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Dienstag, 4. März 2025

Walter Vogt: Die Talpi kommen! (1973)

Das Buch erschien zuerst 1971 mit dem Untertitel "Ein Miniroman für kluge Kinder" im Berner Verlag "Gute Schriften". Um ein Kinderbuch handelt es sich deswegen bei Weitem nicht. Zumindest machen Illustrationen und sogenannte "Wandtafelsätze" (siehe Peter Bichsel, dessen Kindergeschichten eben auch keine sind) noch lange kein Kinderbuch. Auch das Glossar im Anhang verfolgt keinerlei pädagogische Absichten, auch wenn dort das Lemma "Glossarium, Glossar" ironisch wie folgt erläutert wird: "Worterklärungen für Lehrer und besorgte Eltern". Nicht die Kinder sollen also belehrt, sondern die Erwachsenen beruhigt werden. Auch die restlichen Begriffe werden im Glossar mit ähnlich fröhlichem Unernst erklärt, oft im subversivem Gegensinn bis hin zur kompletten Un- bzw. Blödsinnigkeit: "Einweihungsriten: Riten zur Einweihung Uneingeweihter durch Riten (sog. 'Einweihungsriten')." Besser liesse sich die hilflose Redundanz terminologischer Bemühungen nicht demonstrieren. In ebenso selbstbezüglicher Weise wird der im Text fallende Begriff "Rekombinatorenbank" im Glossar erläutert: "Literatur zum Thema 'Rekombinatorenbank': Vogt, W. 'Die Talpi kommen!' (Sauerländer, Aarau, 1973). Einziges einschlägiges Standardwerk von Bedeutung."

Womit wir beim Thema wären: Worum geht's? Um Ausserirdische, die Talpi. Ja, auch. Vor allem aber um zwei Jungs, den Polizistensohn Alex, der über den sechsten Sinn verfügt, und den Apothekersohn Hans, genannt "Busch", der Alex mit Unmengen von Phosphortabletten versorgt, um dessen sechsten Sinn konstant aufrecht zu erhalten. Beide entdecken im Katzloch (bei Punkt 736 auf der Karte Belpberg 1:25000) ein Höhlensystem, in dem sich auch ein ausserirdischer Talpi verirrt hat. Sie wollen es als eine "Mischung von Räuberlager und Arche Noah" zu einer eigenen Behausung umfunktionieren. Zu diesem Zweck betäuben und entführen sie nicht nur Tiere, sondern auch andere Kinder Lehrer und Haushälterinnen, um eine Art unterirdische - oder wie sie es nennen - "exterritoriale" Gemeinschaft zu bilden. Gleichzeitig sind die wahren Extraterrestrischen, die Talpi, unterwegs Richtung RD (sprich: ErDe) in ihrem Raumschiff "Talgo due", auf dem sie als einziges menschliches Exemplar den Philosophen Ludwig Feuerbach mit an Bord führen, um ihn am Ende gegen ihr im Höhlenloch verirrtes Mitglied austauschen. Doch so linear, wie hier nacherzählt, erfolgt die Geschichte nicht. Sie zeichnet sich vielmehr durch diverse temporale Sprünge und auktoriale Störmanöver aus bis am Schluss, wo der Autor - wie es Roland Barthes in Der Tod des Autors (1967) fordert - den Stab dem Leser übergibt.

Es ist vielleicht Walter Vogts heiterstes und lockerstes Werk. Deshalb stellt das Buch in seiner Unbekümmertheit so manche angestrengte, weil betont sprachgedrechselte und um Relevanz heischende Neuerscheinung bei Weitem in den Schatten. Vogts Anspruch ist alles andere, als gesellschaftlich relevant zu sein - und gerade deshalb ist er es umso mehr. Vordergründig voller Witz und Schabernack, Stil- und Konventionsbrüchen, manchmal scheinbar zu billigen Pointen neigend, die aber doch wieder von einem untergründigen Sarkasmus aufgefangen werden. Im Überhang zum Absurden bleibt die sozialkritische Dimension nicht verborgen, auch nicht im Glossar, das diverse gesellschaftspolitische Begriff explikativ subvertiert und damit einen kritischen Echoraum schafft. Man braucht eigentlich nur das unter dem Titel "Der Autor gibt seine Visitenkarte ab" stehende Vorwort zu lesen, um den satirischen Grundtenor des Textes zu erfassen, sowohl in formaler Hinsicht mit seinem unverfrorenen Umgang jeglicher Erzählkonventionen als auch in kritischer Hinsicht mit allen subversiven Untertönen. Unter dem Strich einfach ein grossartiges Lesevergnügen, bei dem der Spass ebenso wie der Intellekt auf seine Kosten kommt.

Sonntag, 12. April 2020

Walter Vogt: Der Vogel auf dem Tisch (1968)


Der Kurzroman handelt davon wie der Buchhandlungsgehilfen Johannes Lips in den Wahnsinn schlittert. Lips wird als Figur am Rande der Zeit und Gesellschaft vorgeführt, der sich vor allem mit Büchern umgibt, weshalb er von verschiedenen Seiten gemahnt wird, es mit dem Lesen nicht zu übertreiben. Es gab einmal einen Junker aus La Mancha, der ebenfalls durch übermäßiges Lesen den Verstand verloren hat. Tatsächlich ist Lips aber nachgerade eine papierne Existenz: ein Buch in Person, das aus lauter Zitaten besteht.

Da er sich ganz in seiner Gedankenwelt verliert, fühlt er sich länger je mehr von seinen „Gedankenvögeln“ bedroht. Vogt spielt an verschiedenen Stellen mit der umgangssprachlichen Redewendung „einen Vogel haben“ für den Zustand der Verrücktheit. Lips besitzt aber tatsächlich einen echten ausgestopften Vogel, der auf seinem Schreibtisch steht und ihn mit seinen Glasaugen anstarrt. (Und offenbar auch Schuldgefühle weckt, weil er dem Vogel früher mit seinen Schulkameraden den Kopf umgedreht hat.) Sinnigerweise handelt es sich um einen Seidenschwanz, der auch als „Sterbevogel“ bekannt sei: „Wer ihn sieht, muß sterben.“

Dieser Vogel kündet als steinerner Gast gewissermaßen bereits Lips Schicksal an, der sich von allen Vögeln des Naturhistorischen Museum verfolgt fühlend in der Aare ertränken will, aber gerettet wird und im Glauben, er sei der heilige Franziskus, ins Irrenhaus kommt, wo er nach einer Elektroschocktherapie - „vrdammggfäärlich – abrvrdammt humaan“ - wieder entlassen wird, sich darauf aber in der Dusche entleibt. Auch dieser Ort ist symbolisch, weil Lips unter einem permanenten Waschzwang leidet.

Schauplatz ist Bern, weshalb zahlreiche Einsprengsel in Dialekt vorkommen. Obwohl es sich um eine Erzählung mit tragischem Ende handelt, bleibt der Tonfall eher humoristisch bis grotesk. Zudem wechselt die Erzählstimme von einer auktorialen in eine Ich-Perspektive, womit vermutlich die schizoide Spaltung narrativ verdeutlicht werden soll. Auch temporal vollzieht die Erzählung eine Schlaufe, insofern der Rutsch in den Wahnsinn als Binnengeschichte erzählt wird, gerahmt vom Irrenhaus-Aufenthalt. Vielleicht handelt es sich auch nur um eine Rückerinnerung, des erzählenden Ich.

Speziell hervorzuheben ist außerdem die doppelte Mise-en-abyme, als Lips in der Auslage seiner Buchhandlung ein Buch mit demselben Titel „Ein Vogel auf dem Tisch“ im selben Verlag (Lukianos Verlag von Hans Erpf) und derselben Geschichte entdeckt und die Verkäuferin zudem exakt die Stelle im Buch lobt, die davon handelt, wie Lips das Buch über sich selbst entdeckt.