Montag, 20. April 2020

Machado de Assis: Der Irrenarzt (1881)


Der brasilianische Nationaldichter Machado de Assis hat über 170 (teilweise ganz kurze) Erzählungen geschrieben. Darunter gilt die längere Novelle Der Irrenarzt als ein besonderes Glanzstück. Sie handelt von Dr. Simão Bacamarte, einem Arzt und Wissenschaftler, der sich auf dem zerebralpathologischen „Gebiet der Psyche“ einen Namen machen will. Zu diesem Zweck lässt er in seinem Heimatstädtchen Itaguaí ein Irrenhaus (genannt das Grüne Haus) bauen, in dem er alle Wahnsinnigen internieren will, um sie zu studieren. Eine Idee, die bei den Einwohnern bloß Kopfschütteln hervorruft und sie an der mentalen Gesundheit des Arztes zweifeln lässt: «Schon der Einfall, die Geisteskranken alle zusammen in einem Haus unterbringen zu wollen, wurde als Anzeichen von Geistesgestörtheit angesehen». Diese schon früh in der Erzählung geäußerte Vermutung über den zweifelhaften Geisteszustandes des Irrenarztes ist dann tatsächlich die Pointe der ganzen Geschichte.

Doch bevor es zu dieser (Selbst-)Erkenntnis kommt, sperrt Bacamarte der Reihe nach alle Einwohner ins Grüne Haus, die bei ihm den Eindruck von Geistesgestörtheit hinterlassen. Und das sind nicht wenige. Denn die leitende Theorie des Arztes bestimmt die Vernunft als «das vollkommenste Gleichgewicht aller Fähigkeiten»; alles was dem widerspricht, deutet auf Wahnsinn hin. Nur die kleinste Inkonsequenz in der Handlung, die kleinste emotionale Laune reicht deshalb schon, die Betroffenen als wahnsinnig zu erklären und wegzusperren, bis am Ende «vier Fünftel der Bevölkerung» im Grünen Haus interniert ist, das deshalb auch ständig erweitert werden muss. Angesichts dieses Missverhältnisses gelangt der Arzt zu einer diametral anderen Einsicht: Geistig krank ist offenbar, wessen Geisteskräfte stets im Einklang sind, während es als völlig normal zu erachten ist, wenn «verschiedene geistige Fähigkeiten nicht vollkommen ausgeglichen sind».

Neu bevölkern das Irrenhaus, das mehr und mehr zu einer verkehrten Welt wird, folgende Klassen von Geisteskranken: die Bescheidenen, die Toleranten, die Großmütigen, die Scharfsinnigen und die Aufrichtigen – kurz alle, die sich durch eine vollkommenen seelische Ausgeglichenheit auszeichnen. Bacamarte bemüht sich jedoch ernsthaft, die Patienten zu kurieren, wobei die Therapie vorsieht, sie von ihren guten Eigenschaften zu befreien. Dem Bescheidenen wird die Eitelkeit entlockt, der Aufrichtige zum Lügen gebracht usw. usf., bis alle Insassen geheilt sind. Diese Leistung führt Bacamarte schließlich zur finalen Erkenntnis, «zu der allerletzten Wahrheit», dass es keine Geisteskranken in Itaguaí gebe, weil alle irgendeinen Fehler haben. Außer bei sich kann der Irrenarzt keinen Fehler, kein einziges Laster feststellen, was ihm von seinem Umfeld auch bestätigt wird und ihn schließlich zur konsequenten Einsicht führt, dass er offenbar selbst wahnsinnig sein muss.

Er begibt sich deshalb freiwillig ins Grüne Haus, als einziges Exemplum seiner Theorie. Was also alle geahnt haben, hat Bacamarte letztlich selber erkannt: Er ist kein Irrenarzt, sondern ein irrer Arzt. Seine Selbsterkenntnis ist jedoch trügerisch, denn sie kommt nicht durch eine vernünftige Diagnose, sondern durch eine verquere Theorie zustande, welche die geistige Ausgeglichenheit gerade zum Wahnsinn erklärt. Einerseits hält sich Bacamarte also für geistig völlig gesund, was für ihn aber ein pathologischer Zustand darstellt, weshalb er sich selbst ins Irrenhaus bringt, was für die geistig Gesunden nichts anderes als eine Wahnsinnstat erscheinen muss. So macht ihn eigentlich erst dieser von außen unverständliche Schritt, sein freiwilliger Eintritt ins Grüne Haus, offiziell zum Irren. Hier zeigt sich die subtile Konstruktion von Machados Erzählung, die mehrfach dreht und wendet, was als normal und was als verrückt zu gelten hat.

Typisch für Machado de Assis ist der nüchterne, fast spröde Stil, wie ihn später auch die Prosa von Jorge Luis Borges auszeichnet. Im Kontrast zur Absurdität der Geschichte schafft diese nüchterne Erzählhaltung eine gewisse Komik. Etwa wenn Bacamarte durchwegs als bedeutendster Arzt Brasiliens vorgestellt wird, obwohl ihn die Handlung fortlaufend als weltfremden Mad Scientist vorführt, der aufgrund seiner obsessiven Beschäftigung mit der Zerebralpathologie selbst wahnsinnig wird. Zwischen den Zeilen zeigt sich zudem eine trockene Ironie, die nicht ohne spöttischen Unterton auskommt: «Eine Perücke bedeckte den gewaltigen noblen Kahlkopf, den er in langjähriger wissenschaftlicher Denkarbeit erworben hatte.»

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