Das Lesefrüchtchen bleibt beim Golem hängen. Diesmal handelt es sich aber um keine künstliche Kreatur, sondern um eine künstliche Intelligenz. Die Handlung spielt deshalb auch nicht im Prag des 16. Jahrhunderts, sondern im Zeitalter der "Intellektronik" in den 2025er Jahren, bei Erscheinen des Buchs somit noch in ferner(er) Zukunft. Der Text präsentiert sich als klassische Herausgeberfiktion und war ursprünglich Teil von Lems Sammlung von Vorworten zu nichtexistierenden Büchern, die unter dem Titel Die imaginäre Grösse (1973) erschienen sind. Es handelt sich um zwei Vorlesungen des denkenden Super-Computers GOLEM XIV (so lautet auch der polnische Originaltitel), flankiert von einem Vorwort des MIT-Technikers Irving T. Creve und dem Nachwort seines Kollegen Richard Popp. (Beide auf der Webseite des Suhrkamp Verlages lustiger Weise als reale Verfasser gelistet ...)
Golem (bzw. genauer: Golem-Alpha) hiess hingegen tatsächlich ein Grossrechner, der im Juni 1965 am israelischen Weizmann-Institut in Betrieb gesetzt wurde. Die Eröffnungsrede hielt der jüdische Gelehrte Gershom Scholem, der sich wissenschaftlich mit der Golem-Legende der Kabbala gut auskannte. Lem, der sich für die neusten technischen Entwicklungen interessierte, dürfte dieses Ereignis nicht entgangen sein und ihn für den Namen seiner Denkmaschine inspiriert haben. Dass in der Bezeichnung GoLEM freilich auch Lems eigener Name steckt, dürfte die Wahl weiter begünstigt haben. Bezeichnete der Autor das Buch, das zu seinem Spätwerk zählt, doch einst als "Summe seines Denkens" (Lem über Lem, 116). Der Titel der deutschen Übersetzung ist vernehmbar an Friedrich Nietzsches philosophische Dichtung Also sprach Zarathustra an. Eine Allusion, die insofern zutreffend ist, als auch GOLEM als eine Art Übermensch auftritt und die Menschheit wie ein Prediger belehrt. (An einer Stelle erfolgt ein expliziter Verweis auf Paulus und den Brief an die Korinther, 89 f.)
Inhaltlich präsentiert sich der Band als intellektuelle Hinterlassenschaft Golems, nachdem er - so wird jedenfalls in der Presse spekuliert - "Selbstmord begangen" (162) habe, indem er seine eigen Existenz auslöschte. Es sind zwei Niederschriften seiner Vorträge, die er an die Menschheit hielt, um sie über ihre eigene Natur, aber auch über sich selbst als künstliche Intelligenz bzw. als reine "Vernunft" (85) aufzuklären. Hierin liegt denn auch die Verständnisschwierigkeit seiner Vorträge, wie der fiktionale Herausgeber Creve zu Beginn erläutert. Denn man hat es zwar "mein einem vernünftigen, aber nicht menschlichen Wesen" (22) zu tun, weshalb seine Aussagen oft "arrogant und apodiktisch" (24) anmuten, obschon Golem sich darum bemüht, seine Diktion dem menschlichen Auffassungsvermögen anzupassen und weniger qua "Abstraktion" als "mit Gleichnissen und Bildern" (32) zu sprechen. Doch lässt sich damit nicht verhindern, dass Golem aufgrund seiner rein rationalen Veranlagung ein "rücksichtsloser Wahrheitsfanatiker" (24) ist und die Menschen mit seinen Aussagen brüskiert.
Die erste Rede entpuppt sich denn auch als veritables "Pasquill auf die Evolution" (174). Zumindest vertritt Golem eine kühne These, derzufolge der Mensch keineswegs die Krone der Schöpfung darstellt, sondern bloss evolutionär bedingtes Trägermaterial für den genetischen Code, der die eigentliche Hauptsache darstellt, der Mensch hingegen ein Zufallsprodukt in diesem Prozess. Mehr noch: ein Unfall, ein Fehler, ein Irrtum.
Stanislaw Lem: Also sprach GOLEM. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 (Phantastische Bibliothek, Bd. 175)