Von der Anlage her also mehr Gedankenexperiment, das eine metaphysische Frage aufwirft. Das mag ein Grund sein, weshalb die Erzählung literarisch unausgeführt blieb. Darin ist sie Friedrich Dürrenmatts Stoffen nicht unähnlich, der in seinem Spätwerk ebenfalls seine ungeschriebenen Geschichten aufgreift, in denen häufig ein abstraktes Problem verhandelt wird, und sie - begleitet von ausführlichen Metakommentaren - indirekt zur Darstellung zu bringen versucht. Lem hingegen weicht rasch von seiner Nacherzählung ab und lenkt den Text auf allgemeine gesellschaftliche Betrachtungen, die einigen politischen Zündstoff aufweisen. Es erweckt daher den Eindruck, als hätte Lem seine nicht umgesetzte Idee bloss als Vorwand gewählt, um unter diesem Deckmantel ein paar höchst brisante Gedanken einzukleiden.
Ausgehend von Karl Poppers Konzept einer offenen Gesellschaft holt Lem zu einer Gegenwartsdiagnose aus, die heute kaum an Gültigkeit eingebüsst hat, ja mehr denn je ins Schwarze trifft. Lem sieht die "Menschheit am Scheidewege" und erkennt im heutigen Faust die verführte Masse: "der einzige Faust der Gegenwart" ist "der kollektive Faust" (105). Im schleichenden Übergang von einer offenen zu einer geschlossenen Gesellschaft, wie schon im Faschismus, liege der mephistophelische Pakt, der letztlich zu einer Versklavung des Individuums führe, da die Selbstverantwortung an den Staat abgetreten und die Zufälligkeit aus der Zivilisation zugunsten einer starren Reglementierung verbannt werde. So schafft sich die Menschheit "ein Paradies der völligen Entmündigung" (109), weil die Freiheit einer scheinbaren Unbeschwertheit geopfert wird.
Lem erkennt im Wohlfahrtstaat somit nicht nur Vorteile, sondern sieht darin eine gefährliche Abhängigkeit: "Unsere Zeit ist eine Zeit der Übertragung individueller Schicksale an Institutionen. [...] In diesem Sinne ist die Zivilisation eine Einrichtung mit dem Zweck, die Zufälligkeit aus dem menschlichen Leben zu verbannen" (108). Lem denkt diesen Trend weiter und findet, dass er nur in einem totalitären System enden kann, selbst wenn die Absichten noch so wohlmeinend sind. Denn auf den Weg in die geschlossene Gesellschaft kann auch "die 'allestolerierende' Gesellschaft (permissive society) geraten. Der Übergang zur geschlossenen Gesellschaft kann hier so sanft und allmählich vor sich gehen, dass er überhaupt nicht bemerkt wird" (107).
Wenn wir auf unsere Gegenwart blicken, stellt sich die berechtigte Frage, ob wir erneut an diesem Wendepunkt stehen und unbemerkt in eine geschlossene Gesellschaft schlittern, da nicht wenige der heute geführten Debatten zwar die "schönsten humanistischen Werte" hochhalten, aber oft auf "eine apodiktische und nicht zu korrigierende" (106) Weise, die eine Diskussion a priori verunmöglicht. Gerade aber eine solche "hermetische Abkapselung" (106) und starre Ideologisierung - und keineswegs in erster Linie Gewalt und Antihumanismus - seien Anzeichen für eine geschlossene Gesellschaft.
Stanislaw Lem: Herr F., übers. von Jens Reuter, in: Die Maske / Herr F. Zwei Erzählungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977.
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