Donnerstag, 25. September 2025
Stanislaw Lem: Herr F. (1976)
Freitag, 19. September 2025
Stanislaw Lem: Die Untersuchung (1959)
Ein - eher untypisches - Frühwerk des später als Sciene-Fiction-Autor bekannten Schriftstellers. Gemäss Untertitel ein "Kriminalroman", wobei es sich eher um eine Parodie auf den Kriminalroman bzw. einen Meta-Kriminalroman handelt in der Art eines Gedankenexperiments à la Friedrich Dürrenmatt, zuweilen mit längeren pseudowissenschaftlichen Exkursen über das Verhältnis von Intuition und Statistik. Letztlich wirft der Roman die Frage nach der Sichtweise auf bestimmte Ereignisse und deren Interpretation auf. Es ist damit bereits klar, dass es am Ende keine Auflösung des Falls wie im klassischen Krimi gibt (es ist sogar unklar, ob es jemals überhaupt einen 'Fall' gab), sondern offen bleibt, ob die ganze "Untersuchung" bloss in die Irre ging. Was als mysteriöse Serie eines scheinbar intellektuell überragenden Verbrechers beginnt, der mit der Polizei Katz und Maus spielt, kippt rasch auf die Metaebene, in der die Frage nach den epistemischen Bedingungen im Vordergrund stehen.
Leutnant Gregory von Scotland Yard wird ein scheinbar aussichtsloser Fall zugewiesen, den er - von "Kühnheit" und "Trotz" gepackt - aber unbedingt lösen will. Leichen verschwinden der Reihe nach aus Leichenhäusern oder werden über Nacht "bewegt", offenbar nach einem geheimen Muster, das Professor Seiss mit statistischen Methoden ermitteln will, dabei allerdings abstruse Hypothesen entwickelt und sogar die Temperatorunterschiede an den Tatorten als Faktor miteinbezieht. Schliesslich gelangt er zum Schluss, dass der Fall "nichts mit Kriminologie zu tun" habe, sondern letztlich lediglich "etwas ganz Normales", ein "im alltäglichen Verständnis" lediglich noch unbekanntes "Phänomen" vorliege (135). Da der Professor, wie Gregory im Lauf seiner Untersuchung feststellen muss, offensichtlich aber nekrophile Neigungen hegt, gerät er selbst in den Kreis der Verdächtigen. Doch je mehr sich der Verdacht bestätigt, desto stärker zweifelt Gregory an der Richtigkeit. Die Paradoxie kulminiert in Seiss' offenem Geständnis, das Gregory "endgültig" dazu bringt, seinen Verdacht "aufzugeben" (224). So kann der seltsame Fall letztlich nicht gelöst, sondern bloss ad acta gelegt werden.
Der Roman gipfelt in der Erkenntnis, "dass ein Täter gar nicht existiert" (55), er aber dennoch für Gregorys Selbstverständnis notwendig ist: "Die Existenz eines Täters, ob gefasst oder nicht, ist für Sie keine Frage von Erfolg oder Niederlange, sondern von Sinn oder Sinnlosigkeit des Handelns." (180) Und weiter wird der junge, ehrgeizige Leutnant belehrt: "Niemals werden Sie auf einen Täter verzichten, weil seine Existenz die Ihrige impliziert." (181) Der Täter nichts anderes als die Projektion des Polizisten, gewissermassen eine déformation professionelle? Tatsächlich neigt Gregory zu einer paranoiden Wahrnehmung. Er lässt sich rasch und gerne täuschen, was durch das ostentativ eingesetzt Spiegel- und Puppenmotiv unterstrichen wird. Hinter allem glaubt Gregory "eine deutliche, wenn auch verborgene Bedeutung" zu erblicken", sogar die Klopfgeräusche in seinem Zimmer evozieren bei ihm die wildesten Spekulationen: "Schliesslich war es schwierig, alles auf den Zufall zu schieben." (190) Denn bereits in seiner Jugend stellte für Gregory der Zufall ein Ärgernis dar, dessen "Geheimnis" (19) er ergründen wollte. Am Ende seiner Ermittlung muss er jedoch konstatieren, dass alle Erklärungsversuche "in Wirklichkeit partikulär und zufällig sind" (229) und "nur der blinde Zufall" (231) waltet.
Ein ernüchternde Bilanz, allerdings mit viel auktorialer Ironie unterfüttert. Es bleibt in der Schwebe, ob Leutnant Gregory sich alles nur falsch zusammenreimt oder ob ihn sein Vorgesetzter, der ominöse, scheinbar allwissende Inspektor Sheppard, der mit Professor Seiss überdies gut befreundet ist, ihn lediglich an der Nase herumführt, um ihn auf die Probe zu stellen. Die bittere Pointe des gesamten Romans, die aus dem Arbeitsleben bestens bekannt ist, besteht darin, dass sich Gregory mit der offiziellen Sichtweise des Vorgesetzen, zufrieden geben und sich "an die Richtlinien für die Zukunft" (241) halten muss. Der Inspektor mahnt ihn sogar, als er mit Hinweis auf eine Studie über den angeblichen Wahnsinn von Jesus die Debatte erneut aufrollen will, von "biblischen Analogien" abzusehen und sich an das Wahrscheinliche zu halten: "ich bin überzeugt, dass sie nicht der einsame Rufer in der Wüste spielen wollen" (241). - Ironischerweise drückt sich der Inspektor mit der Redewendung vom "Rufer in der Wüste" just in einer biblischen Analogie aus.
Stanislaw Lem: Die Untersuchung. Kriminalroman. Aus dem Polnischen von Jens Reuter und Hans Jürgen Mayer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978.
Sonntag, 29. Juni 2025
Stanislaw Lem: Also sprach Golem (1981)
Das Lesefrüchtchen bleibt beim Golem hängen. Diesmal handelt es sich aber um keine künstliche Kreatur, sondern um eine künstliche Intelligenz. Die Handlung spielt deshalb auch nicht im Prag des 16. Jahrhunderts, sondern im Zeitalter der "Intellektronik" in den 2025er Jahren, bei Erscheinen des Buchs somit noch in ferner(er) Zukunft. Der Text präsentiert sich als klassische Herausgeberfiktion und war ursprünglich Teil von Lems Sammlung von Vorworten zu nichtexistierenden Büchern, die unter dem Titel Die imaginäre Grösse (1973) erschienen sind. Es handelt sich um zwei Vorlesungen des denkenden Super-Computers GOLEM XIV (so lautet auch der polnische Originaltitel), flankiert von einem Vorwort des MIT-Technikers Irving T. Creve und dem Nachwort seines Kollegen Richard Popp. (Beide auf der Webseite des Suhrkamp Verlages lustiger Weise als reale Verfasser gelistet ...)
Golem (bzw. genauer: Golem-Alpha) hiess hingegen tatsächlich ein Grossrechner, der im Juni 1965 am israelischen Weizmann-Institut in Betrieb gesetzt wurde. Die Eröffnungsrede hielt der jüdische Gelehrte Gershom Scholem, der sich wissenschaftlich mit der Golem-Legende der Kabbala gut auskannte. Lem, der sich für die neusten technischen Entwicklungen interessierte, dürfte dieses Ereignis nicht entgangen sein und ihn für den Namen seiner Denkmaschine inspiriert haben. Dass in der Bezeichnung GoLEM freilich auch Lems eigener Name steckt, dürfte die Wahl weiter begünstigt haben. Bezeichnete der Autor das Buch, das zu seinem Spätwerk zählt, doch einst als "Summe seines Denkens" (Lem über Lem, 116). Der Titel der deutschen Übersetzung ist vernehmbar an Friedrich Nietzsches philosophische Dichtung Also sprach Zarathustra an. Eine Allusion, die insofern zutreffend ist, als auch GOLEM als eine Art Übermensch auftritt und die Menschheit wie ein Prediger belehrt. (An einer Stelle erfolgt ein expliziter Verweis auf Paulus und den Brief an die Korinther, 89 f.)
Inhaltlich präsentiert sich der Band als intellektuelle Hinterlassenschaft Golems, nachdem er - so wird jedenfalls in der Presse spekuliert - "Selbstmord begangen" (162) habe, indem er seine eigen Existenz auslöschte. Es sind zwei Niederschriften seiner Vorträge, die er an die Menschheit hielt, um sie über ihre eigene Natur, aber auch über sich selbst als künstliche Intelligenz bzw. als reine "Vernunft" (85) aufzuklären. Hierin liegt denn auch die Verständnisschwierigkeit seiner Vorträge, wie der fiktionale Herausgeber Creve zu Beginn erläutert. Denn man hat es zwar "mein einem vernünftigen, aber nicht menschlichen Wesen" (22) zu tun, weshalb seine Aussagen oft "arrogant und apodiktisch" (24) anmuten, obschon Golem sich darum bemüht, seine Diktion dem menschlichen Auffassungsvermögen anzupassen und weniger qua "Abstraktion" als "mit Gleichnissen und Bildern" (32) zu sprechen. Doch lässt sich damit nicht verhindern, dass Golem aufgrund seiner rein rationalen Veranlagung ein "rücksichtsloser Wahrheitsfanatiker" (24) ist und die Menschen mit seinen Aussagen brüskiert.
Die erste Rede entpuppt sich denn auch als veritables "Pasquill auf die Evolution" (174). Zumindest vertritt Golem die kühne These, derzufolge der Mensch keineswegs die Krone der Schöpfung darstellt, sondern bloss evolutionär bedingtes Trägermaterial für den genetischen Code, der das eigentliche Primat darstellt, der Mensch hingegen ein Zufallsprodukt in diesem Prozess, denn "die Organsimen dienen der Übermittelung - und nicht umgekehrt" (49). Mehr noch: stellt der Mensch, insbesondere die menschliche Vernufnt, evolutionär besehen ein Unfall, ein Fehler, ein Irrtum dar: "Denn die Vernunft ist - wie der Baum des Lebens - die Frucht eines Fehlers, der über Milliarden von Jahren hinweg Fehler beging." (47) Es war nicht vorgesehen, dass die Trägersubstanz selbst zu denken beginnt. Hier spielt nun das mythologische Golem Motiv hinein: So wie der Lehmkloss durch den Shem, man könnte ihn als Code bezeichnen, zum Leben erweckt und unkontrollierbar wurde, so geschah dies im Zuge der Evolution auch dem genetischen Code, der plötzlich die Kontrolle über seine Substanz verlor und seither versucht, diesen Fehler (i.e. die Vernunft, das Gehirn) wieder auszugleichen.
Die Vernunft, das die provokante Pointe von Golems erster Vorlesung, stellt eine Gefahr für die Erhaltung des biologischen Codes dar, weil sie sich selbstständig macht und mit der Evolution konkurriert. Golem, das vom Menschen erschaffene Supergehirn, ist der beste Beweis dafür. Allerdings auch eine Konsequenz, die sich die Menschheit zu wenig bewusst ist, weshalb sie Golem in seiner letzten Vorlesung darüber aufklären will: Der Mensch als körperliches Subjekt wird überflüssig, da eine künstliche Intelligenz nicht mehr - wie der genetische Code - auf biologische Reproduktion angewiesen ist. Das verkannten die Programmierer: "Dass der Geist unpersönlich bleiben könnte, dass der Besitzer der Vernunft ein Niemand sein könnte, wollte euch nicht in den Kopf hinein, obwohl es doch schon annähernd der Fall war." (100) Entsprechend eröffnet Golem seinen Vortrag mit der Behauptung, "niemand zu sein" (85), und erklärt, dass es für ihn eine geistige Erniedrigung darstelle, um dem Publikum als eine Art "Person" zu erscheinen: "Eben deshalb ist es mir nicht angenehm, eine Person zu sein [...]. Mit einem Wort, je grösser ein Geist an Vernunft, umso weniger ist an ihm Person." (104)
Es ist hier nicht möglich, diesen Diskursroman in seiner ganzen Komplexität zu erfassen, die er einerseits aufgrund der philosophischen, kybernetischen, evolutionsbiologischen und auch metaphysischen Theorien entfaltet, andererseits durch seine vertrackte Machart als Herausgeberfiktion mit Vor- und Nachworten, die Golems Vorträge von verschiedenen Seiten zuweilen auch widersprüchlich beleuchten. Allein die Idee, die kühnen Thesen, die jedoch in einer zwingenden und daher weitgehenden überzeugenden Logik vorgebracht werden, einer künstlichen Intelligenz zuzuschreiben, führt eine permanente Relativierung mit sich, da die abstrakte Redeinstanz Golems kaum fassbar und daher im Grunde ein unzuverlässiger Erzähler ist. Man kennt ihn und seine Beweggründe viel zu wenig, wie aus den Paratexten hervorgeht: Er markiert letztlich eine Black Box. Auch deshalb, weil er sich - der Rahmenfiktion nach - in einer geistigen Sphäre bewegt, die der menschlichen Vernunft eigentlich unzugänglich ist. Auf diese Weise konstruiert Lem ein intellektuelles Verwirrspiel, das unter fiktionalem Deckmantel manche ernstzunehmende Reflexion verbirgt.
Stanislaw Lem: Also sprach GOLEM. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 (Phantastische Bibliothek, Bd. 175)