicher Weise nicht auf Italienisch, sondern auf Französisch, eine Sprache, die er in jungen Jahren erlernen musste, als er in Rom in diplomatisch-klerikalen Kreisen verkehrte. Seine Laufbahn begann der aus einer Schauspielerfamilie stammende Lebemann, nicht weniger erstaunlich, als Geistlicher. Doch schon zu dieser Zeit regte sich sein glühendes Interesse am anderen Geschlecht, was sich oft nicht mit seiner öffentlichen Rolle als angehender Priester vertrug. Dieser Ruf als Frauenheld, der rücksichtslos venerischen Freuden frönt, eilt Casanova heute voraus. An einer Stelle rühmt er sich selbst als den "grössten Libertin" Venedigs. Sein Leben war gewiss nicht arm an erotischen Abenteuern, die er ohne falsche Scham auch ausbreitet, ohne dabei jemals pornographisch zu werden. Im Gegenteil: Er ist ein Meister der diskreten Andeutung, wenn er wieder "eine Blüte bricht", eine "Frucht" oder "Feige pflückt" und seine "Quintessenz" verströmt.

Seine Memoiren markieren somit das Gegenteil zu Augustinus oder Rousseaus Konfessionen. Es sind keine Bekenntnisse oder gar Beichten, die er ablegt, vielmehr lacht der Greis über die Torheiten, Fehler und Sünden seines Lebens, die er in keinster Weise bereut. Sein Motto lautet, mit Edith Piaf, gesprochen: "Je ne regrette rien"! Diese positive Lebenseinstellung dringt durch die gesamten Schilderungen hindurch, die den Erzähler selbst in unglücklichen Lebensphasen nicht verzagen lässt. Im Gegenteil: Mit Vehemenz richtet sich der dezidierte Kritiker des Selbstmords gegen diejenigen, die allzu rasch die Hoffnung aufgeben und sich aufgrund ihres Schicksals grämen: "Oh, ihr Verächter des Lebens, glaubt ihr, seiner würdiger zu werden, wenn ihr es verachtet!" Casanova hält sich lieber an seinen "Meister Horaz", den er gern und oft zitiert, und stellt sich auf den Standpunkt, dass sich ein "weiser Mann" "niemals restlos unglücklich" fühlen darf. Jeder ist seines Glückes eigener Schmied, lautet Casanovas Devise, nach der er sich ein Leben lang richtet, wobei für ihn Glück nichts anderes als das permanente Trachten nach Lustgewinn bedeutet.

Dieses grosse Selbstvertrauen sowie sein Unabhängigkeitsdrang prägt den Charakter Casanovas, der sich lebens- und liebesdurstig ins Dasein stürzt, sich vor Rückschlägen nicht entmutigen lässt und das Schicksal stets wieder von Neuem herausfordert. Er ist - neben dem Inbegriff des Verführers - der Typus des Spielers und Hasardeurs. Ein Freigeist, ein "Leichtfuss" und ein Verächter jeglicher "Spiessermoral", Heuchelei und Frömmelei. Wo immer sich die Gelegenheit zu einem Techtelmechtel oder kleinen Streichen bietet, um Armleuchter hinters Licht zu führen, setzt er alles daran, sein Ziel zu erreichen. So oft ihn dabei seine drängende Libido in die Bredouille bringt, so oft schafft er es, sich durch List und Menschenkenntnis Vorteile zu verschaffen, was er übrigens als Teil einer legitimen Klugheitslehre erachtet und deshalb von Betrügereien unterschieden wissen will: "Betrug ist gemein; eine rechtschaffene List ist jedoch nichts anderes als geschickt angewandte Klugheit, und das ist eine Tugend."

Mit Stolz und zurecht sagt er, wer ein ereignisreiches Leben geführt habe, werde gleich doppelt belohnt, denn er hätte am Ende desselben auch einiges zu erzählen. Hätte er alle guten Lehren und Ratschläge befolgt, meint er einmal, "so wäre mein Leben gewiss nicht so stürmisch verlaufen; dann würde ich es allerdings heute auch nicht für würdig halten, es niederzuschreiben". Und tatsächlich liest sich Casanovas Lebensgeschichte so spannend wie ein Abenteuer- oder Schelmenroman. Das liegt zum einem am Stoff mit etlichen Intrigen, Affären, Verschwörungen und Scharmützeln, der es locker mit damals populären Feuilletonromanen eines Eugène Sue aufnehmen kann, vor allem aber auch daran, weil der Autor ein brillanter Causeur und Unterhalter ist. Wobei natürlich die Frage berechtigt ist, wie viel Dichtung der notorische Scharlatan seinen Erinnerungen beigemischt hat, zumal er selbst an einer Stelle bekennt, dass er es liebt, "aus der Luft gegriffene Geschichten" zum Besten zu geben.

Doch wozu sollte er sich selbst belügen? Angeblich dachte Casanova vorderhand nicht an eine Publikation seiner Memoiren, als er er sie aus Schloss Dux bei Böhmen niederschrieb, wo er die letzten 13 Jahre seines Lebens als Bibliothekar des Grafen Waldstein verbrachte. Zwar interessierte sich Waldsteins Neffe, Fürst Karl Joseph de Linge, für Casanovas Memoiren, in erster Linie wird er sie aber für sich selbst, zu seiner eigenen Ergötzung, niedergeschrieben haben, auch wenn er - dem Stil der damaligen Zeit geschuldet - hin und wieder einen imaginären "Leser" apostrophiert. Nachdem er ein Alter erreichte, in dem er aktiv keine (Liebes-)Abenteuer mehr bestreiten konnte, verschaffte ihm die Erinnerung an seine zahlreichen Eroberungen und Erlebnisse eine supplementäre Wonne, auch um ihn über den oft garstigen Alltag auf Schloss Dux hinwegzutrösten, der von Streitigkeiten mit dem Dienstpersonal geprägt war. Mag sein, dass Casanova deshalb kompensatorisch einiges beschönigte, wie ja die Erinnerung überhaupt eine Schönfärberin ist.

1. Buch: behandelt die Kindheit und Ausbildung Casanovas zum Priester und Doktor beider Rechte, die ihn von seiner Geburtsstadt Venedig über Padua bis nach Rom führte, wo die Aussichten auf eine glänzende Karriere bald durch die unglückliche Verstrickung in einer Entführungsaffäre zunichte gemacht wurden, was zugleich den Beginn für Casanovas künftig unsteten Lebenswandel markierte. Der spätere Lebemann kommt als äusserst lebensschwaches Knäblein auf die Welt, so dass man schon um seinen frühen Tod fürchtet. Doch eine Hokuspokus-Behandlung bei einer "Fee" bzw. Zauberin, die das Kind in eine Kiste steckt und symbolisch zum zweiten Mal die Geburt durchleiden lässt, verschafft ihm tatsächlich ein zweites Leben. In der Folge entwickelt sich der Knabe prächtig und überdies einen grossen Appetit, der bereits auf seine unersättliche sexuelle Appetenz vorausweist: "Aber gerade die Gesundheit machte den Hunger um so quälender; er wurde zur Fresssucht." Häufig werden in Casanovas Memoiren die sexuellen Eskapaden von gediegenen Diners flankiert und die lukullischen Genüsse zu Tisch als Vorspiel zu den Sinnesfreuden im Bett gewertet. Den "ersten Funken jener Leidenschaft" (I,97), allerdings noch vergleichsweise keusch, entfachte ein 13jähriges Mädchen namens Bettina, die Schwester des Priesters Doktor Gozzi, bei dem der junge Casanova in Padua in Pension war, um sich für das Theologiestudium vorzubereiten. Er wird sofort zum Lieblingsschüler des Doktors und beeindruckt durch seine rasche Auffassungsgabe und Lernfähigkeit. Mit 16 Jahren erhält Casanova die niederen Weihen und verlässt Padua, ohne mit Bettina wirklich intim gewesen zu sein, was er rückblickend bereut, weil sie danach einem "Strolch" (I,136) in die Hände geraten ist. Dasselbe geschieht auch mit Lucia, auch da bereut Casanova seine "dumme Zurückhaltung", dass er sie "unberührt gelassen" habe (I,194). Künftig will er keine Frau mehr aus falscher Rücksicht schonen, damit sie - so seine heroische Rechtfertigung - nicht "dem ersten besten Lüstling zum Opfer falle" (I,160). Tatsächlich wird sein Leben bald reich an erotischen Abenteuern, selbst als angehender Prediger treibt er es bunt und vernascht zum Beispiel zuerst nacheinander, dann miteinander die Schwestern Angela, Martina und Nanetta. Als er das Angebot erhält, Sekretär des Bischofs von Martirano zu werden, macht er sich auf den Weg nach Kalabrien, unterwegs teilweise in Begleitung des liederlichen Bruders Stefano, der "nur Mönch geworden war, um ohne körperliche Anstrengungen zu leben" (I,269). Angekommen in Martirano erkennt Casanova schlagartig, dass er in diesem Bistum versauern und "binnen weniger Monate als Märtyrer in diesem Ort" sterben würde (I,290). Mit dem bischöflichen Segen zieht er weiter nach Rom, wo er in die Dienste des Kardinals Acquaviva tritt. Auf dem Weg macht er eine Reisebekanntschaft, die sein erotisches Doppelleben in Rom bestimmen wird: Donna Lucrezia, die Frau eines römischen Advokaten, den er nicht nur mit ihr, sondern sogar in Anwesenheiten ihrer Schwester Angelica betrügt, die einmal auch in den Genuss von Casanovas Liebeskünsten kommt: "Lucrezia, erstaunt und hingerissen vor Freude, küsste uns abwechselnd und sah entzückt, wie ihre Schwester verging, und ebenso begeistert, dass ich standhielt." (I,344) So lernt der junge Bursche fortlaufend die venerischen Freuden kennen und schätzen, wobei er stets betont, dass er sie nur in Verbindung mit "Liebe" richtig geniessen kann, wobei hier zu fragen wäre, was Casanova unter 'Liebe' genau versteht. Denn kaum gefällt ihm eine Frau, ist er auch schon in sie verliebt, so dass Liebe in diesem Kontext wohl eher als starkes Begehren verstanden werden muss. Schliesslich taxiert Casanova die Frauen nach ihrer Schönheit - und erst diese weckt sein Begehren oder seine "Liebe", wie er es nennt. In diesem Zusammenhang führt Casanova ein literarisch interessanter Vergleich an, der nicht nur sein wenig platonisches Verständnis von Liebe offenbart, sondern die optische Attraktivität eigens hervorhebt: "Am Beginn der Liebe steht [...] eine Neugier, die zusammen mit dem Trieb, den uns die Natur zu ihrer Erhaltung verleihen muss, alles vollbringt. Die Frau ist wie ein Buch, von dem, ob gut oder schlecht, zunächst die Titelseite gefallen muss; bietet sie keinen Anreiz, so erweckt sie auch nicht die Lust zum Lesen, und diese Lust ist nur so stark wie das Interesse, das sie uns einflösst." (I,244) 

2. Buch: behandelt Casanovas Flegeljahre, nachdem er Rom verlassen musste. Er heuert in seiner Heimatstadt Venedig als Soldat an und lässt sich nach Korfu einschiffen. Ein Abstecher nach Konstantinopel verschafft ihm die Bekanntschaft mit Jussuf Ali, einem türkischen Pascha, mit dem er ausführliche Gespräche über Kultur und Religion führt und der sich so begeistert von dem jungen Mann zeigt, dass er ihm seine Tochter zum Heiraten andrehen will. Doch Casanova kehrt unverrichteter Dinge zurück nach Korfu, von wo er aber aufgrund einer Schlägerei gleich wieder fliehen muss und sich allein mit einem Boot auf die Insel Casopo begibt und sich im Stall eines Priesters verschanzt. Die Bauern besticht er mit Geld und vergnügt sich derweil mit deren Frauen. Durch einen Unterhändler, der ihm verspricht, dass er ungeschoren davonkommt, wird Casanova schliesslich wieder nach Korfu geholt, wo sich eine Liebschaft mit der Signora F. entwickelt, eine Amour fou, die Casanova sogar dazu verleitet, aus den Haaren seiner Geliebten Schokoladenplätzchen zu backen und dabei die Vorstellung geniesst, "dass ich etwas ass, was ein Teil von ihr war". Ein "schreckliches Missgeschick" beendet die Affäre jedoch vorzeigt und zwingt Casanova, Korfu zu verlassen. Er steckt sich bei der Prostituierten Melulla mit der Lues an - eine Geschlechtskrankheit, die sich Casanova im Verlauf seines Lebens noch einige Dutzend Mal zuziehen wird. Nach seiner Rückkehr nach Italien gibt Casanova das Soldatenleben auf und zieht als "ausgemachter Taugenichts" durch die Gegend, versucht sein Glück im Spiel, gelangt unerwartet rasch an Reichtum und lebt auf grossem Fuss, ja selbst bezeichnet er sich sogar als "jungen Leichtfuss" (2,254). Mit Christina lacht er sich eine junge Schönheit an und macht sie in sich verliebt, verspricht ihr ewige Treue und Heirat, um sie zum Beischlaf zu bewegen, doch schliesslich verkuppelt er sie mit einer anderen Partie, um seine über alles geschätzte Freiheit weiterhin geniessen zu können. Eine Masche, die Casanova auch später regelmässig anwenden wird, um sich als Gentleman aus solchen Liebesaffären zu ziehen. Neben solchen Heiratsschwindeleien übt sich Casanova auch sonst in der Kunst des höheren Betrugs, wenn er sich etwa als Geisterbeschwörer anbietet. Doch auch hier pocht er auf seine Rechtschaffenheit: Seine Motivation sei nicht, die Leute über den Tisch zu ziehen, sondern sie vor noch schlimmeren Betrügern zu bewahren (3,53).

3. Buch: behandelt Casanovas Aufenthalte in Paris, Dresden und Wien, wo er unter dem Namen Farussi - wie immer rasch - Zugang zur besseren Gesellschaft und in mondäne Kreise fand, bis hin zum Hof von König Ludwig XV., was ihm ein angenehmes Auskommen ermöglicht. Sein Charme öffnet ihm Türen und Herzen und sein nur mangelhaftes Französisch sorgt für allgemeine Heiterkeit und hie und da sogar für ein unfreiwilliges Bonmot. Der gesellschaftlichen  Vernetzung förderlich ist auch Casanovas Beitritt zum Freimaurer-Orden, der es ihm erlaubt, in jeder neuen Stadt quer durch die ständischen Ordnung rasch Bekanntschaften zu knüpfen. Bevor Casanova aber in Paris reüssiert, lernt er in Italien die Frau seines Lebens kennen: Henriette. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer. Zuerst begegnet er ihr in einem Gast in Begleitung eines alten ungarischen Offiziers, sie selbst steckt auch in einer Uniform. Ihre Vorgeschichte bleibt weitgehend im Dunkeln, es wird lediglich angedeutet, dass sie sich einer Zwangsheirat entzogen habe und deshalb mit Hilfe des Offiziers aus Rom geflohen sei. Casanova verliebt sich in Henriette, die sich, neu angekleidet, als Frau aus gutem Hause entpuppt, die nicht nur über beste Manieren verfügt, sondern auch über einen "aufgeschlossen Geist". So vermag sie Casanova über ihre Reize hinaus auch intellektuell in den Bann zu schlagen. Sie verbringen einige glückliche Wochen in Parma, bis Henriette die Vergangenheit einholt. Um ihrer Familie und ihrem Ehemann die Schande, sich selbst aber eine öffentliche Ächtung zu ersparen, entschliesst sie sich zu einer freiwilligen Verbannung, was zugleich aber die Trennung von Casanova bedeutet. Man mag sich nicht ausmalen, welchen Verlauf sein Leben ohne diesen Vorfall genommen hätte: Wäre er Henriette treu geblieben, wäre er häuslich geworden und nicht der rastlose Abenteurer, von dem seine Memoiren erzählen? Bevor sie sich trennen, ritzt Henriette mit einem Diamanten folgenden Satz in die Glasscheibe im Genfer Hotel A la Balance, den er Jahre später, als er Voltaire in Genf besucht, wieder entdecken wird: "Du wirst auch Henriette vergessen." (3,110). Will sie damit andeuten, dass Casanova sie früher oder später wie jede andere Frau auch verlassen hätte? Tatsächlich wird Casanova wenig später in Paris mit der Mademoiselle Vesian ein neues Verhältnis eingehen, von der er ebenso hingerissen ist. Ihr eröffnet er auch seine epikureische Lebensphilosophie des Glücks: "Der Philosoph erfährt es [das Glück] in jeder Lust, die er sich verschafft und von der er weiss, dass er sie sich durch eigenes Bemühen verschafft hat, und dadurch, dass er alle Vorurteile über Bord wirft." Nach dieser Maxime hat Casanova stets gehandelt: ein fortlaufender Lustgewinn ohne falsche Skrupel.

4. Buch: schildert hauptsächlich die Liebesgeschichte mit C.C. und M.M., die so unglaublich ist, dass sie fast einen geschlossenen Roman innerhalb der Memoiren ausmacht. Aus dem vorangehenden Buch ist bekannt, dass der Vater von C.C. die Heirat ablehnte und seine Tochter ins Kloster auf der Insel Murano steckte. Von dort aus pflegt sie, vermittelt über die Zugehfrau Laura, einen heimlichen Briefverkehr mit Casanova, der nach wie vor Gefühle für sie empfindet, erst recht als er erfährt, dass sie aufgrund des Blutverlustes wegen einer Fehlgeburt - die im Kloster natürlich verheimlicht werden muss - in Todesnähe schwebt. Er versorgt Laura mit Leintüchern, die sie in C.C.s Zelle schmuggelt, um die Blutung zu stoppen. Es gelingt und C.C. kommt wieder zu Kräften. Zur gleichen Zeit erhält Casanova jedoch ein anonymes Billett von einer anderen Nonne, die um ein Stelldichein bittet. Es versteht sich von selbst, dass Casanova dieses Angebot nicht ignorieren kann. Allerdings reflektiert der alternde Autor den Grundirrtum, dem Frauenhelden anheimfallen, dass sie stets davon ausgehen, jede neue Frau müsse noch besser und schöner sein als die vorherigen, obschon "das, was man nicht sieht, immer ungefähr das gleiche ist". Doch der Reiz des Unbekannten ist zu gross, als dass dieses Vernunftargument im Moment des Entflammens irgendeine Gültigkeit hätte. Die "Neugier" obsiegt. So auch in diesem Fall: Es stellt sich heraus, dass es sich bei der Nonne um die wunderschöne M.M. handelt, die den französischen Gesandten Kardinal de Bernis handelt, eine historisch verbürgte Figur. Dieser arrangiert heimliche Treffen mit M.M. in seiner Villa auf Murano und er zeigt sich auch einverstanden, dass M.M. dort auch Liebesnächte mit Casanova verbringt, unter der Bedingung, dass er als Voyeur in einer geheimen Kammer zuschauen darf. M.M. erweist sich als derselbe "freie Geist" wie Casanova. Sie liest Pierre Charon und andere häretische Schriften, kennt die Akademie der Damen ebenso wie den Aretino. Von ihm lassen sie sich zu diversen Stellungen inspirieren. Zum ersten Mal in den Memoiren wird der Geschlechtsakt ausführlicher geschildert, was mit der neuartigen Voyeursituation zusammenhängt. M.M. verrät Casanova, dass de Bernis ihre Liebesnächten in einer eigens dafür eingerichteten Kammer jeweils heimlich beobachtet habe. Casanova, davon keineswegs aus der Rolle gebracht, zeigt sich weiterhin umstandslos bereit, diese "Komödie" mitzuspielen, weshalb sie vom Autor auch ausgiebig in Szene gesetzt wird. In der Folge lernt Casanova de Bernis persönlich kennen und es kommt schliesslich zu einer Orgie, bei der auch C.C. teilnimmt, auf die de Bernis ein Auge geworfen hat. All das wird Casanova schliesslich zum Verhängnis: Sein Ruf als Libertin, sein Umgang mit fremden Botschaftern sowie seine Betrügereien beim Glückspiel führen schliesslich zu einer Anklage als "Feind der Republik", gefolgt von einer Internierung unter den notorischen "Bleidächern" des Dogenpalastes mit Gefängnissen, die dem besseren Teil der Gesellschaft vorbehalten sind. Der zweite Teil des fünften Buches schildert ausführlich und detailliert Casanovas spektakulären Ausbruchsversuch, der ihn im zweiten Anlauf dann tatsächlich gelingt. Eine Geschichte, die er fortan in epischer Breite zum Besten geben wird und die vor seinen Memoiren sogar separat veröffentlicht hat. In ganz Europa bewundert man Casanova für seine kühne Tat.

Nach dem spektakulären Ausbruch steht im 5. Buch Casanovas Flucht nach Frankreich, sein Aufenthalt in Paris und in Holland im Zentrum. (Dort, in Den Haag, begegnet Casanova übrigens seiner Geliebten aus früheren Tagen wieder, der Schauspielerin Teresa, die ihm überraschend die gemeinsame Tochter Sophie vorstellt.) Casanova glaubt sich durch die Erfahrung seiner Inhaftierung zwar geläutert, doch setzt er sein Hochstapler-Leben ungeniert fort, um sich möglichst rasch in der besseren Pariser Gesellschaft zu etablieren. Sei es als kabbalistisches Orakel, in diplomatischer Mission oder bei seinen erotischen Abenteuern, stets prätentiert er mehr oder anderes, als was er eigentlich zu bieten hat. Und nicht selten steht das Glück oder der Zufall auf seiner Seite. Der Gipfel der Frechheit erlangt er wohl, als er der schwangeren Mademoiselle XCV zur Abtreibung den sogenannten "Aroph" von Paracelsus als "galantes Heilmittel" empfiehlt, das nur vermischt mit dem männlichen Sperma auf dem Muttermund aufzutragen sei. So erschleicht sich Casanova den erhofften Koitus, was Mademoiselle freilich nicht verborgen blieb, als sie bemerkte, diese Behandlung führe eher zu einer "Überbefruchtung" als zu einem "Abortus". An Dreistigkeit überbietet das nur Casanovas Kumpane Tiretta, der die Madame XXX im Publikum während einer öffentlichen Hinrichtung von hinten penetriert. Neben solchen Eskapaden zieht Casanova seinen Genuss daraus, sich mit kühnen Behauptungen wichtig zu machen oder Leichtgläubige zu übertölpeln. Oft kommt Casanova seine psychologische Menschenkenntnis dabei zu Gute. Andererseits bietet Paris, "wo man alles nach dem äusseren Schein beurteilt", auch ein ideales Pflaster für Betrüger jeglicher Couleur. Mit dem Grafen Saint-Germain trifft er in Paris tatsächlich auch auf einen anderen Hochstapler, dem er gelegentlich am Mittagstisch der alchemistisch veranlagten Madame d'Urfés (die Casanova ebenfalls hinters Licht führt) begegnet, wo er anstatt zu Essen seine Aufschneidereien zum Besten gibt. Casanova hält nicht besonders viel von den "Prahlereien" des "verführerischen Schwindlers", er ist ihm - da im Grunde seelenverwandt - aber auch nicht unsympathisch. Ganz im Unterschied zu Jean-Jacques Rousseau, dem er ebenfalls einen Besuch abstattet, ihn allerdings als "Grobian" und "Sonderling" wahrnimmt.

Das 6. Buch behandelt mehrheitlich Casanovas Aufenthalt in der Schweiz, der unter keinem glücklichen Stern stand: "was mir seit Ankunft in der Schweiz widerfahren ist, war missglückt". Dabei reflektiert Casanova durchaus selbstkritisch, dass er weitgehend selbst Schuld an seinem Unglück sei, weil er sich - die Inhaftierung unter den Bleidächern in Venedig war keine bleibende Lehre - sich immer wieder in Liebeshändel und Glückspiele verstrickt. So steht zu Beginn seines Aufenthaltes zunächst der Wunsch im Raum, ein Mönch zu werden, nachdem er das Klosterleben in Einsiedeln kennenlernte und sich ein ähnlich friedvolles Dasein erhofft. Er legt daher, mehr Mittel zum Zweck, eine halbherzige Beichte "im Stil eines reuigen Sünders" ab, um sich den Weg ins Klosters zu ebnen, als ihn der Anblick einer Frau im "Amazonenkostüm" bereits wieder den Kopf verdreht und ihn von seinem Vorhaben abbringt. Er setzt fortan alles daran, mit dieser Amazone, einer verheirateten Madame de ..., eine Affäre einzugehen. Er folgt ihr von Zürich nach Baden, freundet sich mit ihrem Gatten an und bezieht unter dem Vorwand einer Kur ein Landhaus, um dort alles für sein Liebesabenteuer einzurichten. Doch es stellen sich ihm zwei Hindernisse in den Weg: eine überaus attraktive und liebreizende Haushälterin namens Dubois, mit der Casanova später nach Bern durchbrennen wird, sowie eine weitaus weniger attraktive Madame F., die sich an Casanova rächen will, weil sie sich von ihm zurückgesetzt fühlt. Als alles bereit für das Schäferstündchen mit Madame de ... ist, schleicht sich Madame F. heimlich in das Gemach und überrascht Casanova im Dunkeln. Er denkt, es handle sich um seine Geliebte, und verbringt zwei selige Stunden mit der alten Vettel, diesem "der Hölle entsprungenen Scheusal". Sie droht tags darauf nicht nur, Madame de ... öffentlich zu entehren, sondern lässt Casanova wissen, dass sie ihm einen Tripper angehängt habe. Doch mit Hilfe seiner Haushälterin gelingt ihm eine Gegenintrige, um die böse Absicht der Madame F. abzuwenden. Aus der Affäre wird unter diesen Umständen freilich nichts mehr, weshalb Casanova mit Haushälterin Dubois gegen Bern weiterzieht, um sich dort mit ihr in der Matte zu Vergnügen. Einmal mehr verliebt sich der mittlerweile 35jährige Schwerenöter auch in diese Frau, verbringt mit ihr eine vergnügliche Zeit mit allerlei Liebes- und Treueschwüren, nur um sie dann an einem älteren Herr, der sie heiraten und für ihren Lebensunterhalt sorgen wird, abzutreten und die eigene Unabhängigkeit, die Casanova stets über alles stellt, zu bewahren. Auf seinem weiteren Weg durch die Schweiz besucht Casanova den Universalgelehrten Albrecht von Haller in Basel und seinen "Lehrmeister" Voltaire in Genf, wo dieser seit 1755 in seinem Anwesen Les Délices residierte. Von beiden zeichnet er ein äusserst einnehmendes Bild, wenngleich die beiden Geistesgrössen voneinander eher weniger hielten. Haller wird mit dem Ausspruch zitiert, Voltaire "hätten verschiedene Leute entgegen den Gesetzen der Physik aus der Ferne für grösser gehalten als aus der Nähe". Ein Denkzwerg also. Voltaire hingegen gibt, als er hört, Haller urteile weniger gut über ihn als umgekehrt, eine Probe seines berühmten Spottes gibt: "Nun ja, es ist sehr gut möglich, dass wir uns beide täuschen." Die ausführlich widergegebenen Gespräche verlaufen in diesem heiteren Ton und Casanova gelingt es weitgehend, Voltaire von der italienischen Dichtungen, insbesondere Ariost, zu überzeugen, ja ihn sogar zu Tränen zu rühren. Einziger Differenzpunkt bleiben die politischen Ansichten. Hier erweist sich erneut Casanovas demokratiefeindliche Einstellung, wenn er dem Philosophen als einzigen Fehler seine Menschenliebe zum Vorwurf macht. Selber stellt er sich auf den Standpunkt: "Das Volk kann nur glücklich sein, wenn es niedergehalten, getreten und an die Ketten gelegt wird." Ausgleich vom Disputieren findet Casanova in der Orgie mit drei jungen Mädchen, die ihm, wie er kavalierhaft vermerkt, "nach Mitternacht zu einem Erguss verhelfen, den ich wirklich nötig hatte". Doch bereits am nächsten Ort jenseits der Schweizer Grenze, in Aix-en-Provence, wartet eine neue Verlockung auf ihn: in Gestalt einer Nonne, die er aufgrund einer verblüffenden Ähnlichkeit zunächst für M.M. hält - und die, wie sich herausstellt, unglaublicher Weise auch so heisst, doch nicht mit ihr identisch ist. Sie weilt in einem Bauernhaus, um dort heimlich zu entbinden. Casanova entflammt selbstredend für die Doppelgängerin und versucht durch Fürsorge und Zärtlichkeit ihr Herz zu gewinnen, auch indem er sie in seine frühere Liebschaft zu M.M. einweiht und dabei keine Eskapade auslässt. Doch vorerst zeigt sich die Nonne, die allein schon aufgrund ihrer ungewollten Schwangerschaft eine Exkommunikation befürchtet, standhaft und keusch.