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Sonntag, 17. November 2024

Dino Buzzati: Die Mauern der Stadt Anagoor. Erzählungen (1987)

Das Grauen nimmt kein Ende. Nachdem das Lesefrüchtchen zu Hanns Heinz Ewers und H.P. Lovecraft griff, zieht es nun Dino Buzzati aus dem Regal, der freilich eine ganz andere Art von Schauergeschichten verfasste, die weniger dem blanken Horror, sondern - wenn man so will - eher einem metaphysischen Gruseln verpflichtet sind. Meistens fungieren die Erzählung zwar ebenfalls nach dem Prinzip, dass etwas Unerklärliches oder Übersinnliches in den Alltag tritt und die Geschehnisse fortan schicksalhaft bestimmt, Buzzati im Unterschied zu Ewers und Lovecraft jedoch mehr an der psychologischen Seite solcher Phänomene interessiert ist, weshalb seine Erzählungen oft ins Allegorische und Parabelhafte driften. Die mitunter phantastischen Geschehnisse wollen sich als Gleichnisse verstanden wissen. Nicht völlig zu Unrecht ist der 1906 in Belluno bei St. Pellegrino geborene Autor und Journalist daher schon zum 'italienischen Kafka' erklärt worden.

Die Titelgeschichte des vorliegenden Bandes Die Mauern der Stadt Anagoor mit Erzählungen aus den 1940er und 1950er Jahren liesse etwa sich leicht als Variante von Kafkas Türhüter-Parabel begreifen. Ein namenloser Ich-Erzähler wird in der Sahara an einen Ort geführt, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist: eine mit hohen Mauern umgebene Stadt mitten in der Wüste. Dort lagern unzählige Menschen und warten bereits seit Jahren darauf, dass sich das Tor öffnet, um eingelassen zu werden. Dabei steht nicht einmal fest, ob die Stadt auch wirklich bewohnt ist. Es kursiert lediglich die Legende, dass einst ein "einziger Mensch", ein Pilger der sich zufällig vor den Toren aufhielt und nicht einmal wusste, dass es sich um die begehrte Stadt Anagoor handelt, Einlass erhielt. Das allein verschafft den Wartenden ein den Glauben einer "nahen Glückseligkeit". Dem Erzähler jedoch reisst nach 25 Jahren der Geduldsfaden und er bricht sein Lager ab, was von den anderen mit der Bemerkung quittiert wird: "Du verlangst zuviel vom Leben".

Die Anspielung auf Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" ist zu offensichtlich, auf deren Folie sich auch die Schlusspointe der Erzählung erschliesst: Der Mann vom Lande bei Kafka wurde erst bei seinem Tod eingelassen. Das Warten vor dem Tor ist ein existentielles Gleichnis. Auch sonst scheint Buzzati intertextuell eng mit einigen Klassikern der phantastischen Moderne verknüpft. Ein übermütiger Mensch präsentiert eine Art Bartleby-Figur, in Der Hund, der Gott gesehen hatte stirbt ein Eremit ausgestreckt wie Robert Walser im Schnee (der Text erschien allerdings zwei Jahre vor Walser Tod) und eine Erzählung trägt mit Der Mantel denselben Titel wie Gogols berühmte Novelle. Auch Jorge Luis Borges liesse sich als literarischer Anverwandter nennen, weisen seine dichten, paradoxen Kurzgeschichten doch etliche Parallelen mit Buzzatis Prosa auf. Ohne dass damit eine bewusste Bezugnahme auf die genannten Autoren behauptet werden soll, lässt sich Buzzatis Prosa motivgeschichtlich in diesem Kontext verorten, auch wenn sein Name im Vergleich weniger bekannt sein dürfte. Als Entdeckung lohnt sich Buzzati aber allemal.

Wie Borges geht auch Buzzati meist von einer abstraktem, metaphysischem Problem aus, das er zu einer parabolischen, gleichnishaften Erzählung ausgestaltet. So etwa in der Eingangserzählung Wenn es dunkelt. Ein erfolgreicher Mann in seinen besten Jahren wird auf dem Dachboden mit seinem kindlichen Alter Ego konfrontiert. Während er von seinem früheren Ich Bewunderung und Achtung vor seiner Lebensleistung erwartet, zeigt sich das Kind eher enttäuscht von seinem späteren Selbst. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, das Streben nach einem erfüllten Dasein, aber auch die sich wandelnde Selbstwahrnehmung im Laufe der Zeit wird hier in eine spannungsreiche Konstellation gebracht. Ebenfalls auf einem Dachboden spielt die mitunter längste Erzählung Die Bodenkammer. Hier taucht plötzlich eine Kiste mit Äpfeln auf, so verlockend, dass ein Maler nicht widerstehend kann und durch den Biss in den Apfel in ekstatische Rauschzustände gerät, die er fortan stets wieder aufsuchen will. Was folgt ist - unter dem Motiv des biblischen Sündenfalls - das drastische Gleichnis einer Sucht, die den Betroffenen selbstquälerisch zwischen auferlegten Verboten und permanenter Selbstüberlistung oszillieren lässt.

Das Einbrechen des Irrationalen oder Übersinnlichen in das Leben eines Menschen bildet ein wiederkehrendes Motiv bei Buzzati. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt er in einer präzisen, schnörkellosen Sprache die Psychogramme seiner Figuren. Das kann eine Kiste Äpfel sein, aber auch der Tod, eine unheilbare Krankheit wie Aussatz oder ein Tier wie ein gigantischer Igel oder - wie in der zweiten längeren Erzählung - ein herumstreunender Hund, von dem die gesamte Bevölkerung annimmt, es handle sich um den Vierbeiner des kürzlich verstorbenen Heiligen auf dem Hügel. Sie verfallen deshalb auf die fixe Idee, dass Gott höchstpersönlich sie durch dieses Tier observiere, weshalb sie in seiner Gegenwart ein gänzlich anderes Verhalten an den Tag legen und auf ihre heimlichen Sünden verzichten. Sie steigern sich sogar richtiggehend in einen Kult des Hundes hinein und verehren ihn wie ein Totemtier, bis sie auf das Grab des Heiligen pilgern und dort ein Hundeskelett erblicken, das ihnen schlagartig vor Augen führt, dass sie einem falschen Glauben aufgesessen sind: Das angebetete Tier war irgendein Strassenköter, der Hund des Heiligen ist längst mit seinem Herrn verschieden.

Der Band erschien in der "Reihe religiöser Erzählungen", weshalb die Herausgeberin Elisabeth Antkowak ihre Auswahl auf Texte stützte, in denen Fragen nach Gott und Tod, Gut und Böse, Gnade und Schicksal im Zentrum stehen. Im eigentlichen Sinne religiös können die Erzählungen dennoch nicht genannt werden, da sie einerseits keine spezifischen Glaubensinhalte transportieren, zum anderen auch in keinster Weise erbaulich sind, wie das die Herausgeberin gern suggerieren möchte, wenn sie insbesondere auf den Aspekt der Hoffnung abhebt. Doch sind die allermeisten Erzählungen alles andere als hoffnungsvoll, im Gegenteil enden sie oft auf die fatalste Weise, ohne Aussicht auf Trost, Rettung oder Umkehr. Der Verlauf jeder Erzählung steuert unerbittlich immer in Richtung Verdammnis zu. Wo die Herausgeberin da noch Hoffnungsschimmer aufblitzen sieht, bleibt ein Rätsel, heisst es an einer Stelle doch vielmehr unmissverständlich explizit: "Keine Hoffnung!" und "kein Heilmittel".

Der Mensch, so sehr er sich nach Transzendenz sehnt und sein Wunsch nach göttlicher Gnade zum Ausdruck kommt - bei Buzzati wird sie ihm fast durchwegs verwehrt. Sie sind von Anbeginn Verdammte, die sich ihrem Schicksal schliesslich widerstandslos ergeben. Alles andere wäre literarisch auch wenig erspriesslich. 

Mittwoch, 17. Juli 2024

Ferienlektüre

Das Lesefrüchtchen macht, was denn sonst, Leseferien. Anstelle von Strandliteratur und aktuellen Bestsellern deckt es sich mit einem Koffer voller Bücher ein, die schon lange herumstehen, Wandschränke und Regale verstopfen, um sie endlich los zu werden. Jetzt oder nie. Die Devise ist, alle Bücher in den Ferien wenigstens an- und wenn sie etwas taugen sogar auszulesen. Auf alle Fälle werden sie am Urlaubsort zurückgelassen für andere Lesefreudige oder die nächste Putzequipe, die sie ins Altpapier befördert. Denn um Altpapier handelt es sich bei den in die Jahre gekommen, stark abgenutzten, zerfledderten, irgendwo auf einem Flohmarkt oder bei einem Billighändler erworbenen Schmöker durchaus. Klassisches Lesefutter also, das rasch konsumiert und noch schneller vergessen und entsorgt werden kann. Ein paar kleine Reminiszenzen seien hier gleichwohl festgehalten:

Jack London, der "amerikanische Balzac", ein Vielschreiber und früher bei vielen Jugendlichen bekannt für seine Abenteuerromane. Er setzte sich ein Pensum von mindestens 1500 Wörtern pro Tag und schuf innerhalb von 16 Jahren mehrere hundert Erzählungen und über 40 Bücher. Bevor Adam kam ist die Geschichte eines Mannes mit gespaltenem Bewusstsein. Am Tag lebt er als moderner Mensch, nachts kehrt er im Traum in das prähistorische Dasein seiner tierischen Urahnen zurück. Diese "Traumpersönlichkeit" entwickelte der Ich-Erzähler schon früh als Kind, als er von wilden Tieren träumte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Erklärt wird diese "Halb-Bewusstseins-Spaltung" durch eine "Anomalie". Der Protagonist präsentiert sich als "Wesen mit abnormen Erbgut", das heisst, seine "rassischen Erinnerungen" an die Urzeit sind bei ihm viel ausgeprägter als bei anderen Menschen. So durchlebt er im Traum nochmals die Abenteuer seines früheren Affen-Ichs namens Langzahn, zusammen mit seinem Freund Schlapport und der Flinken, mit der er später den Nachwuchs zeugen wird. Sie zählen zu einer schon etwas weiterentwickelten Spezies im Unterschied zum furchteinflössenden "Rotauge", ein wilder Uraffe, der als reiner "Atavismus" geschildert wird. Auf der anderen Seite existieren bereits Feuermenschen, die ihnen technisch überlegen sind.

Eine Zeitreise nicht im Traum, sondern mit einer Maschine erzählt H.G. Wells in seinem SF-Klassiker Die Zeitmaschine. Die Reise führt auch nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Ein namenloser Zeitreisender schildert einer Abendgesellschaft, nachdem er ein Modell seiner Zeitmaschine demonstrierte, seine Erlebnisse in der Zukunft. Und die sind alles andere als ermutigend. Er gelangt zwar in ein goldenes Zeitalter, in dem alle sozialen Probleme beseitigt sind und keine Gefahren mehr drohen und alle Menschen in Glückseligkeit leben - die allerdings um den Preis vollkommener Antriebslosigkeit. Die Eloi, das Volk, das er antrifft, befindet sich bereit auf einer degenerierten Stufe der Menschheit. Die ätherischen Wesen, die stets fröhlich, aber unbedarft sind, besitzen keine Kultur und keine Individualität; die herdenartige Schar von Menschen vegetiert mehr oder weniger nur vor sich hin. Daneben gibt es die bedrohlichen Morlocken, glitsche molchartige Wesen mit Glupschaugen, die unter der Erde leben. Zunächst vermutet der Zeitreisende, es handle sich um Untermenschen, die von den Eloi versklavt im Untergrund arbeiten müssen. Doch wie er bald feststellen muss, ist gerade das Gegenteil der Fall: Die Morlocken halten sich die naiven Eloi quasi als menschliches Mastvieh, das sie in regelmässigen Origen genüsslich verspeisen. Keine besonders verlockende Zukunftsvision. Doch es kommt noch schlimmer. Nachdem sich der Zeitreisende aus den Fängen der Morlocken befreien und auch die von ihnen beschlagnahmte Maschine zurückerobern kann, reist er weiter in die Zukunft, wo ein Schreckensszenario, das nächste ablöst: zunächst ist die Welt nur noch mit Monsterkrebsen bevölkert, danach folgt eine Eiszeit und schliesslich herrscht nur noch eine beklemmende Stille, weil alles Leben ausgelöscht ist. 

Und noch eine Zeitreise: Das Fenster zum Sommer von Hannelore Valencak, 1967 ursprünglich unter dem Titel Zuflucht hinter der Zeit erschienen. Der Titel, so dachte das Lesefrüchtchen, sei ideal für die eine Sommerferienlektüre. Doch weit gefehlt, denn es verhält sich gerade anders. Die icherzählende Protagonistin, die eigentlich mit ihrem jungvermählten Mann in die Sommerferien nach Camargue fahren will, wider Erwarten aber nicht an einem Julimorgen in seinen Armen aufwacht, sondern ein knappes halbes Jahr früher, mitten im Winter, in der Wohnung ihrer Tanta Priska, die sie seit dem siebten Lebensjahr grossgezogen hatte, weil die leibliche Mutter nach ihrer Scheidung nach Kanada auszog und ihr Kind zurückliess. Seither befand sich Ursula, so heisst die Protagonistin, in einem Interimszustand, in einer Warteposition, die sie am richtigen Leben hindert: "sehr selten hatte ich den Mut zu fühlen: Ich bin da. Ich bind auf der Welt. Viel öfter sagte ich mir: Das ist jemand anderer, der das erlebt. Meine Stunde ist noch nicht da. Ich muss warten lernen. Und manchmal erschrak ich, wenn etwas in mir sagte: Da kannst du lange warten. Deine Zeit kommt nie." Doch dann geschieht das (Un-)Erwartete und ihr Leben, springt "in ein neues Geleise". Die Metapher ist gut gewählt, denn der Moment ereignet sich in der Strassenbahn, als sie mit einem Mann (Joachim) zusammenstösst. Sie verlieben sich Hals über Kopf, heiraten rasch, kaufen sich gleich darauf ein Haus und sind glücklich. Doch dann wird Ursula nolens volens in die Vergangenheit zurückkatapultiert und auf eine harte Probe gestellt. Vorbei der schöne Traum. Sie ist wieder Single. Natürlich will sie den "Rückweg zu Joachim" finden, der zeitlich besehen eher ein Vorwärtsweg ist, weil die Begegnung mit ihm noch in der Zukunft liegt. Sie begibt sich in seine Nähe und macht sich bemerkbar, um ihn wieder für sich zu gewinnen. Doch sie entdeckt ihn bloss mit seiner bildhübschen Verlobten. Als Zeitreisende in die eigene Vergangenheit lernt Ursula ihr Umfeld mit anderen Augen zu betrachten. Vor allem realisiert sie, dass sie nicht in die Vergangenheit nicht beeinflussen darf, wenn sie die wieder gewünschte (alte) Zukunft münden soll. Sie lässt deshalb von ihren Manipulationsversuchen ab und wartet nur noch auf den Augenblick, in dem sich der zukünftige Zusammenstoss mit Joachim nochmals einstellen wird. Sie durchlebt alles zweimal und sie präkognitiv auch voraus, was jeweils geschehen wird, was sich aber als grosse Schwierigkeit herausstellt. Denn wie Joachim einmal zu ihr sagte: "Wir kennen vielleicht unsere Zukunft nicht, damit wir sie uns nicht selber verderben können." Buchstäblich in einem Wettlauf gegen die Zeit versucht Ursula die ihr bekannte Zukunft doch noch zu erreichen, doch die Strassenbahn, in dem sich der Zusammenstoss mit Joachim ereignen sollte, fährt ihr vor der Nase davon. Sie kann ihrem neuen Leben nur noch hinterhersehen und ihr altes wieder aufnehmen. Einige Zeit später erfährt sie allerdings, dass Joachim in der Nacht, als sie in die Vergangenheit zurückfiel, an einem Herzinfarkt gestorben ist. Ihr Sommer mit ihm, so folgert sie, "war irrtümlich in der Welt. Er war nichts als eine Möglichkeit unter vielen tausend anderen Möglichkeiten gewesen, und Joachim hat nie gewusst, dass er sie versäumt hat." Ursula erscheint nun das Schnippchen, das ihr die Zeit geschlagen hat, als Gnadenakt, da es ihr erlaubte, den Verlust von Joachim im Vorfeld zu verarbeiten, so dass sein Tod schliesslich keine Katastrophe mehr darstellt. Mehr noch lernte sie in dieser Zeit, als ihr die Zukunft quasi vorbestimmt schien, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Die Paradoxie von freiem Willen und Determination speilt der Roman so anschaulich durch. Wie H.G. Wells so versucht auch die Autorin, die eine studierte Physikerin ist, im Nachwort die Zeitreise mit Theorien über die vierte Dimension zu plausibilisieren.

Es ist Sonntag und Zeit für einen Krimi: Wie die Tiere von Wolf Haas, der mit seinem Ermittler Brenner ein Garant für gute und gewitzte Unterhaltung ist. Und interessant: der Roman beginnt just auch mit der Frage nach der Reversibilität der Zeit: "der Mensch kann nichts ungeschehen machen, das ist von seiner ganzen philosophischen dings her nicht möglich". Diesmal ist Brenner einem Hundemörder auf der der Spur, der im Wiener Augarten mit Nadeln versehene Hundekekse ausstreut. Beauftragt hat ihn der Zuhälter Schmalzel vom "White Dog", in dessen Etablissement Brenner auch residieren darf, in einer Wohnung, die er sich mit einer spanischen Prostituierten wie ein altes Ehepärchen teilt. Da Schamlzel beruflich umsatteln und sich ein neues Image zulegen will, engagiert er sich mit der Kampagne "Tierfamilie" fürs Gemeindewohl. Als dann ausgerechnet die attraktive Mitarbeiterin, die beim Unterschriftenfang jedem Mann den Kopf verdreht, von einem Argentino totgebissen wird, nimmt der Fall so richtig Fahrt auf. Brenner fürchtet jedoch, es könne ein "Frauenfall" werden, die "immer wahnsinnig kompliziert" sind im Vergleich zu Männerfällen. Dort gibt es schlicht "einen schönen Mord", jemand "drückt einmal ab und aus, und dann musst als Detektiv den Burschen eben finden". Und tatsächlich muss sich Brenner dann hauptsächlich mit Frauen und einer wildgewordenen Meute von "Kampfmüttern" herumschlagen, weil er sich unvorsichtig über den Wert von Ohrfeigen geäussert hat. Am Ende ist dann aber doch ein Mann der Bösewicht und es kommt zu einem spektakulären Showdown auf dem alten Flakturm im Augarten. Dem Täter wird vom Rotorblatt eines Helikopters der Kopf abgesäbelt und vom Föhn-Wind über die Dächer der Stadt getragen, bis er in einem Kinderbecken landet. Die ganze Groteske wird im typischen Brenner-Stil erzählt, was wesentlich zur Sprachkomik beiträgt, eine zugleich altkluge, wie jargonlastige Diktion im Secondo-Stil. Und musst du wissen: Es gibt den wohl längsten Cliffhänger der Krimigeschichte. Ein Witz relativ zu Beginn wird erst ganz am Ende aufgelöst.

Brenner wohnt im Rotlicht und auch der Roman Im Stein von Clemens Meyer spielt in diesem Milieu. Er bietet ein Panorama (oder vielmehr ein Purgatorium) der Prostitution in Ostdeutschland nach der Wende, multiperspektivisch erzählt aus der Sicht verschiedener Personen: Sexarbeiterinnen, Zuhälter, Polizisten etc. Von der Harz IV-Empfängerin über die junge Studentin bis zu schmierigen Paschas, die Zonen-Gabys ebenso wie die Ruhrpott-Uschis - alle wollen sie mit Sex das grosse Geld verdienen. Es gibt den Alten vom Berg, Arnold Kraushaar (als Jugendlicher mit "Schamhaar" verspottet), der Wohnungen für käuflichen Sex vermietet, und sein Konkurrent, genannt der "Graf" oder der "Bielefelder", obschon er gar nicht aus Bielefeld stammt, der in der "Burg" ein Edelpuff betreibt. Ein beeindruckend opulenter Roman, technisch gekonnt, doch leider mit dem kapitalen Fehler der Handlungsarmut. Der Roman will nicht so richtig in die Gänge kommen. Zwar passiert ein grausiger Mord: jemand wird mit abgesäbeltem Bein im Moor versenkt, doch insgesamt zerläuft sich der Roman in seiner Gedächtnisstrom-Architektur. Was im ersten Kapitel noch ambitioniert wirkt, ist auf die Länge nur noch redundant und ermüdet rasch. Als narratives Experiment ist die Gedankenflut zwar interessant, verspricht sie doch eine Innensicht ins deutsche Bewusstsein mit seiner Doppelmoral und eine zuweilen grelle Ausleuchtung von Tabuzonen. Literarisch bleibt es aber enttäuschend. Eine richtige Sozialreportage wäre wohl ergiebiger gewesen, ein echter Szenekrimi wiederum packender. An einer Stelle denkt sich ein Polizist, der für die Tatort-Serie im Fernsehen als Berater angefragt wurde, um die Filme realistischer zu gestalten: "Dann lieber die Dramen, die dramatischen Seifenopern, Schimmis Faust, Cognac und Zigaretten für Haferkamp." Diese Einsicht lässt sich mühelos auf den Roman selbst anwenden, der zu viel wollte und daran gescheitert ist. Ein Szeneapplaus gebührt dem Autor indes für das Kapitel über den Radiomoderator Ecki Edelkirsch, der von Sex-Kalauern nur so strotzt. Die beiden besten gehen aufs Konto von Goethe: "Wanderers Nach-Glied" und "der ewige alte Reinstecke Fuchs". Auch gut: "it's blowtime!". In eine ähnliche Richtung geht folgender Dialog: "Weisst du eigentlich, woher der Begriff Rotlicht kommt?" "Nein." "Im Mittelalter mussten die Frauen als Zeichen dieser Zunft rote Kappen tragen." "Rotkäppchen war also eine Hure?" - Deshalb wird im Roman symbolischer Weise auch pausenlos Rotkäppchen-Sekt getrunken.

Ein Buch, das das Lesefrüchtchen eher auch enttäuscht hat, obschon es den Autor besonders schätzt, ist Blaubarts letzte Liebe aus dem Nachlass von Hans Natonek. Manchmal erweist man Schriftstellern mit postumen Editionen einen Bärendienst. So auch hier. Der gebürtige Prager Autor flüchtete mit Hilfe von Varian Fry über Portugal ins Exil in den U.S.A. Auch Thomas Mann, den Natonek zusammen mit Walter Mehring und Ernst Weiss von Paris per Telegramm anschrieb, unterstützte die Einreise nach Amerika. Im Gepäck auf dem Flüchtlingsdampfer 'Manhattan' hatte Natonek eine alte Aktentasche dabei mit dem kaum mehr entzifferbaren Manuskript des Romans. Obschon es ein historischer Stoff ist, der die Geschichte der Freiheitskämpferin Jeanne d'Arc und dem als Kindermörder verrufenen Gilles de Rais mit vielen poetischen Lizenzen erzählt, lässt er sich doch als Allegorie auf die Schrecken des Faschismus lesen. Jeanne und Gilles, beide als Ketzer verurteilt, erscheinen als Opfer eines repressiven Regimes. In zentralen Stellen des Romans wird das Wesen des Bösen als Grundlage für Machtausübung reflektiert. Vom Ansatz her interessant, in der Ausführung aber doch zu dünn und für einen historischen Roman zu wenig plastisch.

Im Ferienhäuschen lagen einige Schmöker herum, was das Lesefrüchtchen als willkommene Gelegenheit auffasste, sich wieder einmal einen internationalen Beststeller zu Gemüte zu führen, den alle Welt kennt, bloss das Lesefrüchtchen nicht, und zwar Der Schatten des Windes von Carlos Ruiz Zafón. Die Story beginnt wie eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges: eine labyrinthische Bibliothek, ein vergessenes Buch, ein mysteriöser verschollener Autor, eine blinde Leserin und ein gesichtsloser Mann, der auf Bücherjagd geht. Alle Ingredienzen für eine bibliophile Abenteuergeschichte sind beisammen, nur leider schlittert der Roman immer mehr in ein klebriges Liebesmelodram. Der junge Daniel Sempere macht sich auf die Suche nach den biographischen Spuren des Autors Julián Carax, dessen einzig überliefertes Exemplar von Der Schatten des Windes er in der Bibliothek der vergessenen Bücher aufgestöbert hat, in die ihn sein Vater geführt hat. Mit dem Besitz des Buches beginnen jedoch die Probleme: Ein unheimlicher Mann ohne Gesicht und mit verbrannter Lederhaut will das Buch vernichten. Er scheint direkt aus dem Buch selbst entstiegen zu sein, in dem mit der teuflischen Gestalt von Laín Coubert eine nahezu identische Figur vorkommt. Doch weshalb ist er so erpicht darauf, das Buch zu zerstören? Und weshalb zieht das Buch den jungen Daniel dermassen in den Bann, obschon es sich um einen Schundroman handelt? Es beginnt eine Schnitzeljagd, auf der - Hinweis um Hinweis - das Schicksal von Carax rekonstruiert wird, der aus zunächst unerfindlichen Gründen von Barcelona fort nach Paris ging und dort als Dachstubenpoet in einem Pariser Bordell hauste, wo er sich als Pianospieler über Wasser hielt. Das Buch operiert mit einer simplen Rätseltechnik: Man liest zwei Drittel mit allerlei offenen Fragen und losen Enden, begegnet einer Vielzahl von Figuren aus der Vergangenheit des Dichters, um dann im letzten Drittel auf dem Serviertablett die nicht mehr allzu überraschen Auflösung zu erhalten - die vollständige Lebensgeschichte des ominösen Autors Julian Carax, die natürlich mit einer tragischen Liebesgeschichte verknüpft ist. Nach Jahren im Pariser Exil muss Carax erfahren, dass seine ewige Geliebte, auf die er stets sehnsüchtig gewartet hat, nicht nur tot ist, sondern auch ihr gemeinsames Kind, das bei der Geburt gestorben war und kurz darauf auch sie, weil der Vater, der gegen diese Verbindung war, sie verbluten liess. (Was Julián nie erfährt, nur die Leser: Er ist ein uneheliches Kind, aus einem Seitensprung des Vaters, und seine Geliebte eigentlich seine Stiefschwester.) Nach der schockartigen Erkenntnis vom Doppeltod von Frau und Kind will er nur noch seine Existenz auslöschen - und dazu gehören auch seine Bücher als Kinder des Geistes. Er brennt das Lager seines Verlags nieder, erleidet dabei Verbrennungen, die ihn für immer entstellen und verwandelt sich dabei in die Figur aus seinem Roman Der Schatten des Windes: in den diabolischen Laín Coubert. In dieser Gestalt vernichtet er weiterhin seine Bücher, stöbert sie auch in Privathaushalten und in Buchhandlungen auf und entwendet sie. Das letzte Exemplar bleibt jedoch im Besitz des jungen Daniel. Denn Carax erkennt in ihm sich selber wieder und will, dass Daniel jenes Leben mit einer glücklichen Liebe führen kann, das ihm versagt geblieben ist. Das Buch wartet also mit reichlich Pathos und einem sentimentalistischen Ende auf, das arg auf die Tränendüse drückt. Für reichlich Humor sorgt hingegen die skurrile Figur Fermín, ein Art Ritter von der hageren Gestalt, der Daniel bei seiner Spurensuche unterstützt und ihm zudem mit Liebesratschlägen zur Seite steht. Auch er besitzt eine düstere Vergangenheit als Geheimdienstmitarbeiter, der von den Franco-Schergen während des Spanischen Bürgerkriegs grausam gefoltert wurde. In Gestalt des korrupten Polizeiinspektors Fumero, der nicht nur Fermín, sondern auch Carax jagt und etliche Personen auf dem Gewissen hat, dringt diese Vergangenheit zuweilen mit äusserster Brutalität in das Geschehen der Gegenwart. Die Suche nach Carax bringt auch die Schrecken der Franco-Diktatur zum Vorschein. Dem Roman ist somit neben der Familientragödie und dem Liebesskanal auch eine politische Dimension eingeschrieben, die im Grunde aber etwas aufgesetzt wirkt, da der Roman auch ohne sie verlustfrei als Mystery-Thriller funktionieren würde.

Sonntag, 9. Mai 2021

C.K. Chesterton: Der Mann, der Donnerstag war (1908)

G.K. Chesterton war weitaus mehr als nur der Erfinder des behäbigen Ermittlerpriesters Pater Brown. Neben diesen berühmten Kriminalgeschichten verfasste er eine Fülle von weiteren Erzählungen, scharfsinnige und witzige Essay so wie eine Handvoll Romane, von denen The man who was Thursday (1908) am einflussreichsten war. Es ist eine Mischung aus Thriller und Nonsens, welche die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischt, und gilt deshalb als Vorläufer von alptraumhaften Visionen eines Kafka oder Borges. Im Untertitel wird der Roman auch als «A Nightmare» bezeichnet – in der deutschen Übersetzung als «eine Nachtmahr». Am Ende entpuppt sich tatsächlich alles als verrückter Traum, wobei es unklar ist, wann genau die Erzählung die Realitätsebene verlässt und in eine zusehends irrwitzige Phantasmagorie schlittert. Es gehört jedoch zur Raffinesse des Erzählers, dass die Ereignisse, so absurd sie auch anmuten, nie unglaubwürdig wirken.

Doch worum geht es: Im Zentrum steht der Dichter Gabriel Syme, der von einer Spezialeinheit der Polizei angeheuert wird, um sich in Anarchistenkreise einzuschleusen, was ihm auch gelingt. Unter dem Decknamen «Donnerstag» dringt er in den inneren Zirkel um den hünenhaften, ominösen «Sonntag» vor, der in ganz England Sprengstoffattentate mit Dynamit plant, die es zu vereiteln gilt. In ständiger Angst aufzufliegen, fühlt sich Syme von Anarchisten aus der Gruppe observiert. Es kommt zu Duellen und rasanten Verfolgungsjagden zu Fuss im Auto und im Ballon, die aber alle in der Pointe münden, dass jeder der vermeintlichen Anarchisten sich in Tat und Wahrheit als verdeckter Ermittler erweist. So stellt sich schliesslich die ganze Anarchistenbande als maskierte Gesetzeshüter heraus, die von der Person namens «Sonntag» rekrutiert worden war. Der Roman mündet schliesslich in einer allegorischen Szene, wo alle Polizisten als Personifikationen der Wochentage figurieren und sich zu einem Show-down versammeln – bis dann die Traumblase zerplatzt und der Protagonist Syme wieder erwacht.

Die faszinierendste Figur des Romans ist jedoch der rätselhafte Sonntag, der als eine Art Übermensch oder Gott geschildert wird: ein Riese, ein halbes Tier, der mit der mythologischen Gestalt des Pan verglichen wird und den Syme an die «kolossale Memnonmaske» im British Museum erinnert. Sonntag ist eine dämonisch-archaische Urgestalt, auch eine karnevaleske Figur im Sinne Bachtins, wenn er etwa seinen Verfolgern seine «unmessbare, unübersehbare Hinteransicht» präsentiert und sie mit Nonsens-Botschaften traktiert. Er ist eine irrationale Kraft, welche das Verständnis der Menschen übersteigt; er ist der Gott, der mit den Menschen spielt und darüber lacht. Kurz vor dem Aufwachen stellt er Syme die Frage: «Vermagst Du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?» Gemeint damit ist der ‘bittere Kelch’, der «Becher des Zorns», aus der Bibel als Symbol für ein schweres Schicksal, das es zu ertragen gilt. Der Mensch, so die Pointe von Chestertons «Nachtmahr», muss die Absurdität seines Daseins ertragen, auf die nicht einmal ein Gott eine Antwort weiss. Der Roman gibt sich so als eine umgekehrte Theodizee zu erkennen. Chesterton soll einmal gesagt haben: Die Welt sei «die beste aller unmöglichen Welten».

Montag, 20. April 2020

Machado de Assis: Der Irrenarzt (1881)


Der brasilianische Nationaldichter Machado de Assis hat über 170 (teilweise ganz kurze) Erzählungen geschrieben. Darunter gilt die längere Novelle Der Irrenarzt als ein besonderes Glanzstück. Sie handelt von Dr. Simão Bacamarte, einem Arzt und Wissenschaftler, der sich auf dem zerebralpathologischen „Gebiet der Psyche“ einen Namen machen will. Zu diesem Zweck lässt er in seinem Heimatstädtchen Itaguaí ein Irrenhaus (genannt das Grüne Haus) bauen, in dem er alle Wahnsinnigen internieren will, um sie zu studieren. Eine Idee, die bei den Einwohnern bloß Kopfschütteln hervorruft und sie an der mentalen Gesundheit des Arztes zweifeln lässt: «Schon der Einfall, die Geisteskranken alle zusammen in einem Haus unterbringen zu wollen, wurde als Anzeichen von Geistesgestörtheit angesehen». Diese schon früh in der Erzählung geäußerte Vermutung über den zweifelhaften Geisteszustandes des Irrenarztes ist dann tatsächlich die Pointe der ganzen Geschichte.

Doch bevor es zu dieser (Selbst-)Erkenntnis kommt, sperrt Bacamarte der Reihe nach alle Einwohner ins Grüne Haus, die bei ihm den Eindruck von Geistesgestörtheit hinterlassen. Und das sind nicht wenige. Denn die leitende Theorie des Arztes bestimmt die Vernunft als «das vollkommenste Gleichgewicht aller Fähigkeiten»; alles was dem widerspricht, deutet auf Wahnsinn hin. Nur die kleinste Inkonsequenz in der Handlung, die kleinste emotionale Laune reicht deshalb schon, die Betroffenen als wahnsinnig zu erklären und wegzusperren, bis am Ende «vier Fünftel der Bevölkerung» im Grünen Haus interniert ist, das deshalb auch ständig erweitert werden muss. Angesichts dieses Missverhältnisses gelangt der Arzt zu einer diametral anderen Einsicht: Geistig krank ist offenbar, wessen Geisteskräfte stets im Einklang sind, während es als völlig normal zu erachten ist, wenn «verschiedene geistige Fähigkeiten nicht vollkommen ausgeglichen sind».

Neu bevölkern das Irrenhaus, das mehr und mehr zu einer verkehrten Welt wird, folgende Klassen von Geisteskranken: die Bescheidenen, die Toleranten, die Großmütigen, die Scharfsinnigen und die Aufrichtigen – kurz alle, die sich durch eine vollkommenen seelische Ausgeglichenheit auszeichnen. Bacamarte bemüht sich jedoch ernsthaft, die Patienten zu kurieren, wobei die Therapie vorsieht, sie von ihren guten Eigenschaften zu befreien. Dem Bescheidenen wird die Eitelkeit entlockt, der Aufrichtige zum Lügen gebracht usw. usf., bis alle Insassen geheilt sind. Diese Leistung führt Bacamarte schließlich zur finalen Erkenntnis, «zu der allerletzten Wahrheit», dass es keine Geisteskranken in Itaguaí gebe, weil alle irgendeinen Fehler haben. Außer bei sich kann der Irrenarzt keinen Fehler, kein einziges Laster feststellen, was ihm von seinem Umfeld auch bestätigt wird und ihn schließlich zur konsequenten Einsicht führt, dass er offenbar selbst wahnsinnig sein muss.

Er begibt sich deshalb freiwillig ins Grüne Haus, als einziges Exemplum seiner Theorie. Was also alle geahnt haben, hat Bacamarte letztlich selber erkannt: Er ist kein Irrenarzt, sondern ein irrer Arzt. Seine Selbsterkenntnis ist jedoch trügerisch, denn sie kommt nicht durch eine vernünftige Diagnose, sondern durch eine verquere Theorie zustande, welche die geistige Ausgeglichenheit gerade zum Wahnsinn erklärt. Einerseits hält sich Bacamarte also für geistig völlig gesund, was für ihn aber ein pathologischer Zustand darstellt, weshalb er sich selbst ins Irrenhaus bringt, was für die geistig Gesunden nichts anderes als eine Wahnsinnstat erscheinen muss. So macht ihn eigentlich erst dieser von außen unverständliche Schritt, sein freiwilliger Eintritt ins Grüne Haus, offiziell zum Irren. Hier zeigt sich die subtile Konstruktion von Machados Erzählung, die mehrfach dreht und wendet, was als normal und was als verrückt zu gelten hat.

Typisch für Machado de Assis ist der nüchterne, fast spröde Stil, wie ihn später auch die Prosa von Jorge Luis Borges auszeichnet. Im Kontrast zur Absurdität der Geschichte schafft diese nüchterne Erzählhaltung eine gewisse Komik. Etwa wenn Bacamarte durchwegs als bedeutendster Arzt Brasiliens vorgestellt wird, obwohl ihn die Handlung fortlaufend als weltfremden Mad Scientist vorführt, der aufgrund seiner obsessiven Beschäftigung mit der Zerebralpathologie selbst wahnsinnig wird. Zwischen den Zeilen zeigt sich zudem eine trockene Ironie, die nicht ohne spöttischen Unterton auskommt: «Eine Perücke bedeckte den gewaltigen noblen Kahlkopf, den er in langjähriger wissenschaftlicher Denkarbeit erworben hatte.»